
Kapitel 29
„Die Kronen sind alle verteilt." Henrys Stimme durchschnitt das dröhnende Rauschen in meinen Ohren. Jedes seiner Worte war ein Dolchstoß direkt in mein Herz.
Ich konnte nicht glauben, dass alles eine Lüge war. Das hier war ein Scherz ... doch was daran die Pointe war, blieb mir ein Rätsel.
„Nicht vergeben sind jedoch die zehn Plätze der Elite", fuhr er fort.
Neun Kronen, aber zehn Erwählte.
Er hatte einen Plan.
Diese Erkenntnis peitschte wie ein Sturm gegen mein Gesicht. Aber sobald ich meine Hand ausstreckte, um den Sinn dahinter zu erfassen, fiel er wie Regentropen durch meine Hände, oder in diesem Fall durch mein siebhaftes Gehirn.
Sein Blick fiel auf mich und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich die Königin von ihrem Sessel erhob und sich neben ihren Sohn stellte. „Mary, würdest du dich bitte zu uns gesellen?"
Wie in einer Trance gefangen erhob ich mich, setzte einen Fuß vor den anderen, bis ich die letzten Meter zwischen uns überwunden hatte.
Was auch immer er vorhatte - er würde es bereuen mich nicht eingeweiht zu haben!
„Du wirkst so überrascht. Habe ich dich nicht vorgewarnt Léa als Erste zu wählen?"
Am liebsten hätte ich ihn mit meinen Blicken erdolcht. Stattdessen zog ich meine Mundwinkel nach oben, um meine weiße Zähne zu entblößen und hoffte inständig, dass die Kamera es als Lächeln und nicht als Zähnefletschen einfangen würde.
„Und mit keinem Wort erwähnt, dass ich als Letzte aufgerufen werden würde, wenn alle Kronen bereits verteilt sind?"
„Das ist mir doch glatt entfallen", gab Henry zurück, ohne eine Miene zu verziehen. „Dabei wollte ich eine wunderschöne Rede vortragen. Mit zahlreichen Wortspielen, wie dass du den krönenden Abschluss darstellst und dein Lächeln mit dem Strahlen der Diamanten in der Krone vergleichen." Er machte eine kurze Pause und neigte seinen Kopf zur Seite. „Nur das dein Lächeln gerade eher an einen Hai erinnert als an Edelsteine."
Ehe er als nächstes noch über die Ähnlichkeit zwischen mir und einem Fisch auf den Trockenen sinnieren konnte, fiel ich ihm ins Wort: „Dafür, dass du als Prinz regelmäßig Reden hältst, stellst du dich reichlich ungeübt an. Deine Worte sind so schmeichelhaft wie ein neonoranger Taft bei rotem Haar", eine Farbe die laut Miss Allington jedes Mädchen krank aussehen ließ, „und die Komplimente fließen über deine Lippen wie ein ausgetrockneter Back im Hochsommer."
Dabei klimperte ich möglichst unschuldig mit meinen Wimpern, als würde ich den Braunton seiner Augen mit glänzendem Gold in der Sonne vergleichen.
Ein verhaltenes Räuspern neben uns, ließ mich verstummen. Hatte ich mich gerade in Anwesenheit der Königin über ihren Sohn lustig gemacht?
Einfach lächeln und nicht darüber nachdenken, beschloss ich kurzerhand. Und dabei möglichst nicht wie ein Hai kurz vor dem Angriff auszusehen.
„Allerdings trägt keine der Krönchen einen Edelstein, weshalb ich für dich eine andere Tiara auftreiben musste."
Mit diesen Worten wandte er sich zu seiner Mutter, die den Kopf neigte. Ihr Diadem fing das Licht des Kronleuchters ein und brachte die eingearbeiteten Rubine zum Funkeln.
„Eine besondere Tiara, für das Mädchen, der ich bereits bei unserem ersten Treffen zu Füßen lag", mit diesen Worten drückte er mir das Diadem auf meinen Kopf, „oder kniete, da sie mir beinahe den Arm ausgerenkt hatte."
Im Saal war es so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Und mit man meinte ich die anderen. Ich hätte selbst den Fall einer Ritterrüstung überhört, da das Blut in meinen Ohren rauschte.
Henry trat mit diesen Worten zur Seite, woraufhin seine Mutter vortrat. Ihre Lippen streiften meinen Wangen, als sie mir einen Kuss auf meine Haut hauchte.
Sie trat einen Schritt zurück und öffnete ihre Arme, als würde sie die restlichen Mädchen in eine Umarmung einschließen wollen. „Willkommen, meine Lieben, als Mitglieder der Elite."
...
Am nächsten Tag schneite Madame Rosie mit einem Stoß Bücher in den Saal. Mit einem lauten Knall ließ sie diese auf den Tisch fallen. „So sehr es mir auch im Herzen schmerzt, mich von den chéres filles zu verabschieden", begann sie und breitete ihre Arme theatralisch aus, „so sehr freue ich mich die hochverehrten Ladies in meinem Unterricht begrüßen zu dürfen."
Hinter ihr betrat die Prinzessin das Klassenzimmer und ließ sich in der vordersten Reihe auf einem der Stühle nieder. Fassungslos starrte ich sie an.
„Miss Allington wird euch darauf vorbereiten in die Fußstapfen unserer verehrten Königin zu treten. Meine Aufgabe ist es, die nächste Herrscherin Frankreichs auszubilden, weshalb ich Ihre Hoheit Prinzessin Camille Léa bat, euch einen Einblick in das Leben im französischen Palast zu gewähren."
Bei diesen Worten richteten wir alle unsere Aufmerksamkeit auf Léa, die leicht ihren Kopf neigte. „Es wird mir eine Freude sein."
Die Freude war für Worte zu unermesslich. In Zahlen ausgedrückt wäre es wohl eine Minus Zehn geworden.
In Miss Allingtons Unterricht lag das Augenmerk in dieser Woche auf dem Kastensystem. Vor einigen Jahrzehnten spiegelt die Kasten den Stellenwert einer Person wider, heute waren sie ein Ausdruck des ausgeübten Berufes.
„Dank unserer hochverehrten König Maxon und seiner Frau Königin America ist Bildung nun ein Recht und jedem frei zugänglich", sinnierte unsere Lehrerin.
„Frei zugänglich für die Kasten mit genügend Geld. Die Jugendlichen der unteren Kasten hingegen müssen eine Arbeit ergreifen, um ihre Familie zu unterstützen", fügte ich leise hinzu.
„Nur dadurch wurde es möglich, dass eine Vier sich zu einer Drei hocharbeiten kann."
„Ermöglicht durch unser gelobtes Schulsystem, das sich nur Menschen aus der Kaste Vier oder höher leisten können", raunte ich Layla ins Ohr.
„Lady Mary!" Miss Allingtons eisiger Tonfall ließ mich zusammenzucken. „Wünschen Sie etwas der Klasse mitzuteilen?"
„Vielen Dank, Miss Allington, für diese wunderbare Gelegenheit", flötete ich. „Wie bereits gesagt steht den Zugehörigen der untersten Klassen das Tor der Bildung offen. Doch niemand kann sich leisten durch die Tür zu schreiten und auf das Gehalt der Jugendlichen zu verzichten, um sie in die Schule zu schicken."
Ich versuchte das Leben der unteren Kasten in so wenigen Worten wie möglich zu schildern. Wir hatten ein Dach über den Kopf und sofern die Ernte dieses Jahr gut ausfiel auch jeden Tag genug zu essen. Aber nur, weil ich mit sechzehn die Schule abgebrochen und die erstbesten Arbeitsangebote angenommen hatte.
Ich ließ meine Augen über die anderen Mädchen zu schweifen. Ich war die einzige Sechs gewesen und in der letzten Auswahl war auch die letzte Fünf ausgeschieden. Niemand von den Mädchen hier wusste, wie sich dieses Leben anfühlte. „Ich hätte eine weiterführende Schule zu besuchen können. Doch wenn der Preis dafür der Hunger der eigenen Geschwister und Eltern ist, wie hätte ich das je mit meinem Gewissen vereinbaren können? Für mich war dieser Weg vorausbestimmt gewesen, ohne dass ein längerer Schulbesuch auch nur eine realistische Option war."
Die Reformation des Kastensystems, die Bildung auf dem Papier frei zugänglich zu machen, das waren lediglich die ersten Schritte. Ohne Stipendien würde keine Sechs je das Innere eines Gymnasiums sehen, außer um die Räumlichkeiten sauber zu halten.
Nach dem Abschluss meiner Rede sagte unsere Lehrerin kein Wort. Ihr Blick verharrte auf mir, während sie uns mit einer Handbewegung zu verstehen gab, dass wir unsere Bücher auf das Zimmer mitnehmen konnten.
„Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Lady Mary." Ihre Stimme war so eisig wie eh und je, die zusammengekniffenen Lippen das Gegenteil von dankbar. „Ich werde dafür Sorge tragen, dass Ihr politisches Interesse den Majestäten zu Ohren kommt."
Obwohl unserer Stunde noch nicht zu Ende war, entließ sie uns zum ersten Mal seit unserer Ankunft im Schloss verfrüht.
Den gesamten Tag über befürchtete ich vor die Majestäten zitiert zu werden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie allzu erfreut über Miss Allingtons Beschwerde wären.
Diese Befürchtung wurde an diesem Tag zu meiner neuen besten Freundin, die neben mir im Speisesaal saß und mich sogar bis in die Nachhilfestunde der Königin begleitete. Zu meiner Überraschung erwähnte sie das Kastensystem mit keinem Wort.
Bei dem abendlichen Zusammenkommen im Damensalon, begann ich mich langsam zu entspannen. Zeit meiner neuen Freundin Lebewohl zu sagen.
Sehr erfreut dich zu treffen und noch erfreuter über deinen Abgang. Mit diesen Worten beschloss ich jede Erinnerung an Miss Arlingtons Drohung aus meinen Gedanken zu verbannen.
Ein Klopfen an der Tür erklang. Eine Bedienstete zog sie auf und blieb im Türrahmen stehen, um zu knicksen. Ihr Blick streifte über unsere Gesichter, bis ihre Augen auf mich fielen. Zielstrebig bahnte sie sich ihren Weg durch den Saal und hielt mir ein Tablett entgegen, auf dem ein gefalteter Zettel lag. „Eine Nachricht für Sie, Lady Mary."
Nicht an Miss Allington denken, nicht an Miss Allington und ihre Drohung denken, schwirrte mir in Endlosschleife durch den Kopf.
Ich griff nach dem Zettel und faltete das Papier auseinander, starrte die Worte an und gab ein Seufzen der Erleichterung von mir, als ich Henrys Handschrift erkannte.
Darf ich dich um ein Treffen bitten? Übermittle deine Antwort der Bediensteten und sie wird dich zu dem richtigen Ort führen.
Also hatte ich die Wahl zuzustimmen, und zu dem Treffen geführt zu werden oder abzulehnen und ebenfalls zu den Treffen geführt zu werden? Wie zuvorkommend!
Auf mein Nicken hin, begleitete sie mich auf mein Zimmer – wollte er ein Treffen in meinem Zimmer abhalten? - wobei sie mich anwies Stiefel und eine warme Jacke mitzunehmen.
Stiefel Anfang Mai?
„Sie sollten sich beeilen, Miss Sterling", drängte sie. „Es könnte jeden Moment so weit sein."
Kurz darauf betraten wir den Schlossgarten, als die Sonne begann sich hinter den Bäumen zu Schlaf zu legen. Mit letzter Kraft hüllte sie den Himmel in ein orangefarbenes Licht und die Pflanzen warfen lange Schatten auf den schmalen Pfad, der zu den Stallungen führte.
Henry konnte zu dieser Uhrzeit unmöglich einen Ausritt planen.
Eine leichte Vorahnung begann sich in mir auszubreiten.
Kaum hatte ich die Tür zu dem Stall aufgezogen, sah ich Henry in einer der hinteren Boxen stehen. Bei dem Quietschen der Türe sah er auf und winkte mich zu sich. Neben ihm kam ein zweiter Mann in blauen Handschuhen zum Vorschein.
Das Lächeln der Vorfreude strahlte mit den Deckenlampen um die Wette und bestätigte wortlos meine Vermutung. „Schneeflocke ist jederzeit zu weit."
Kaum hatte ich die großzügige Box betreten, sah ich Schneeflocke auf ihrer Seite liegen. Ihre Brust hob und senkte sich unregelmäßig. War mit ihr alles in Ordnung?
Ich warf einen Blick zu Henry, der über ihren Hals strich. Vorsichtig machte ich einen Schritt auf die beiden zu und kniete mich neben ihnen im Heu nieder. Ich streckte meine Hand aus, um ihr Fell zu berühren und ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht allein war.
„Soweit macht sie sich hervorragend", raunte mir Henry zu. „Und sollte Komplikationen auftreten, können wir auf die Hilfe unseres Tierarztes zurückgreifen." Mit seinem Kopf deutete er zu dem anderen Mann, der sich als Mister Johnson vorstellte.
Ich nickte nur, ohne dass ich meinen Blick auch nur eine Sekunde lang von dem Tier vor mir lösen konnte. Ich atmete tief ein, ließ den Geruch von Heu und Pferd durch Lungen strömen, in der Hoffnung, dass er eine beruhigende Wirkung hatte.
„Wir können es alle kaum erwarten, bis dein Kind das Licht der Welt erblickt ", murmelte ich Schneeflocke ins Ohr. Meine Stimme zitterte leicht und ich schluckte kurz „Wusstest du, dass der Prinz bei deiner Geburt dabei war? Ihm verschuldest du auch deinen Namen."
Kurz blickte ich zu Henry, sah das Strahlen in seinen Augen und ein warmes Gefühl breite sich in meinem Bauch aus. Ich lehnte mich näher zu Scheeflockes Ohr und flüsterte ihr halblaut zu: „Ich hoffe du bist nicht nachtragend."
Schneeflocke wurde von allen Seiten beruhigt und umsorgt, sodass es mich wunderte, dass sie nicht unter all der Fürsorge dahinschmolz. Ihr Atem beruhigte sich und das schnauben ließ nach.
War das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes?
Mein Atem stockte, als ich dem Tierarzt einen besorgten Blick zu warf. Ich öffnete meinen Mund, um zu einer Frage anzusetzen.
Aber bevor ein Wort über meine Lippen drang, warf sich Schneeflocke mit einem Sprung auf ihre Beine. Ihr Schweif schwang wild hin und her, als sie ihren Kopf nach oben warf und ein lautes Wiehern gleich einem Schrei von sich gab.
Erschrocken stolperte ich einige Schritte zurück, bis ich das Holz der Stallwand in meinem Rücken spürte. „Alles in bester Ordnung. Es nur ein Zeichen, dass die Geburt einsetzt." Der Arzt machte einen Schritt auf sie zu, um sie am Halter festzuhalten. Als ihr Schweif zur Seite schwang, konnte ich einen Kopf erkennen, der aus ihrem Hinterteil herausragte.
Erschrocken quiekte ich auf. Sogleich presste ich meine Hände vor meinen Mund, um meinen Schrei zu unterdrücken. Henry stand neben mir, unserer Arme streiften einander und verrieten das Beben seiner Schultern. „Hätte ich dich vorwarnen sollen, dass das Fohlen bei der Geburt sich seinen Weg aus dem Bauch der Stute in die Freiheit bahnt?"
Als Antwort rammte ich ihm meinen Ellenbogen in die Seite, doch meine Augen konnte ich für keine Sekunde von dem Pferd vor mir lösen. Sein warmer Atem streifte mein Ohr, als er meine Hände von meinem Mund zog, um anschließend unsere Finger miteinander zu verschränken.
Schneeflockes Atem ging stoßweise, ihr Schweif schlug unruhig von einer Seite zur anderen. Mehrmals stieß sie ein lautes Wiehern aus oder warf den Kopf zurück. Unruhig tänzelte sie in der Box herum, bevor sie zu Boden sank.
Ist wirklich alles in bester Ordnung mit dem armen Pferd, oder hätte sie sich besser auf den Beinen halten sollen?
Die Auflösung findet im nächsten Kapitel statt!
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