Kapitel 15
Die Sonnenstrahlen durchbrachen das Gewirr an Ästen über uns. Die ersten Knospen waren bereits an dem Wegrand zu erkennen und der Duft von neu erwachenden Pflanzen lag in der Luft.
Nach dem Frühstück hatte seine königliche Hoheit Ausritte und Spaziergänge außerhalb das Schlossgeländes für unbedenklich erklärt. Zurück auf meinem Zimmer erwartete mich bereits ein Brief auf dem Schreibtisch. Henrys Bitte zu einem Treffen und das Versprechen meine Fragen bestmöglich zu beantworten.
Kaum eine halbe Stunde später waren wir nun hier, mitten in dem Wald auf dem Rücken von Pferden.
Das Klappern der Hufe vermischte sich mit dem Wind, der durch die Bäume strich. Von Zeit zu Zeit murmelte mir Henry Anweisungen zu.
Die Fersen runter, Schuhspitzen zu dem Pferd gedreht und den Rücken so aufrecht wie in Miss Allingtons Etiketteunterricht.
„Du kennst ihren Unterrichtsstil?" Meinen Blick hatte ich weiterhin auf den Weg vor mir gerichtet. Die Zügel hielt ich fest in meiner Hand umklammert, ließ sie jedoch gleichzeitig schlaff hinunter hängen. Meine Stute lief, wie von selbst neben Henrys Pferd her und reagierte auf das leichteste Antippen hin.
„Sie war eine der Lehrerinnen, vor denen ich mich versteckt habe." Ich hörte das Lächeln in seinen Worten, ohne dass ich mein Gesicht in seine Richtung drehen musste.
„Vielleicht hättest du doch lieber in ihrem Unterricht aufgepasst. Ich denke nicht, dass es von guten Manieren zeugt Antworten zu versprechen und dann keine zu bringen."
Aus den Augenwinkeln schielte ich zu Henry, anstatt den Pfad vor uns zu taxieren. Als er seinen Kopf in meine Richtung neigte, richtete ich meine Aufmerksamkeit schnell wieder auf den vor uns liegenden Weg.
„Wenn du Antworten willst, brauchst du nur die Fragen zu stellen. Vorzugsweise an einem Ort, wo anders als im Schloss nicht hundert Augen und zugehörige Ohren auf uns gerichtet sind."
Mühsam unterdrückte ich ein Schaudern. Die Gitterstäbe des königlichen Käfigs waren vergoldet und doch berauten sie die Freiheit ebenso wie gewöhnliche Eisenstäbe. Mit jedem Tag konnte ich mehr mit der Prinzessin Frankreichs mitfühlen. Nur, dass ich freiwillig hier war.
„Doch mit der Einladung zu dem Ausritt musste ich noch abwarten, bis das Verlassen des Schlossgeländes, wieder sicher ist."
Henry murmelte sanft etwas in das Ohr seines Pferdes woraufhin es stehen blieb. Vorsichtig zog ich an den Zügeln und verlagerte mein Gewicht nach hinten. „Bleiben wir schon stehen?" Enttäuscht ließ ich meine Hände sinken.
„Ich habe doch nicht tagelang auf Charles eingeredet, nur dass wir so kurz vor dem Ziel umkehren." Mit diesen Worten schwang er sich von seinem Pferd.
Ich schluckte. Mit beiden Füßen schlüpfte ich aus den Steigbügeln und versuchte seine Bewegung nachzuahmen.
Für einen kurzen Moment schwebten meine Beine in der Luft, meine Hände krallten sich vorne am Sattel fest und ich suchte mit meinen Zehenspitzen verzweifelt nach dem Boden.
In der nächsten Sekunde spürte ich Henrys Hände auf meiner Taille. Bevor ich auch nur blinzeln konnte stand ich wieder auf eigenen Füßen – mit Henrys Finger noch immer gegen meine Reitweste gepresst.
Er band die beiden Pferde an einem Baumstamm fest, wobei ich sofort die Abwesenheit seiner warmen Finger spürte.
Zu Fuß überbrückten wir die letzten Meter und kletterten über einige Wurzeln, bis Henry stehen blieb und stolz nach oben zeigte. In den Ästen eines mächtigen Baumes thronte ein windschiefes Häuschen, das ich auch ohne seine Hilfestellung nicht übersehen könnte.
Sprosse für Sprosse erklomm ich die Leiter bis ins Innere des Häuschens. Ich schickte meiner Zofe ein stilles Dankeschön, dass sie eine Hose samt weißer Bluse gewählt hatten und kein Reitkleid.
Ich ließ meinen Blick durch das Baumhaus schweifen. Zahlreiche Polster waren gegen die Wände gelehnt und der Teppich sorgte dafür, dass man wie auf einem Sofa gebettet war. In einer Ecke stand eine Kiste mit goldener Umrandung, ansonsten war das Haus leer.
„Unser geheimer Zufluchtsort, wann immer der Palast zu erdrückend wird", erklärte Henry, während er mehrere Decken aus der Kiste hervorholte.
„Und der Ort, an dem du all meine Fragen beantworten wirst", erinnerte ich an sein Versprechen, während ich eine Decke annahm und mich hineinkuschelte.
Mit einem kleinen Kopfnicken gab er mir zu verstehen, dass ich beginnen sollte.
„Wer sind die Angreifer, warum haben sie den Palast angegriffen und was für Forderungen haben sie gestellt?", sprudelten die Fragen auf mir heraus.
„Wenn wir ihre Namen wüssten, hätten wir schon längst etwas unternommen."
Ein Schaudern lief wie Spinnenfüße meinen Rücken hinunter.
„Die Angreifer haben uns eine Nachricht hinterlassen, dessen Nachricht mein Vater weder mir noch dem Rat mitteilen wollte. Das einzige Ergebnis dieser Sitzungen war, dass die königliche Familie das Gefühl von Normalität aufrechterhalten sollte." Henry schluckte. „Dies bestärkte meinen Entschluss die Mädchen wie geplant noch am selben Abend wegzuschicken."
Ich wickelte mich tiefer in eine der Decken ein. „Ich verstehe nicht, weshalb der König vor dir als zukünftigen Herrscher Geheimnisse hat."
„Für gewöhnlich vertraut er sich mir an." Er schluckte und räusperte sich. „Ich bin überzeugt er hat seine Gründe, warum er diesmal Stillschweigen wahrt. Insbesondere da unsere Gäste reges Interesse an dem Vorfall zeigen."
„Naja, in einem fremden Land noch in der ersten Woche mit Schüssen und Kampfgeschrei begrüßt zu werden, anstatt lediglich Musik und Bällen würde auch mein Interesse wecken", murmelte ich halblaut vor mich hin. Kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, zuckte ich zusammen.
Meistens wurden die Besucher Frankreichs nicht mit Musik begrüßt, sondern mit Soldaten, schwarzen Wägen und Amtsvorlagen, die sie erbringen mussten oder ihnen drohte die Abschiebung.
„Mary?"
Ich blickte auf, direkt in Henrys Augen, in denen ein Ausdruck der Besorgnis stand.
„Du wirkst so als wären deine Gedanken gerade meilenweit entfernt. An was hast du gerade gedacht?"
Ich schüttelte meinen Kopf. „An wen", korrigierte ich ihn.
„Und die Antwort ist eine Freundin von mir", hörte ich mich selbst sagen, „eine französische Asylantin."
Frankreichs Vorschriften waren in vieler Weise beengender als unsere und Gegner der königlichen Familie nicht gerne gesehen. Wenn sie die Flucht bis nach Illéa schafften, forderte das Königshaus sie oftmals zurück.
„Waren ihre Familie Gegner der Herrscher?"
Ich nickte. Auf einmal spürte ich das Bedürfnis jemanden davon zu erzählen. Ein Seitenblick zu Henry reichte, um mich zu korrigieren. Nicht jemanden, sondern Henry.
„Ihr Name ist Clara. Clara Dubois. Sie wohnte nur wenige Häuser entfernt."
Wie lange war es her, dass ich ihren Namen laut ausgesprochen hatte?
„Bei unserer ersten Begegnung endetet unser Streit damit, dass wir mit Kissen aufeinander eingeprügelt hatten. Es war der Beginn einer jahrelangen Freundschaft."
Ich blickte starr nach vorne aus Angst in Henrys Augen eine Emotion zu lesen, die mich davon abhalten würde weiterzusprechen. „Jahrelang, bis eines Tages die Behörden kamen. Frankreich forderte die Abweisung ihres Asylantrags und ihre Rückkehr."
Ich berichtete, dass ihre Eltern an der Regierung Kritik geübt hatten, doch ihr Reichtum ermöglichte ihnen die Flucht übers Meer nach Illéa.
„Ich erinnere mich nur noch schwach an dunkle Autos, Männer mit breiten Schultern und tiefer Stimme. Das Einzige, dass ich nie vergessen werde sind Claras Schreie. Ich wollte für sie kämpfen ... aber sie haben sie trotzdem mitgenommen." Ich schluckte. „Das war das letzte Mal, dass ich ihren Namen gehört habe. "
„Oftmals passiert es, dass wir die Flüchtlinge ausfindig machen können", hörte ich Henrys Stimme neben mir. Ich schloss meine Augen, als könnte ich mich so vor dem schützen, was nun folgen würde. Claras Auslieferung nach Frankreich.
„Aber bevor sie zur Grenze gebracht werden, unterläuft uns ein Fehler – der ihnen ein spurloses Verschwinden ermöglicht. Ausgestattet mit einer neuen Identität, um ein Leben in Illéa unter einem anderen Namen zu beginnen."
Mein Mund öffnete sich, ohne dass ein Wort über meine Lippen kam. Ich schüttelte meinen Kopf, schluckte und räusperte mich. „Sind diese Verschwinden Absicht ... in Illéa?"
Ich hatte oft von diesen mysteriösen Vorkommnissen gehört. Doch ich hatte immer angenommen, sie würden in Frankreich von der Bildfläche verschwinden, ohne eine faire Verhandlung zu bekommen.
Henry neigte seinen Kopf zu einer stummen Bestätigung. Er fuhr fort, dass diese Verschwinden nicht förderlich für die Beziehung unserer Länder waren.
Die französischen Hoheiten hegten seit längerem offen den Verdacht, Illéa würde den Flüchtlingen helfen. Allerdings konnten sie uns jedoch kein Ultimativ stellen oder mit Krieg drohen, da unsere Behörden offiziell versucht hatten die Forderungen zu erfüllen.
„Daher liegt unsere gesamte Hoffnung darauf mit Prinz Louis und Prinzessin Camille einen Neuanfang zu schaffen. Und wenn eine der Elite Prinz Louis heiraten würde, könnte sie selbst den Wandel bringen, den wir dringend benötigen."
„Clara ist also hier? In Illéa und in Sicherheit?" Ich versuchte den trügerischen Funken Hoffnung zu unterdrücken. Es würde umso mehr schmerzen, wenn ich nun je herausfinden sollte, dass ihre Flucht nicht geglückt war. „Ist es möglich sie wiederzufinden?"
„Ich vermute stark, dass auch sie nie nach Frankreich zurückgeschickt wurde. Allerdings kann ich nicht versprechen, dass dies der Fall ist. Wir versuchen die neuen Identitäten möglichst geheim zu halten, ich kann deshalb nicht garantieren, sie zu finden, selbst wenn sie noch hier lebt."
Henry hob seine Hand, als wollte er nach meiner greifen, ließ sie jedoch wenige Zentimeter vor meinen Fingerspitzen entfernt in der Luft schweben. Vorsichtig griff ich nach seiner Hand, verschränkte unsere Finger miteinander. Ich drückte seine Hand kurz, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich es verstand.
„Aber ein Versprechen möchte ich dir trotzdem geben. Das Versprechen, in Zukunft allen Menschen, die ihr Schicksal teilen, zu helfen."
...
Zurück im Schloss erwartete mich bereits meine Zofe Alice mit dem Abendessen auf meinem Zimmer.
Anschließend verfasste ich einen Brief an meine Familie, wobei ich ihnen von meinem Ausritt dem Prinzen erzählte. Obwohl ich den Inhalt unseres Gespräches verschwieg und stattdessen nur von der Erfüllung meines Kindheitstraums berichtete, schlich sich ein hoffnungsvolles Lächeln voller Zuversicht auf meine Lippen.
Als ich aufsah, fiel mein Blick auf Alice, die unbekümmert vor sich hin summte. Ihre Handgriffe wirkten trotz all der Geschehnisse in letzter Zeit so zuversichtlich und voller Vertrauen in Herrscher wie vor all dem Chaos.
„Alice, du kennst den König und Prinz Henry doch schon lange", begann ich das Gespräch. „Denkst du sie halten ihr Wort?"
„Du zweifelst wegen der Vorfälle in letzter Zeit?", riet sie. Meine Antwort war ein vages Nicken. „Ich schätze sie als aufrichtig und gütig ein. Unendlich froh ihnen untertan und Angestellte solch gutherziger Menschen zu sein."
Ihre Lobeshymne auf die Majestäten war beinahe ein Widerspruch zu ihren sonst eher aufmüpfigen Bemerkungen. Doch aus ihrer Stimme sprach eine tiefe Dankbarkeit... und vielleicht ein kleiner Hauch Belustigung.
„Denkst du gerade an die Geschichte, die du mir versprochen hast?", hakte ich nach.
Kichernd nickte meine jüngste Zofe.
„Erzähl!" Forderte ich sie auf und legte den Stift aus der Hand. Die geheimnisvolle Geschichte, die sie eines Tages in der Abwesenheit von Daisy, ihre Vorgesetzte war, preisgeben würde. „Bitte, du hast es versprochen."
„Schon gut, versprochen ist schließlich versprochen." Alice ließ sich auf dem Sofa nieder und schenkte sich eine Tasse Tee ein.
„Es war meine allererste Begegnung mit dem zukünftigen Thronfolger", verriet sie mir. „Als Kind einer hochrangigen Zofe, wurde ich gebeten an einer königlichen Gartenfeier mitzuwirken. Als eines der Schlosskinder sollte ich eine kleine Rolle in einem Theaterstück übernehmen."
Sie nippte an ihrem Tee und schenkte mir ein kurzes Lächeln als sie fortfuhr: „Der Auftritt traf auf tosenden Applaus. Leider war meine Darbietung der kleinen Miss Ich-bin-so-viel-besser-als-du ein Dorn im Auge. Ganz gleich, ob sie mich mit boshaften Bemerkungen strafte oder an den Haaren zog."
„Und niemand hat dir geholfen?"
Alice winkte ab. „Ich denke, kaum jemand hat es gesehen. Und selbst wenn ... welche der Bediensteten würde schon den Zorn einer Lady samt ihrer Tochter auf sich ziehen wollen?"
Ich verzog mitleidig meinen Mund. Als ehemalige Sechs hatte ich oft genug gespürt, dass die Menschen eher der wohlerzogenen Tochter aus gutem Haus glaubten als mir, der Tochter ehrlicher aber armen Arbeitern.
„Der beste Part kommt erst noch, wo ich direkt in die Arme unseren Prinzen lief", fuhr Alice fort. „Dieser hat sich nach meinem Befinden erkundigt, ‚da ich so überaus aufgewühlt wirkte und schrecklich rote Augen hatte.'" Lachend malte sie während den letzten Worten imaginäre Anführungszeichen in die Luft.
„Als Antwort stieß ich ihn."
Alice nahm einen Schluck von ihrer Tasse, schluckte betont und fuhr dann fort: „Mit all meiner Kraft. In einen kleinen schlammigen See."
Ich blinzelte kurz, dann lachte ich laut auf.
Alice fuhr fort, wie der Prinz schlammverkrustet wieder aufgetaucht war und sie sich in dem dabei entstehenden Tumult heimlich weggeschlichen hatte.
Schlammverkrustet, über und über mit Schlamm bedeckt ... auf einer Feier mit hochrangigen Personen.
Das Lachen blieb mir im Hals stecken. Krächzend rang ich nach Luft.
Alice hielt in ihrer Erzählung inne und hob fragend eine Augenbraue.
„Du ... du bist das Mädchen, das Henry gestoßen hatte, bevor er seinen zukünftigen Ausbildner getroffen hatte!"
Meine Zofe schnitt eine kurze Grimasse. „Wenn er nicht regelmäßig in Seen gestoßen wird, dann war das wohl ich", gestand sie.
Zerknirscht fuhr Alice fort, wie sie sich heimlich in der Küche versteckt hatte. Nachdem sie dort gefunden worden war, hatte sie tränenüberströmt gebeichtet. Nach dem Abschluss der Feierlichkeiten wurde sie von ihren Eltern vor die königliche Familie gezerrt, um sich bei Prinz Henry zu entschuldigen.
„Ich zitterte am ganzen Körper, war fest davon überzeugt sie würden mich und meine Eltern vor die Tür setzten. Bevor ich den Mund aufmachen konnte, stand auf einmal Prinz Henry vor mir und entschuldigte er sich, für seinen Kommentar und versprach es wiedergutzumachen", verriet sie mir. „Seine Eltern lachten, nachdem sie meine Version der Geschichte gehört hatten, versicherten mir jedoch in Zukunft für das Benehmen aller Gäste besser zu sorgen."
„Hat Henry sein Versprechen denn gehalten?"
Alice sprang von dem Sofa auf und vollführte eine kleine Drehung. Dabei deutet sie voller Stolz auf die helle Bluse und ihren schwarzen Rock, die sie als Zofe auswies. „Sie mich doch an. Statt auf der Straße zu betteln, lebe ich in einem Palast. Ich muss nicht in der Küche zu schuften, sondern hatte das Glück der wundervollsten Erwählten als Zofe zugeteilt zu werden."
Ich lächelte. „Niemand ist glücklicher darüber, dass er sein Wort gehalten hat als ich. Ansonsten würde in meinem Leben nicht nur eine wundervolle Zofe, sondern auch meine gute Freundin unfassbar fehlen."
...
Diesmal ein Kapitel mit einem direkten Einstieg. Wie findet ihr den Anfang?
Und wer hätte gedacht, dass die liebe Alice das Mädchen ist, das den Prinzen gestoßen hatte? Ich hoffe ihr konntet euch noch an sie Begebenheit aus Henrys Sicht erinnern😉
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