Kapitel 10
Tag des Neumondes.
Tag des Silvesterballs.
Diese Gedanken sollten mir durch den Kopf huschen.
Was ich tatsächlich dachte, war wohl eher: Uah ... müde ... will schlafen.
Zumindest war das Alices Interpretation meines Gähnens, woraufhin sie schwungvoll meine Bettdecke zurückschlug. In der Morgenluft begann ich dank des offenen Fensters sofort zu zittern und vermisste die Wärme der Decke.
„Raus aus den Federn und vergiss deine Müdigkeit. Der Ball findet erst abends statt, doch das bedeutet nicht, dass du bis dahin schlafen kannst."
Meine Einwände, die Feier würde bis lange nach Mitternacht andauern, weshalb ich in weiser Voraussicht vorschlafen müsse, stießen auf taube Ohren.
Unsere Anwesenheit wurde sowohl für das Frühstück als auch das Mittagsessen erwartet.
Allerdings hatte sich Madame Rosie durchgesetzt, sodass uns der Vormittag zur freien Verfügung stand.
So sollte jede nach ihrem eigenen Gewissen handeln, um die Zeit für unsere intellektuellen Vorbereitungen zu nutzen oder an unserem ästhetischen Wirken zu feilen.
Übersetzt bedeutete dies, dass ich die Wahl zwischen einer Auseinandersetzung mit französischen Artikeln oder einem entspannenden Bad hatte.
Nachdem das Badewasser kalt geworden war, legte ich die Liste französischer Vokabeln aus der Hand. Eingehüllt in die flauschigsten Badetücher, vertraute ich meine Haare ganz den fähigen Händen meiner Zofen an, bevor ich erneut ein Tageskleid anzog und mich auf den Weg in den Speisesaal machte.
So manches Mädchen steckte noch eifrig die Nase in ihre Bücher, hingegen andere gelassen mit ihren Sitznachbarinnen schwätzten.
Layla bewegte lautlos ihre Lippen, während sie die aufgeschlagene Buchseite studierte. Ihre Gabel schwebte nach wie vor auf halbem Weg zwischen ihrem Mund und Teller.
Mit gesenkter Stimme korrigierte ich Amalias Aussprache, dankbar einmal den anderen Mädchen behilflich zu sein.
Wir verstummten, als sich unsere Königin erhob. Kurz ließ sie ihren Blick über unsere Gesichter streifen, bevor sie das Wort ergriff und uns auf die Wichtigkeit des heutigen Abends hinwies.
„Heute ist ein besonderer Tag, zur Ehre vieler verschiedener Kulturen. Doch erstmals werden die zukünftigen Herrscher eines europäischen Landes anwesend sein. Ihre Kultur wird sich mit der Unseren vereinen."
Sie machte eine kurze Pause, um ihren Blick über unsere Köpfe schweifen zu lassen. „Ein weiterer Schritt, um den Frieden zu sichern, den wir seit langer Zeit zu wahren versuchen. Frankreich reicht uns die Hand zur Freundschaft und ich zähle darauf, dass ihr sie in diesem Vorhaben bestärkt."
Als wären die Füße zahlreicher Tänzer bereits kein herausfordernder Hindernissparcour, glich nun auch die Konversation einem politischen Minenfeld.
Zurück in meinem Zimmer wurde ich bereits von meinen Zofen erwartet, die sogleich mit den Vorbereitungen begannen. Der Tatendrang und Eifer, mit dem sie ihr Werk verrichteten, gab mir schon jetzt das Gefühl eine wahre Prinzessin zu sein.
„Augen zu!", forderte mich Alice auf. In der nächsten Sekunde benetzte ein Sprühregen aus zarten Tropfen mein Gesicht und meine Lockenpracht.
Als ich meine Augen wieder aufschlagen durfte, wirkte meine Haut so frisch und rosig als wäre ich soeben aus der Badewanne geklettert und mein Haar strahlte, als hätte jemand Goldstaub mit einem Pinsel aufgetupft.
Schließlich war es Zeit mein Kleid anzuziehen. Emmas flinke Hände schnürten die Bänder am Rücken zu, während Daisy die obersten Lagen des Rockes zurechtzupfte.
Ich spürte Emmas sehnsüchtigen Blick auf mir, während ich zu dem Spiegel schritt.
Rund um meine Schultern war der Stoff gerafft und wurde mit Spangen aus Glas festgehalten.
Während das Kleid sich eng an meine Taille anschmiegte, fiel der Rock in mehreren Lagen zu Boden. Das Oberteil hatte die Farbe des Himmels an einem Sommertag, hingegen die Ärmel und der Rock wie ein stürmisches Meer wirkten.
Schwungvoll drehte ich mich im Kreis, woraufhin das Kleid aufwirbelte und Blick auf die unteren Lagen freigab, die silbern schimmerten.
„Es ist geradezu perfekt", strahlte ich meine Zofen an. „Ich kann euch nicht genug danken."
...
„Du siehst aus, als wärst du geradewegs aus einem Märchenbuch gefallen", wisperte Layla mir zu, während sie eine nicht existente Falte ihres dunkelvioletten Kleides glattstrich.
Wir warteten in einem der Vorräume auf unseren großen Auftritt, wobei ich mit jeder verstreichenden Sekunde nervöser wurde.
„Und du bist eine Gottheit, die sich bequemt hat von dem Olymp herabzusteigen, um einen unserer Bälle zu besuchen", gab ich zurück. Am liebsten hätte auf meiner Unterlippe herumgekaut, wagte aber nicht die Farbe meine geschminkten Lippen zu verschmieren.
Madame Rosie klatschte in ihre Hände, um uns ein letztes Mal zu ermahnen und zu ermutigen. Dann scheuchte uns in die Reihenfolge, in der wir unseren Auftritt hinlegen würden.
Auf ihr Nicken hin wurde die schwere Tür von zweien Dienern aufgezogen und Denise schritt als Erste in den hell erleuchteten Ballsaal. Ihr Blick war nach vorne gerichtet, während ein Lächeln voller Vorfreude auf ihren Lippen ruhte. In diesem Moment wirkte sie wie eine wahre Prinzessin.
Amalia, als nächste an der Reihe, warf uns einen letzten hilflosen Blick zu. Während ich ihr ein ermutigendes Lächeln schenkte, begann Layla sie kurzerhand anzufeuern, als wäre sie ein Model auf dem Laufsteg. Lachend verschwand die Erwählte durch die Türe, bereit alle in ihren Bann zu ziehen.
Scarlett.
Vanessa.
Isabella.
Eine nach der anderen schritt durch die Tür und ließ mein eigenes Debüt mit jedem Schritt näherkommen.
Layla drückte Hilfe suchend meine Hand, bevor sie losging und die Treppe hinunterschwebte.
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Mein Auftritt war der nächste!
Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und beschwor all meine Liebsten vor mein inneres Auge.
Mums aufmunterndes Lächeln, Dads stolzer Blick und Max' kindlicher Glaube, dass ich eine wahre Heldin war. Meine kleine Sophie würde am liebsten an meiner Seite die Treppe hinunter schreiten, hingegen Loreen den Ballsaal ins Chaos stürzen würde.
Wesentlich ruhiger schlug ich meine Augen auf und blickte zu Madame Rosie. Gerade noch rechtzeitig, um ihr Nicken zu bemerken. Mein Zeichen loszugehen.
Ein Fuß vor den anderen.
Lass mich nicht auf der Treppe stolpern und den Schuh verlieren, flehte ich innerlich.
Langsam schob sich der Ballsaal in all seiner Pracht in mein Blickfeld. Die Wände ersteckten sich über zwei Stockwerke und von der Decke hingen Kerzenleuchter, die wie Sterne in der dunklen Nacht funkelten.
Unter mir breitete sich ein Meer an Personen aus, die allesamt auf meinen Auftritt warteten. Ihre Gesichter verschmolzen zu einer einheitlichen Masse. So musste ich zumindest ihre Blicke nicht deuten, als eine Stimme laut durch den Saal scholl und meinen Namen allen Anwesenden verkündigte.
Mein Blick ruhte starr auf den Panoramafenstern, die sich von dem Boden bis zur Decke zogen. Ein Sturm wütete draußen, dessen Brausen bis an meine Ohren drang. Oder ich hörte mein Blut rauschen.
In der Finsternis hinter den großen Fenstern war der Schlossgarten unmöglich zu erkennen, doch im Inneren des Palastes erstrahlte der Saal heller als der Mond selbst und machte die Nacht zum Tag.
Stufe für Stufe näherte ich mich der Menschenmenge und konnte ich meinen Blick nicht länger von ihnen abwenden.
Die Männer trugen schwarze Anzüge, wobei die einzigen Farbtupfer ihre Abzeichen und bunten Krawatten waren. Die Frauen hingegen bildeten ein wahres Farbenmeer an den unterschiedlichsten Schattierungen. Ein Kleid war prunkvoller als das andere, während die Diamantenketten das Licht der Kronleuchter reflektierten.
Bloß nicht hinfallen, bloß nicht hinfallen, wiederholte ich mein Mantra in Endlosschleife, während ich eine Stufe nach der anderen hinab schritt.
In der Mitte der Längsseite des Saals befanden sich zwei Stühle gleich einem Thron, auf denen unsere Herrscher saßen. Ich war zu weit entfernt, als das ich ihre Mimik deuten konnte.
Sobald ich sicheren Boden unter den Füßen hatte, senkte ich demütig meinen Blick und vollführte einen tiefen Knicks.
Ich zählte bis fünf, bevor ich mich wieder erhob.
Die Menschenmenge teilte sich und öffnete mir einen Pfad zu den restlichen Erwählten, sodass ich meinen Platz in ihrem Halbkreis einnehmen konnte.
Kaum waren wir alle versammelt, erklang die nächste Ankündigung mit gebieterischer Stimme durch den gesamten Saal: „Heißen Sie mit mir die königlichen Hoheiten willkommen."
Die Doppeltüre auf der gegenüberliegenden Seite des Ballsaals schwang auf.
„Seine Königliche Hoheit, Kronprinz Louis Valois de Angoulême von Frankreich und Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin Camille Léa."
Eine dunkelhaarige Schönheit betrat das kleine Podium an der Seite ihres Bruders. Beide verweilten dort für einen Moment, während wir in einen tiefen Knicks sanken.
Ich versuchte möglichst auffällig trotz meines gesenkten Kopfes einen Blick auf das Geschwisterpaar zu erhaschen.
Als sie die Stufen hinabstiegen, fingen die in der Tiara eingearbeiteten Rubine das Kerzenlicht ein und zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Das dunkelrote Kleid der Prinzessin brachte ihre Haut zum Strahlen.
Ihre Schritte hallten durch den gesamten Raum. Das Klackern der hohen Schuhe der Prinzessin im Gleichschritt mit den schweren Schritten des fremden Kronprinzen.
Über sein Jackett hatte der fremde Prinz eine Schärpe in den Farben der Flagge Frankreichs drapiert. Die schwarzen Haare, gebräunte Haut und imposantes Auftreten waren das eines zukünftigen Herrschers. Einschüchternd und Ehrfurcht erweckend.
„Seine Königliche Hoheit, Kronprinz Henry." Die Tür, wo wir noch vor fünf Minuten unseren Eintritt vollführt hatten, wurde aufgezogen.
Schritt für Schritt schob sich Prinz Henry mehr in mein Blickfeld. Schwarze Schuhe, gefolgt von einem tiefblauer Anzughose bis hin zu seinem Jackett, geschmückt mit mehreren Abzeichen. Seine Haare waren ordentlich frisiert, seine Haltung kerzengerade und seine Schritte selbstsicher. Das Auftreten eines wahren Kronprinzen.
Beinahe wirkte er wie eine vollkommen fremde Person.
Für eine Sekunde landeten seine Augen auf mir und als sich unsere Blicke trafen, huschte ein Lächeln über seine Lippen.
Für diesen Moment war er Henry.
Die Person, die mir den ersten Schnee gezeigt hatte, die an zweite und dritte Chancen glaubte, die mit mir an dem Lagerfeuer saß und Geschichten über Schlamm-verkrustete Begegnungen seines Ausbildners erzählte.
Als die Hoheiten einander in der Mitte begegneten, hielt ich unwillkürlich die Luft an.
Die Prinzen nickten einander ehrfürchtig zu.
„Königliche Hoheit." Die samtweiche Stimme der Prinzessin klang durch den gesamten Saal. Sie neigte ihren Kopf, ohne dass die Tiara in ihren Haaren für einen Millimeter verrutschte, während sie mit der Bewegung einer Ballerina Henry ihre Hand entgegenstreckte.
„Prinzessin." Anmutig griff er nach ihrer Hand und führte sie an seine Lippen. „Darf ich Sie um die Ehre des ersten Tanzes bitten?"
Unwillkürlich zuckten meine Hände, als könnte ich ihm auf diese Weise einen Kinnhaken verpassen.
Die Stille, ehrfürchtig in der einen Sekunde, war nun plötzlich so erdrückend.
Die Menge um uns herum versperrte mir einen Blick auf das Orchester, denn ansonsten hätte ich sie stumm um die Klänge des Klaviers angefleht.
Als hätte meine Freundin mein Flehen erhört, zog sie hörbar die Luft ein.
Ein Geräusch so leise, dass es sich in den Weiten des Saales verlor, aber so nahe an meinem Ohr, dass es mich aus meiner Erstarrung riss.
Aus den Augenwinkeln schielte ich für einen Augenblick zu ihr, das Gesicht starr nach vorne in Richtung der Hoheiten gewandt. Für einen Moment zuckten meine Mundwinkel amüsiert. Zwei Freundinnen, ein Gedanke?
In der nächsten Sekunde erstarb mein Drang zu Lächeln. Hatte sich Layla in den vergangen zwei Wochen in Henry verliebt?
Während Prinz Henry die Prinzessin in eine Tanzhaltung zog, ging der französische Prinz gemächlich unsere Reihen ab. Doch meine Gedanken drehten sich nur um ein Paar.
Henry und Layla.
Layla und Henry.
Ich versuchte meine Aufmerksamkeit auf die französische Hoheit vor uns zu lenken.
Die Schultern straff zurückgenommen, schien sein Auftreten den halben Ballsaal zu beanspruchen. Der zukünftige Herrscher eines anderen Landes.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, blieb er vor meiner Freundin stehen.
Ihre Blicke trafen sich.
Am liebsten hätte ich ihr meinen Ellenbogen in die Seite gerammt.
Ehrfürchtig den Kopf sinken, sobald eine fremde Hoheit uns ihren Blick schenkte.
Miss Allingtons erste Regel, die auch Madame Rosie nicht abzuschwächen wagte. Nicht, wenn es um Frankreichs zukünftige Herrscher ging.
Ich zwang mich zu schlucken und meinen Blick nicht von den Zweien zu lösen.
Einen Augenblick lang zögerte er, bevor er meiner Freundin die Hand zu dem ersten Tanz reichte. „Darf ich um Ihre Hand bitten?"
Ihre Hand?
Ich hörte wie Amalia hörbar die Luft einzog.
Der Wortlaut des Prinzen war nicht nur mir aufgefallen.
Aber Amalia konnte sich dem Gedanken hingeben, es war ein Versehen gewesen. Denn im Gegensatz zu mir sah sie nicht den berechnenden Blick in den Augen des Franzosen. Seine Aufforderung - mit den identischen Wortlaut einer Verlobung – war keineswegs ein Versehen gewesen.
„Es ist mir eine große Ehre." Die Worte meiner Freundin drangen wie von der Ferne an mein Ohr.
Als der Prinz sie zu Henry und seiner Schwester auf die Tanzfläche zog, hatten ihre Wangen einen liebreizenden Rotton angenommen.
Während wir, die restlichen Erwählten oder nun Nichterwählten, die Tanzfläche für die Hoheiten und Layla räumten, wurde mir eine Tatsache schmerzlich bewusst.
Nicht um mich und meine Ungeschicktheit hätten meine Sorgen kreisen müssen, sondern um meine Freundin, den Inbegriff von Perfektion.
Schwärmereien für die falsche Person war gefährlich.
Eine Kategorie, die der zukünftige König Frankreichs bisher allein ausfüllte.
Und nun mit nur einer dummen, unüberlegten Aufforderung hatte der französische Prinz Layla zu einer Figur in seinem Spiel gemacht, das sie nicht gewinnen konnte.
Ein Ball voller Wendungen, die wohl leider nicht wirklich überraschend waren.
Aber da die Hoheiten für nur eine Woche in Iléa verweilen werden, müssen sie schließlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Wie denkt ihr über die ausweglose Situation, in der sich die arme Layla nun befindet?
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