Kapitel 10 - Scheinwelt
»Unser letzter Besuch hier ist noch gar nicht so lange her. Das war ein ziemlicher Wendepunkt, erinnerst du dich?«, fragte Harry und ließ sich seufzend auf dasselbe Sofa fallen, auf dem Maryana letztes Jahr gesessen hatte, als sie zum ersten Mal in Harrys Notizbuch geblättert hatte.
»Und ob«, nickte Maryana zwiegespalten. Sie wusste immer noch nicht, ob sie wirklich gerne an diese Zeit zurückdenken wollte.
Ihre Geschichte mit Harry war turbulent und hatte sie durch so viele Täler geschickt, dass sie niemals durchwegs glücklich zurückblicken würde. Lieber blickte sie in die Zukunft, obwohl auch diese Aussicht in letzter Zeit verklärt war. Immerhin wusste sie kaum, was sie zu erwarten hatte.
»Und jetzt geh' ich schon bald mit genau diesen Texten auf Tour und hab dich bei mir. Verrückt, nicht?«
»Mhm«, nickte Maryana ließ sich zu Harry auf das Sofa sinken. Gerne hätte sie Harrys Unbeschwertheit und sein bedenkenloses Glücksgefühl geteilt, doch in der jungen Frau herrschte ein solches Chaos, dass diese Emotionen unmöglich zu ihr durchdringen konnten.
In diesem Moment aber wollte sie sich wieder voll und ganz auf Harry konzentrieren. Zwar waren sie nicht mehr in den Hidden Hills, doch zum ersten Mal an diesem Tag war das Paar ganz für sich.
Maryana hatte schon den ganzen Tag über das Gefühl gehabt, dass Harry sein Team angewiesen hat, sich möglichst von ihr fernzuhalten, um ihr den Eindruck zu vermitteln, dass sich eben keine Horde Presse- und PR-Experten um sie scharen würde. Ausblenden hatte sie sie trotzdem nicht können, hat Harry aber auch nicht darauf angesprochen.
»Freust du dich?«, fragte Maryana.
»Worauf? Auf die Termine oder die Tour?«
»Beides.«
»Absolut«, antwortete Harry direkt, nahezu etwas schwärmerisch und nahm seine Freundin in den Arm. »Alles ist daraufhin zugelaufen, meine Solokarriere war immer das große Ziel. Das Tourleben und die Bühne fehlen mir unheimlich.«
»Und die PR-Termine?«
»Die auch! So gern ich auch der private Harry bin, gehört es auch zu meinem Job und meinem Leben, die öffentliche Person Harry Styles zu sein. Ich mag Interviews, ich zeig mich gern den Leuten. Ziemlich egozentrisch, was?«
Schmunzelnd sah Harry auf Maryana hinab. Diese hörte all diese Dinge nicht zum ersten Mal, immerhin hatte sie ein ganzes Buch über Harrys Leben geschrieben, doch damals hatte sie sein Leben und die Öffentlichkeit bei Weitem nicht so stark tangiert wie nun. Inzwischen sah sie alles mit anderen Augen.
»Du bist halt Wassermann«, erwiderte sie bloß und strich über die Ringe an Harrys Fingern, als sie gegen seine Brust lehnte. »Die sind eben unkonventionell und etwas irre.«
Nun musste Maryana doch selbst etwas lächeln. Dass der Wassermann auch unglaublich viel Freiraum, ständige Veränderungen und Unabhängigkeit braucht, wollte sie lieber nicht ansprechen. Darüber wollte sie sich nicht auch noch Gedanken machen müssen.
»Ich fänds ganz gut, wenn wir irre durch kreativ ersetzen würden«, kommentierte Harry amüsiert, konnte seiner Freundin allerdings nicht weiter widersprechen. »Ich glaube, dass wir uns aber genau deshalb so schön ergänzen«, sprach er stattdessen weiter. »Meine Extrovertierheit und deine introvertierte Art tun einander gut, glaube ich. Ich ziehe all meine Energie von außen, während du so herrlich in dir ruhst. Das ist irgendwie schön.«
Harry war wieder einmal so herrlich offen, ehrlich und sprach seine Gedanken direkt aus, was Maryana wieder verliebt lächeln ließ. Diese Seite an Harry liebte sie aus ganzem Herzen und beneidete ihn auch regelmäßig darum.
Wie wenig sie in letzter Zeit in sich ruhte, wollte ihr nicht über die Lippen kommen.
Sie hatte sich in den Menschen Harry verliebt und nun sollte sie schon bald die öffentliche Person Harry Styles kennenlernen.
Sie war skeptisch, sie hatte Angst und sie war sich quasi sicher, dass sie nicht in diese Welt passen würde. Allerdings hatte sie vor nicht allzu langer Zeit auch gedacht, Harry als Mensch würde nicht zu ihr passen und wurde eines Besseren belehrt. Vielleicht würde ihr dasselbe mit seiner öffentlichen Präsenz widerfahren - zumindest hoffte sie das.
»Das stimmt«, nickte Maryana und verschwieg alle ihre Bedenken. Sofort klang ihr Dr. Bloombergs Stimme im Ohr, wie sie ihr predigte, dass all ihre Sorgen sehr wohl relevant wären und sie es sich selbst Wert sein sollte, diese laut auszusprechen, aber trotzdem schob Maryana sie beiseite. Sie wollte weder Harry damit belasten, noch wollte sie ihre Ängste formulieren - als würden sie erst real werden, wenn sie ihre Lippen verlassen haben.
Stattdessen kuschelte sie sich näher an Harrys Oberkörper und schloss müde die Augen, während ihr Harry liebevoll über den Arm strich. Sie waren beide erschöpft, beide wussten, was am nächsten Tag anstehen würde. Es sollte Maryanas Startschuss als offizielle Frau an Harry Styles Seite sein, sie sollte ihre ersten Schritte in seinem Business gehen.
Maryana hatte geahnt, dass sie Harry von nun an von einer neuen Seite kennenlernen sollte. Wie anders der Umgangston plötzlich sein sollte, hatte sie jedoch nicht erwartet.
Schon im Zuge ihres Buches hatte Maryana Harry bei der Arbeit begleitet und beobachtet. Allerdings hatten er dabei stets in seinen eigenen Reihen gearbeitet, mit seinem Team an seinem Soloalbum. Nun ging es aber darum, sich der Presse zu präsentieren und dabei wurde Harry vollkommen anders inszeniert.
Gemeinsam mit Harrys PR-Managerin Laura Richardson, einer streng wirkende Dame mittleren Alters, die in ihren hohen Hacken bemerkenswert energisch stolzieren konnte, saßen Harry und Maryana im Wagen zum ersten Pressetermin des heutigen Tagen. Während Laura neben Harry saß und mit ihm diverse Mappen durchsah, konnte Maryana nur Staunen, welche Aura diese Frau mit sich brachte.
Nun verstand sie die Worte, die ihr Harry zuvor über sie gesagt hatte: »In England ist sie für mich zuständig. Sie kann etwas einschüchternd wirken, aber genau deshalb macht sie einen echt tollen Job.«
Was genau so streng und kühl an ihr wirkte, konnte Maryana nicht sagen. Vielleicht war es der permanent gestresste Blick, vielleicht der straffe Dutt, vielleicht der alarmierend rote Lippenstift auf ihren schmalen Lippen.
»Unsere Forderungen wurden alle akzeptiert, ich werde mich mit den Promotern allerdings gleich mal noch versichern, ob diese auch wirklich eingehalten wurden«, verkündete Laura soeben und klappte ihre Mappe zu, während der Maybach langsam zum Stehen kam.
Offenbar hatten sie ihr Ziel erreicht und waren am Gelände des TV-Studios angekommen.
Erst ein einziges Mal hatte Maryana einem solchen Event beigewohnt, doch dort war der Gastgeber James Corden gewesen und die Late Late Show Harrys zweites Wohnzimmer.
Dieses Mal jedoch sollte Harry zu Gast sein bei der Graham Norton Show.
»Maryana«, sagte Harry an die junge, blonde Frau gewandt. »Ist es okay, wenn ich dich vorerst Laura übergebe? Ich muss noch ein paar Telefonate führen. Wir sehen uns dann in meiner Garderobe.«
Überrascht sah sie ihn an, nickte dann aber zögerlich. Sie wollte Harry nicht im Weg stehen, sie würde heute alles tun, was er für richtig hielt.
»Klar«, nickte sie demnach einverstanden, während Laura sie bereits mit sich winkte.
Maryana hatte der PR-Managerin gegenüber nichts zu befürchten. Zu ihr war sie ebenso freundlich wie zu Harry, obwohl sie ihr gerade bloß nutzlos auf Schritt und Tritt folgte.
Zusammen mit zwei Promotern wurden die beiden von Mitarbeitern der Produktionsfirma empfangen, während die Security ebenfalls das Gelände stürmte, um alle Bereiche auszukundschaften. Ohne lange Zeit zu vergeuden, folgten auf die ersten Begrüßungen und Floskeln bereits erste Anmerkungen von Laura, als sie den Weg zur Garderobe einschlugen. Von der Prominenten-Betreuung, die sich freundlich als Allison vorstellte, wurden sie durch das Gebäude geführt.
»Muss Harry diesen Weg später zum Studio nochmal laufen? Er trägt vermutlich Absatz, da läuft er ungern Treppen. Da muss etwas gemacht werden«, wies sie die Angestellten herrisch an, während Maryana an diesem noch jungen Tag schon zum zweiten Mal staunte. Dass Harry solche Allüren hätte, war ihr völlig neu.
»Ihr habt ja unsere Liste bekommen«, sprach Laura in dominanter Tonlage weiter. »Ist es wenigstens in der Garderobe kühl?«
»17 Grad, wie verlangt«, nickte die junge Dame der Produktionsfirma beinahe unterwürfig.
Dass von Laura darauf keine Reaktion mehr kam, war wohl mit einem zufriedenen »Danke« gleichzusetzen.
Sofort gab die junge Frau per Funk durch, dass man Harry auf seinem Weg ins Studio um alle Treppen umleiten sollte.
Langsam ahnte Maryana, weshalb Harry ständig diese Entourage von über zehn Leuten um sich hatte. Offenbar war deren Funktion nichts weiter, als alle Beteiligten in Aufregung zu versetzen und Harry in seinem Star-Dasein zu positionieren.
»Wann wird Mr. Styles denn ankommen?«, fragte Allison zögerlich.
»Sobald ich ihn hole«, antwortete Laura knapp. Dass er längst am Gelände war, verschwieg sie bewusst, um Distanz zu wahren.
Endlich in der Garderobe angekommen, führte Laura ihre Inspektion weiter fort. Ob Maryana oder Allinson der skeptischere Blick im Gesicht stand, war schwer zu beurteilen. Maryana jedenfalls verlor in diesem Moment jegliches Verständnis für diese Branche.
»Stilles Wasser? Harry trinkt nur Wasser mit Kohlensäure«, gab Laura weitere Anweisungen und deutete auf die bereitgestellten Flaschen.
Wieder gab Allison diese per Funk weiter.
»Maryana, du kannst gerne schon mal hier warten«, sagte Laura dann mit bedeutend freundlicherer Stimme, ehe sie sich wieder an Allison wandte. »Wir gehen schon mal weiter.«
Ehe sich Maryana versah, waren Laura, die beiden Promoter und Allison schon wieder aus der Garderobe verschwunden, damit die PR-Managerin einen prüfenden Blick auf das restliche TV-Studio werfen konnte.
Irritiert ließ sich Maryana hingegen auf eines der Sofas in dem unnötig großen Raum fallen.
Ihr fehlte jegliches Verständnis für den Aufriss, der um Harrys Auftritt bei dieser TV-Aufzeichnung gemacht wurde. Harry war in ihren Augen alles andere als eine Showbizz-Diva mit Extrawünschen. Andererseits kannte sie den öffentlichen Harry Styles bisher auch nicht.
Eine gefühlte Ewigkeit später, obwohl Harry ohnehin bereits draußen am Gelände in einem überteuerten Maybach gesessen hatte, trat dieser endlich in die Garderobe. Zuvor war noch hektisch das kohlensäurehaltige Wasser in die Garderobe gekarrt worden.
»Na, wo hast du denn dein Gefolge gelassen?«, war Maryanas erste Frage an Harry, als er überraschenderweise alleine vor ihr stand.
»Ein Teil trifft sich mit der Redaktion, der andere Teil checkt, ob im Studio alles passt«, antwortete Harry prompt, bemerkte aber durchaus, dass Maryana etwas auf der Seele lag. »Alles okay?«
Kurz überlegte Maryana, ob sie ihre Gedanken und ihre Skepsis wieder für sich behalten sollte, doch dieses Mal war sie zu neugierig.
»Was ist das bitte für ein Theater, das hier um dich aufgeführt wird?«, platzte es verständnislos aus der jungen Frau heraus.
Amüsiert lachte Harry auf und schnappte sich das leere Glas, das vor Maryana auf dem Tisch stand und lief damit zum Waschbecken im Raum, um sich etwas Leitungswasser einzulassen.
»Das ist nun mal Gang und Gäbe«, antwortete Harry. »Das Team muss eben nach außen hin diesen Superstar-Status aufrechterhalten.«
Ungläubig musterte Maryana ihren Freund. »Dir ist bewusst, dass hier eben nochmal die Temperatur gemessen wurde und zwei junge Kerle panisch Kohlensäure-Wasser für dich besorgen mussten? Und anscheinend steigst du neuerdings auch keine Treppen mehr.«
Wieder lachte Harry herzhaft und trank sein Leitungswasser.
»Egal wie unkompliziert man ist, das ist nun mal das Spiel - eine Menge Schein gegen Sein. Du willst nicht wissen, was in den Produktionsfirmen los war, als wir uns mit One Direction angekündigt haben. Rechne das ganze hier mal Fünf.«
»Das ist doch irre«, raunte Maryana kopfschüttelnd.
Grinsend ließ sich Harry zu ihr auf das Sofa fallen.
»Genau wie ich, als typischer Wasserman, wenn's nach dir geht«, erwiderte er gut gelaunt und drückte ihr schmunzelnd einen Kuss auf die Wange.
Augenrollend seufzte Maryana.
»Ich werde gleich nochmal abgeholt und gebrieft. Danach bin ich ganz für dich da. So eine Aufzeichnung besteht zu 80% aus Warten. Einer der Gründe, weshalb die meisten Gäste letztendlich besoffen in der Show sitzen«, lachte Harry.
Maryana hingegen wusste immer noch nicht, ob sie darüber lachen konnte. Sie lernte hier Harrys Job kennen - das, womit er sich oft täglich umgab. Und bisher konnte sie dieser aufgesetzten Scheinwelt nichts abgewinnen.
Insbesondere jetzt, in einer Zeit, in der sie sich mit ihrem authentischen Selbst auseinandersetzen und ihren Selbstwert hinterfragen wollte, war diese gekünstelte Umgebung das Letzte, was sie gebrauchen konnte.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, Teil davon zu werden. Noch weniger konnte sie sich bloß vorstellen, was Harry an diesem Job fand und wie er dafür so viel Begeisterung aufbringen konnte.
Ein Blick in seine Augen zeigten ihr jedoch zweifelsohne, welche Freude ihm seine Arbeit machte.
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