1. Kapitel: Harper
Zerstreut saß ich an meinem Schreibtisch und starrte unentwegt auf die immer noch leeren Zeilen auf dem Bildschirm, die ich zwischenzeitlich längst mit Inhalt hätte füllen sollen. Seit ich hier saß – exakt eine Stunde, wie die kleine Uhr am Bildschirmrand mir unmissverständlich mitteilte –, hatte ich kein einziges Wort geschrieben, obwohl die Deadline für dieses Essay immer näher rückte. Normalerweise fiel es mir leicht, mich auf meine vier Buchstaben zu setzen und mich bis zum Hals in dicken Fachbüchern aus der Bibliothek zu verkriechen, aber heute blieb mir das Mysterium verschlossen. Wie ein in sich zusammenfallendes Kartenhaus sank ich schlapp auf meinem Stuhl zusammen, und mit einem Schlag resignierte mein Geist ob der unüberwindbaren Herausforderung.
Ich klappte mein Notebook zu und lehnte mich so weit auf meinem Schreibtisch nach vorne, dass ich die verschlungenen Seile der Manhattan Bridge unweit meines Zimmers erkennen konnte. Für ein Studentenwohnheim der Columbia war die Aussicht fabelhaft.
Und während die Fahrzeuge wie Spielzeugautos über die Brücke fuhren, schrie wie so oft die Stimme meines Vaters durch meinen Kopf. Natürlich wusste ich, wohin meine Motivation verschwunden war. In einen erneuten Streit mit meinen Eltern über meine fragwürdige Entscheidung, selbstständig leben zu wollen. Warum schlug sich Mom bloß immer auf seine Seite? Wo blieb denn dabei ihr sonst omnipräsentes Rückgrat?
Wieso begreift ihr es einfach nicht?
Dass ich kein Kind mehr war, das um jeden Preis behütet werden musste. Dass ich mein Studium der Medizin bereits bis ins vierte Semester überlebt hatte, musste doch Beweis genug für mein Erwachsenwerden sein.
Du hast es so gut hier, fernab von dem Dreck und dem Abschaum, der die Stadt seit Jahren überflutet.
Aber genau darum ging es mir.
Ich will ein eigenständiges Leben führen. Dazu gehört eben auch, mit vierundzwanzig Jahren endlich auszuziehen und meine eigenen Wege zu gehen.
Einen Teufel würde ich tun, mich wieder davon abbringen zu lassen. Abgesehen davon hätte es mich umgebracht, auch nur einen weiteren Tag in ihrem protzigen Haus zu verbringen. Dem Haus, in dem ich mit jedem Atemzug die Fassade einer perfekten Tochter aufrechterhalten musste. Auszuziehen war die beste Entscheidung meines Lebens gewesen. Auch wenn ich mich zu meinem großen Missfallen trotz allem ab und an bei irgendwelchen albernen Familienfesten blicken lassen musste – sofern ich mich nicht erfolgreich drücken konnte.
Menschen, die mich nicht kannten, hätten wohl gesagt, dass diese Vorstellung ziemlich versnobt war, zumal mir der Studienplatz in der Ivy League allein durch meinen Familiennamen bereits sicher gewesen war. Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich um meinen Platz dort gekämpft, wie alle anderen auch. Jemand Außenstehendes hätte garantiert mit dem Kopf geschüttelt, wenn ich das erzählt hätte, dennoch änderte es nichts an der Wahrheit. Klischeehaft oder nicht, manchmal beneidete ich die Leute, die aus ärmeren Verhältnissen stammten als ich.
Der Gedanke, anders und normaler zu sein, begleitete mich an manchen Tagen durchgehend. Ich wollte mich nicht durch meine Eltern definieren, meine eigenen Erfolge schaffen, ganz ohne Nachhilfe. Doch leider war das nicht immer leicht. Zähneknirschend musste ich akzeptieren, dass meine Eltern meine Unkosten für die Universität beisteuerten. Der Job in einem Café, den ich mir damals gesucht hatte, hätte die Kosten nie allein decken können. Also musste ich vorerst mein Schicksal akzeptieren. Irgendwann, wenn ich selbst erfolgreich war, würde ich meinen Eltern jeden einzelnen Dollar zurückzahlen, den sie für mich ausgegeben hatten.
Sie konnten froh sein, dass ich überhaupt ihrem Wunsch entsprochen hatte, entweder Jura zu studieren, was mein Vater getan hatte, oder ebenfalls Medizinerin zu werden wie meine Mutter. Es war nicht so, dass ich mich nur wegen meiner Eltern für dieses Studienfach entschieden hatte, denn ich hatte mich aus freien Stücken dafür eingeschrieben. Schon seit ich denken konnte, war es mein Traum gewesen, anderen Menschen zu helfen. Und obwohl sich Mom demselben Beruf verschrieben hatte, wollte sie als Schönheitschirurgin viel lieber ihrer Brieftasche dabei helfen, noch fetter zu werden.
Bisher hatte ich es nicht geschafft, ihr davon zu erzählen, dass ich mit meinem Abschluss in der Tasche am liebsten erst einmal eine Zeit lang für Ärzte ohne Grenzen arbeiten wollte. Menschen wirklich helfen, doch das war eine Diskussion für einen anderen Zeitpunkt, den ich, so weit es nur ging, nach hinten schob.
Fasziniert beobachtete ich, wie die Golden Hour immer näher rückte und die Sonne New York in nur wenigen Minuten in ein atemberaubendes strahlendes Lichtermeer tauchte. Obwohl ich dieses Spektakel schon Hunderte Male mitverfolgt hatte, konnte ich nie genug davon bekommen. Auch heute noch zog mich das Lichtspiel tagtäglich in seinen Bann, und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, jemals woanders zu leben.
»Harp!«
Als die Tür zu meinem Zimmer ohne jegliche Vorwarnung aufgerissen wurde, zuckte ich so heftig zusammen, dass ich fast von meinem Stuhl gekippt wäre. Mein Herz machte einen Sprung, und ich brauchte einen Moment, um tief Luft zu holen und mich wieder zu beruhigen, ehe ich aufstand und mich dem Eindringling widmen konnte.
»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du anklopfen sollst, wenn du nicht willst, dass ich irgendwann wegen dir noch einen Herzinfarkt bekomme, Amy?«, grummelte ich, musste aber unweigerlich lächeln, als ich eine meiner beiden besten Freundinnen sah.
»Gib doch einfach zu, dass du Angst davor hast, dass ich dich irgendwann mal mit einem heißen Typen erwische«, entgegnete Amy gelassen, ehe sie sich auf mein Bett fallen ließ, so als ob sie auch hier wohnte. »Ach, warte. Dazu müsstest du ja erst einmal einen finden.«
Ich rollte mit den Augen, während ich beobachtete, wie sie sich auf den Rücken drehte und eins meiner Bücher auf meinem Nachttisch begutachtete. Das war typisch Amanda. Schon seit ich sie kannte – seit unseren jüngsten Kindertagen –, war sie eine aufgedrehte Person, die ihr Herz stets auf der Zunge trug. Wir hätten nicht unterschiedlicher sein können, aber vielleicht war es genau das, was die Freundschaft zwischen uns so perfekt machte. Ich liebte sie über alles und wollte sie nicht in meinem Leben missen. Manchmal dachte ich heimlich daran, wie es wäre, wenn ich rebellischer wäre. Gleichzeitig war ich mir auch sicher, dass sie mit ihrer quirligen Art oftmals darüber hinwegtäuschte, dass sie sehr wohl unter ihrem familiären Umfeld litt, auch wenn sie das so niemals zugegeben hätte. Im Gegensatz zu meiner heilen Welt waren Amandas Eltern schon seit Jahren getrennt, hüteten sich allerdings davor, die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen.
»Wo hast du denn Leah gelassen?«, fragte ich Amanda mit nach oben gezogener Augenbraue und sah in froher Erwartung durch die offen gelassene Tür auf den Gang. Denn wo Amanda war, war Leah in der Regel nie weit.
Im gleichen Moment bemerkte ich, wie Amanda betont unauffällig nach meinem Zeichenbuch Ausschau hielt, das ich ihr nicht zum ersten Mal aus den Fingern reißen müsste. Doch so leicht würde ich es ihr dieses Mal nicht machen. Das Buch war gut versteckt, denn auch besten Freundinnen war der Zugang zu meinem Allerheiligsten verwehrt. Das ging niemanden etwas an außer mich selbst.
»Redet ihr hier von mir?« Eine gut gelaunte Stimme ertönte im Gang, ehe meine zweite beste Freundin auch schon im Türrahmen stand und mich angrinste.
»Da bist du ja endlich. Wieder Treppe gelaufen und den Aufzug außer Acht gelassen?«, kommentierte Amanda den Fitnesstick unserer Freundin.
»Ich bewege mich sowieso zu wenig, das Fitnessstudio ist mir mittlerweile zu fremd geworden«, erklärte Leah.
»Du meinst wohl, weil dein Derian Probleme mit deinem heißen Fitnesscoach hat?«
Kaum eine Sekunde später landete eines meiner Dekokissen, das sich Leah geschnappt hatte, auf Amandas Gesicht. Beide fingen an zu lachen und zankten sich wie zwei kleine Kinder auf meinem Bett. Ich musste grinsen und schüttelte den Kopf, unheimlich dankbar dafür, dass die beiden ein Teil meines Lebens waren.
Leah hatte sich mit Derian passenderweise in einen Mann verliebt, der aus den gleichen Kreisen stammte. Ich freute mich sehr für sie und war ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie uns die Neuigkeiten ihrer Verlobung in Form eines leuchtenden Diamantrings überbracht hatte. Insgeheim hoffte ich, irgendwann auch mal jemanden wie Derian zu finden. Nicht einen elternzufriedenstellenden Speichellecker, sondern jemanden, der mich auf die Art ansah, mit der Derian meine Freundin Leah bedachte.
»Mädels«, sagte ich lachend. »Ich bin euch echt dankbar, dass ihr mich ablenkt, aber wieso seid ihr überhaupt hier?«
Meine Freundinnen hielten inne und sahen mich mit offenen Mündern an. Intuitiv rollte ich zum wiederholten Male mit den Augen, ehe Amanda von meinem Bett aufsprang und tadelnd die Arme vor der Brust verschränkte. »Ist das dein Ernst? Du hast unseren Mädelsabend vergessen?«, meinte Amanda und überlegte vermutlich, mir auf der Stelle die Freundschaft zu kündigen – also alles wie immer. »Der Sushi-Laden beim Dreams, den Leah so toll findet? Und danach mal wieder richtig die Sau rauslassen.«
Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich unsere Verabredung tatsächlich komplett vergessen hatte. Mein Gedächtnis war in letzter Zeit zugegebenermaßen nicht das beste. Na ja, wem machte ich etwas vor? Irgendwie hatte ich es schon immer geschafft, mich in solche Situationen hineinzumanövrieren. Weil ich mit den Gedanken vollkommen woanders war.
Normalerweise ging ich gern mit den Mädels aus, angesichts der Berge an Aufgaben, die sich weiterhin vor mir auftürmten, hielt sich meine Begeisterung allerdings in Grenzen.
Amanda folgte meinem Blick auf die dicken Wälzer auf meinem Tisch und zog die Nase kraus. Um ihre Meinung zum heutigen Abend nochmals zu unterstreichen, stellte sie sich zwischen mich und meinen Arbeitsplatz.
»Nein. Auf keinen Fall, Harp!«
»Es tut mir leid, ich habe es vergessen. Ich muss diese Projektarbeit nächste Woche abgeben und ...«
»Wieso wehrst du dich überhaupt noch? Wie lange kennen wir uns jetzt schon?«
»Seit zwanzig Jahren, Amy ...«
»Was habe ich gerade gesagt? Vergiss es!«, stellte sie entschieden klar.
Es war zwecklos. Ich machte mir keine Mühe und ergab mich meinem Schicksal. Amanda hatte immer recht, sie besaß den größten Dickkopf, der mir jemals untergekommen war. Manchmal, wenn es mich packte, versuchte ich, sie von einem ihrer Vorhaben abzubringen – bislang ohne Erfolg. Ich seufzte theatralisch – ein Schmunzeln stahl sich nichtsdestotrotz auf meine Lippen.
»Na komm, Harp. Wir waren seit Ewigkeiten nicht mehr aus«, stimmte Leah mit ein und warf mir einen vorwurfsvollen Hundeblick zu.
»Danke, Leah, für deine Mühen, mich immer auf den rechten Pfad zu führen«, erwiderte ich sarkastisch. »Hast du nicht selbst bald Prüfungen? Müsstest du nicht ebenfalls lernen, anstatt die Nächte durchzumachen? Und was heißt hier überhaupt seit Ewigkeiten?«
Das letzte Mal war vor genau vier Tagen gewesen. Sie wussten ganz genau, wie sie bei mir mit Leichtigkeit ein schlechtes Gewissen erzeugen konnten. Bravo.
Leah studierte nach dem Vorbild ihrer Eltern Modemanagement. Meiner Freundin sah man das allerdings nicht so deutlich an wie ihren Eltern, deren extravaganter Kleidungsstil immer für einen unfreiwilligen Lacher sorgte. Leahs Kleidung hingegen war selbst verglichen mit Amy und mir eher unauffällig. Im Gegensatz zu meinen hatten ihre Eltern kein Problem mit ihrem Zimmer auf dem Campus gehabt. Leider war Leah an einer anderen Uni eingeschrieben, weshalb wir in unterschiedlichen Wohnheimen lebten.
»Okay!« Amanda ging direkt dazwischen, ehe Leah mir antworten konnte. Dabei nahm sie mich an den Schultern und schob mich vor meinen Kleiderschrank. »Bevor Miss Miesepeter das Ruder übernimmt, zieht sie sich besser ganz fix um, und dann kann es losgehen«, verkündete sie und ließ keine Widerworte mehr zu.
Ein letztes Mal gab ich mich still geschlagen – zumindest redete ich mir das felsenfest ein.
Wie sich herausstellte, war etwas Ablenkung genau das gewesen, wonach ich heute gesucht hatte. Während draußen ein sommerlicher Regenschauer die Straßen leerte und von den Gullideckeln Wasserdampf emporstieg, präsentierten sich vor uns kunstvolle Stapel von Sashimi und Maki-Rollen und bereiteten unsere Bäuche auf den Abend vor. Dabei verzichteten wir auch nicht auf unser allabendliches Ritual – Cosmopolitans wie Wasser zu trinken. Wir besuchten keinen Laden, der diesen Cocktail nicht auf der Karte hatte. Zwar gab es in meiner Vorstellung weitaus wohlschmeckendere Getränke, doch half es ungemein, etwas lockerer zu werden und die Medizinbücher, die in meinem Zimmer geduldig auf mich warteten, weiter zu verdrängen.
Als wir uns nach dem Essen wieder in der feuchtwarmen Luft der Stadt wiederfanden und das leichte Nieseln angenehm auf unsere Haut prasselte, konnten wir nicht anders, als angetrunken über jede Kleinigkeit schallend zu lachen. Der blumige Duft von Geosmin, der sich dank des feuchten Asphalts blitzschnell ausbreitete, verbreitete angenehme Sommer-Vibes. Ich war schon länger nicht mehr richtig betrunken gewesen. Manchmal musste man einfach loslassen und der Vernunft entsagen. Es wäre so viel einfacher, wenn ich mehr wie Amy wäre – abzüglich ihrer ganzen Männergeschichten natürlich.
Arm in Arm schlenderten wir die in den letzten Strahlen der Abendsonne glänzende Straße entlang, bogen in ein Dickicht aus Gassen und schmalen Wegen zwischen Feuerleitern und Mülltonnen ein und bahnten uns langsam unseren Weg zum Dreams.
Bereits vor der letzten Kreuzung war eine lange Schlange an feierwütigen Menschen zu sehen, die das gleiche Ziel wie wir hatten. Das Dreams gehörte zu den renommiertesten Clubs in Manhattan. Während viele Örtlichkeiten mit großen Buchstaben in Neonschrift und bulligen Türstehern aufwarteten, erinnerte der Eingang zum Dreams eher an eine verlassene Lagerhalle. Doch darauf fielen nur die Unwissenden herein. Hinter der großen Stahltür und den so gar nicht nach Ärger aussehenden Männern, die den Eintritt durch die Pforten bewachten, erschien jenseits eines dichten Nebelkleids eine Welt aus Lichtern und Stroboskopflackern, wie sie in der ganzen Stadt einmalig war.
Die Türsteher kannten uns inzwischen gut und winkten uns mit einem Nicken herein, sobald wir uns unter missbilligenden Blicken und einigen Buhrufen an der Menschentraube vorbeigedrückt hatten. Amanda nahm mich an der Hand und zog mich vorwärts durch den dichten Nebel hin zu den wummernden Bässen, während Leah Mühe hatte, uns zu folgen. Der einzige Raum des Clubs war stickig und vollgepackt mit Feiernden. Wie konnten hier überhaupt so viele Menschen hineinpassen?
Vor dem DJ-Pult war trotz der frühen Stunde bereits einiges los. Dicht an dicht schmiegten Tanzende ihre schwitzenden und teils spärlich bekleideten Körper aneinander, doch Amanda zog mich weiter auf die andere Seite des Clubs, in deren Nischen große Couches und Kissen zum Kräfteschöpfen zwischen ausgedehnten heißen Stunden auf der Tanzfläche dienten. Ich tat es meinen Freundinnen gleich, und wir sanken in eines der unendlich tiefen Sofas wie Kartoffelsäcke ein. Eine förmlich gekleidete Kellnerin, die mit ihrem jugendlichen Gesicht nicht viel älter als wir sein konnte, erblickte uns sofort und erfüllte uns den Wunsch nach dem nächsten Cosmo. Wie man eine Bestellung durch solch laute Musik überhaupt vernehmen konnte, war mir schleierhaft, doch die bestellten Drinks kamen ohne Probleme an unserem Tisch an.
Es war unheimlich schwer, nur mit Beinen und Händen den Takt zu trommeln und nicht gleich aufzuspringen und dem Drang nach hemmungslosem Tanz nachzugeben.
Ich sah dem Lichtspektakel, das sich vor mir ausbreitete, genüsslich zu und musste die Zeit vergessen haben, denn als Leah mir auf die Schulter tippte, erwachte ich aus meiner Trance und blinzelte verwirrt, geblendet von den noch helleren Scheinwerfern und Lasern. Ich dachte, ich hätte sie nicht verstanden, doch anstatt zu sprechen, zeigte sie bloß auf einen Punkt abseits des Geschehens. Mein Blick landete bei der Bar, die sich über die gesamte Wand erstreckte. Unzählige Flaschen sammelten sich dort eng und auf gefährliche Weise aneinandergeschmiegt in bunt beleuchteten gläsernen Regalen. Über den Tresen gebeugt teilten Kellnerinnen dem Barkeeper unendlich lange Bestellungen mit, während dieser ohne Pause Shaker und Gläser mit geschickten Händen jonglierte. Ich wusste, wen Leah mir zeigen wollte.
»Er ist wieder da«, dröhnte es zu laut in meinem Ohr, und Leah deutete zum zweiten Mal aufgeregt zur Bar. Autsch, mein armes Trommelfell.
»Ich sehs ja«, gab ich mit Händen und Füßen gestikulierend zurück.
»Komm schon, Harp«, rief Leah. »Gib doch endlich zu, dass er genau dein Typ ist!«
»Schmachten wir etwa schon wieder den heißen Barkeeper an?«, mischte sich nun auch Amanda ein und verzog ihre Lippen zu einem frechen Grinsen. »Ich schwöre dir, dass er eben schon wieder zu dir geschaut hat.«
»Der Typ starrt doch jedes weibliche Wesen völlig schamlos an. Siehst du nicht, wie ihm dieses blonde Topmodel gefällt, das förmlich an seinen Lippen und er an ihrem Ausschnitt klebt? Die Inkarnation eines Frauenhelden«, entgegnete ich und nickte zu der hochgewachsenen Frau mit den spitzen künstlichen Brüsten, die beinahe drohten aus ihrem Dekolleté zu rutschen.
»Na, wenn diese Dinger nicht das Werk deiner Mutter waren«, rief Leah mir spöttisch zu. Ganz unrecht hatte sie nicht. Die Werke meiner Mutter waren unverkennbar.
»Ich habe auch nicht gesagt, dass du ihn gleich heiraten sollst, oder?«, kommentierte Amanda trocken, aber auch auf ihrem Gesicht breitete sich ein schelmischer Ausdruck aus.
»O nein, auf keinen Fall!« Ich schüttelte energisch den Kopf.
»Auf jeden Fall! Sprich ihn doch einfach mal an, Harp. Was soll denn schon passieren? Ein bisschen Action würde dir echt mal wieder guttun. Das mit David ist schon ewig her. Außerdem ... sieh ihn dir doch an! Dieser Typ hat bestimmt einen mordsmäßigen ...« Ich beobachtete entsetzt, wie sie mit ihren Händen und ihrer Zunge eine mehr als eindeutige Geste machte.
»Amy!«, unterbrach ich sie schleunigst, spürte aber, wie bereits das Blut in meine Wangen schoss.
»Ich wusste es! Auch du hast schon darüber nachgedacht«, rief Amanda triumphierend aus, und ich senkte ertappt den Blick.
»Nur du schaffst es, in einem Aufwasch meinen bescheuerten Ex-Freund zu erwähnen, die Tatsache, dass ich tatsächlich für deine Verhältnisse seit einer Ewigkeit keinen Sex mehr hatte, schamlos auszunutzen und jemanden wegen seiner Herkunft zu diskriminieren.«
»Du weißt ganz genau, was ich dir damit sagen will und dass ich es nicht auf diese Weise meine.«
»Ja, ja, ist gut. Ich will es gar nicht wissen. Du kennst dich bestimmt sehr gut damit aus«, unterbrach ich sie zum wiederholten Male. Das plötzliche Leuchten in Amandas Augen deutete von ausreichender Erfahrung in Dingen, die ich so nie über meine Freundin erfahren wollte.
»Mach schnell, sonst kommt dir sein Fan da vorne noch zuvor«, rief Amanda. »Wie kannst du bei so einem Prachtkerl so entspannt bleiben?«
»Und wie kannst du jeden Mann nur als ein Stück Fleisch betrachten?«
»Harp«, unterbrach Leah unser verbales Duell und beugte sich noch etwas näher zu mir. »Findest du ihn heiß oder nicht?«
Unwillkürlich sah ich zurück zu ihm, wild jonglierend mit einem Shaker in der Hand. Ich kam nicht umhin, seinen muskulösen Bizeps zu bemerken, der sich deutlich unter dem weißen Hemd anspannte.
»Ansprechend, das muss man zugeben«, sagte ich und ließ den Widerwillen langsam von mir abfallen.
»Ansprechend?«, zog mich Leah schockiert dreinschauend auf. »Wow, es wird echt Zeit.«
»Du hast deinen Derian, wieso siehst du dann andere Männer überhaupt noch an?«, fragte ich sie provokant, auch wenn ich wusste, dass sie bis über beide Ohren in ihren Verlobten verliebt war.
»Nur weil ich bald heirate, heißt das nicht, dass ich andere Männer nicht zumindest ansehen darf, oder?«, gab sie grinsend zurück.
In diesem Moment kam die Kellnerin mit unser nächsten Runde Shots zurück, die wir in einem Zug leerten, und der Geist des Alkohols vernebelte weiter unsere Köpfe. Amanda bestellte gleich eine dritte Runde, während der Schnaps noch in meiner Kehle brannte. Mein Blick verfolgte die Kellnerin, die sich geschickt ihren Weg durch die Menschenmassen bahnte. Nach Ankündigung unserer nächsten Bestellung sah mich der Barkeeper dann aber ohne Vorwarnung an. Für einen unerträglich langen Moment fanden sich unsere Blicke durch die tanzenden Menschen und brannten sich tief ineinander, ehe er sich abwandte, um sich wieder mit unseren Gläsern zu befassen.
»Der steht so was von auf dich, ich sags dir«, beteuerte mir Amanda. »Du musst zu ihm! Wenn du nicht sofort zu ihm rübergehst, spielen wir ein Trinkspiel, und wenn du verlierst – wie so oft –, ist das dein Wetteinsatz. Komm schon, Harp! Tus für uns!«
»Ich kann mich heute nicht völlig abschießen, ich muss morgen wieder an mein Essay.«
»Ein Grund mehr, ihn sofort zu besuchen. Du weißt, wie hart Amy spielt«, meldete Leah sich zu Wort.
Ich seufzte. Es war nicht so, dass ich einen One-Night-Stand kategorisch ablehnte, nur stand mir gerade einfach nicht der Sinn danach, schon gar nicht mit einem Casanova wie ihm. Außerdem war ich auf der Hut vor etwaigen Krankheiten. In der heutigen Zeit konnte man nicht vorsichtig genug sein.
»Wieso verdammt nochmal seid ihr beide meine besten Freundinnen?«, fragte ich, stand dann widerwillig auf und bahnte mir, ohne weiter darüber nachzudenken, einen immer länger erscheinenden Weg zur Bar.
Ich hörte, wie meine Freundinnen hinter mir freudig in die Hände klatschten und pfiffen. Ich zeigte ihnen lediglich den Stinkefinger über meine Schulter und grinste dabei.
Meinetwegen würde ich zu diesem Typen gehen und ein wenig mit ihm reden. Davon, dass ich ihn anbaggern würde, war niemals die Rede gewesen – zumindest nicht für mich.
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