Windstärke 32 | Wyatt
Rückblick – zwölf Jahre zuvor
Jax rammt mir den Ellenbogen in die Rippen. Seine blauen Augen funkeln amüsiert.
»Warum gehst du nicht endlich runter? Von hier oben kriegst du ihre Nummer nicht«, sagt er.
Ich hebe eine Braue über den Rand meiner Sonnenbrille und stelle mich dumm.
»Wen meinst du?«
»Komm schon, Wy, du beobachtest die Kleine im Pool, seit ich hier sitze, wahrscheinlich schon länger. Hast du überhaupt mal an deiner Zigarette gezogen?« Als ich nicht reagiere, sagt er: »Und sie schaut auch ständig hier hoch.«
Durch das Balkongeländer riskiere ich einen Blick und finde die Augen der Fremden auf mir.
Ich zucke mit der Schulter.
»Was soll ich denn sagen? Sonst kommen die Mädels immer zu mir. Du weißt, ich hab's nicht so mit Worten.«
Ich drücke den Rest meiner Zigarette im Aschenbecher aus.
»Nein! Was? Merkt man gar nicht.« Er dreht die Krampe seines blauen NBA-Basecaps der New Orleans Pelicans nach hinten, sodass sich die Enden seiner hellblonden Haare um den Verschluss kringeln. »Aber wenn du kein Interesse hast ... Ich lasse mir so ein Mädchen nicht entgehen.« Jax drückt sich von den weißen Fliesen hoch und schielt über das Geländer noch einmal zu der hübschen Schwimmerin mit den Erdbeerlocken hinunter. In mir wächst der Drang, ihm den Hals umzudrehen. »Ich müsste sogar noch 'ne Badehose im Koffer haben. Also wir sehen uns«, sagt er und tippt in einem scherzhaften Salut zwei Finger gegen seine Schläfe. »Besser gesagt, du siehst uns. Von hier oben.«
Damit schlüpft er durch die Balkontür und keine Minute später fällt die Zimmertür ins Schloss. Ich komme in einem Satz auf die Füße.
Scheiße, er meint das ernst.
Ich lehne mich über die Reling. Jax kommt mit Piloten-Sonnenbrille und Handtuch über der Schulter in den Innenhof geschlendert und steuert den Pool an.
Okay, denk nach, Wy!
Eine Badehose habe ich definitiv nicht dabei, nur dunkelgraue Shorts und die trage ich.
»Mist«, knurre ich. Jax lässt mir keine andere Wahl.
Ich zerre mir mein weißes Pink Floyd T-Shirt über den Kopf, springe seitwärts über die Reling und lande mit einer kompromisslosen Arschbombe im Wasser.
Vor dem Sprung wusste ich nicht einmal, wie tief der Pool ist. Das hätte dumm ausgehen können.
Meine Füße berühren die Bodenfliesen. Kräftig drücke ich mich hoch und durchbreche keuchend die Oberfläche.
»Starker Auftritt«, höre ich jemanden sagen und drehe den Kopf in dieselbe Richtung, aus der die feminine Stimme kam. Chlor brennt in meinen Augen. Ich kann nichts sehen. »Schön ruhig atmen und nicht absaufen, okay? Und dann öffnest du vorsichtig die Augen«, fährt die Stimme fort.
Das Brennen lässt nach und langsam stellt sich meine Sicht wieder scharf.
Ich blicke in das Gesicht der kleinen Meerjungfrau von eben, auch wenn alles unterhalb ihrer Wangenknochen von der reflektierenden Wasseroberfläche verdeckt wird. Aus blaugrauen Augen, die mich an einen wolkenverhangenen Himmel erinnern, mustert sie mich.
Ich bin ins Tornado Alley gekommen, weil ich die perfekte Sturmfront suche – und doch hat mich diese hier unvorbereitet getroffen.
Mein Gegenüber hebt den Kopf. Ihre Lippen kommen zum Vorschein.
Fuck, das ist echt ein verdammt schöner Mund. Ihn nicht anzustarren stellt eine Herausforderung dar.
»Was ist denn mit deinem Freund los?« Die Fremde nickt zum Beckenrand, wo sich mein Kumpel Jax einem heftigen Lachanfall ergibt, der ihn zwingt, sich mit den Händen auf seinen Knien abzustützen. Diese Arschgeige, unglaublich. Damit wird er mich in hundert Jahren noch aufziehen.
Ich muss schmunzeln.
»Der Idiot war schon auf dem Weg zu dir. Ich stand unter Zugzwang.«
Ihre Augen weiten sich.
»Wow, ich schätze, die Punkte für Schnelligkeit und Originalität gehen dann wohl an dich.«
Meine Brauen schießen hoch.
»Es gibt ein Punktesystem?« Über meine Schulter gestikuliere ich in Jax' Richtung. »Hat er denn auch welche bekommen?«
»Klar, er hat ja dafür gesorgt, dass du endlich runtergekommen bist.«
Ihre Augenwinkel kräuseln sich. Als sie lächelt, erhellt das ihr ganzes Gesicht – und alles andere in einem Radius von fünfzig Kilometern.
Könnte sein, dass ich gerade die Frau meiner Träume gefunden habe.
»Okay, das ist fair.« Über Wasser strecke ich ihr die Hand entgegen. Unter Wasser muss ich doppelt so kräftig strampeln, um nicht zu sinken. »Ich bin Wyatt, oder Wy.«
Ihre Haut ist kühl, ihr Händedruck fest.
»Freut mich, ich bin ... Dorisa«, sagt sie und taucht kurz unter, so als könnte sie es nicht ertragen, irgendwo am Körper nicht von Wasser bedeckt zu sein.
Mit geschlossenen Augen erscheint sie an der Oberfläche, ihr Kopf ist leicht nach hinten geneigt. Klare Linien, weiche Kurven, helle Haut mit einem Hauch von Gold. Es ist offensichtlich, wie viel Zeit sie im Freien verbringt. Mir gefällt alles an ihr, vom herzförmigen Gesicht bis zu den endlos langen Beinen, die mir schon vom Balkon aus den Kopf verdreht haben.
»Dorisa?«, frage ich, um sicherzugehen, dass ich ihren Namen richtig verstanden habe. Sie nickt einmal. »Klingt schön. Steht da irgendeine poetische Bedeutung dahinter, die ich kennen sollte?«
»Die vom Meer kommt«, sagt sie, als meine Konzentration kurz zu ihrem Bikini-Oberteil ausweicht. Meine Augen schnippen zu ihren hoch. Nope. Dafür bin ich nicht in diesen Pool gesprungen. Nicht nur. Ich will sie kennenlernen. »Wie alt bist du eigentlich?«
»Zwanzig«, antworte ich, »und du?«
Dorisa beißt sich auf die Unterlippe.
»Sechzehn.« Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber schließe ihn gleich wieder. Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet. »Schockiert?«, wirft sie hinterher.
Ich räuspere mich.
»Überrascht trifft es eher. Ich meine, du wirkst so ... entschlossen, als wüsstest du genau, wo du im Leben hinwillst.« Dann frage ich: »Was führt dich eigentlich nach Oklahoma, Sweet Sixteen?«
In dem Moment, wo mir der Spitzname herausrutscht, würde ich ihn am liebsten gleich wieder in meinen Mund zurückstopfen.
Dorisas Wimpern streicheln die Ansätze ihrer leicht geröteten Wangen.
»Mom hat hier eine Freundin besucht«, sagt sie. »Und du?«
Ich verziehe den Mund zu einem frechen Grinsen, das meinen Nasenrücken kräuselt.
»Wir wollen Stürme jagen, Tornados verfolgen. Du weißt schon. Wie im Fernsehen.«
Dorisa blinzelt langsam. Ihrem Gesicht kann ich keinerlei Emotionen entnehmen.
Dann fragt sie: »Seid ihr es leid, zu atmen oder wie kommt man auf so eine bescheuerte Idee?«
Lachend werfe ich den Kopf in den Nacken. Ihre trockene Art so einen Spruch zu servieren, fasziniert mich.
»So in etwa.« Ich zwinkere ihr zu, ohne zu wissen, warum.
Sie ist noch immer zu jung, noch immer tabu. Das hat sich in den vergangenen drei Minuten nicht geändert.
Als wüsste sie, woran ich gedacht habe, kommt mir die kleine Meerjungfrau so nah, dass ich instinktiv zurückweiche. Meine Rückseite kollidiert mit den kühlen, harten Fliesen des Hotelpools.
Da ist wieder diese Entschlossenheit in ihrem Blick – und dann liegen nicht nur ihre Lippen auf mir, sondern ihr ganzer Körper.
Meine Haut prickelt an allen Berührungspunkten und ich wünschte, es wären nicht so verdammt viele. Dann besäße ich vielleicht genügend Willensstärke, sie an den Oberarmen von mir wegzuschieben. Stattdessen lasse ich mich von ihr erklimmen wie ein Baumstamm.
Wärme explodiert in meiner Brust. Ich neige den Kopf und öffne den Mund für ihre unkoordinierte kleine Zungenspitze. Ihren Enthusiasmus.
Hat sie mir etwa gerade ihren ersten Kuss geschenkt?
Der Gedanke wirkt wie ein Eimer voller Eiswasser, der direkt über mir ausgekippt wird.
Fuck! Fuck! Fuck! Einen unschuldigen Engel wie sie verdiene ich nicht. Das läuft hier gerade völlig aus dem Ruder.
»Warte«, keuche ich. »Was wird das?«
Dorisa blinzelt benommen. Ihr perfektes Kinn hat sich durch die kurze Reibung meiner Bartstoppeln rötlich gefärbt. Ein verdorbener Teil in mir liebt es, dass ich meine Spuren auf ihr hinterlassen habe. Ein weiterer Beweis dafür, dass es besser war, den Kuss zu beenden.
»Ein kleiner Überraschungsangriff«, erwidert sie atemlos, »bevor der Tornado dich verschluckt oder die Glimmstängel dich killen.« Mit einem Schwimmzug bringt sie anderthalb Meter zwischen uns. »Gern geschehen, Sturmjäger.«
• | • | •
Knurrend vergrabe ich das Gesicht in meinem Kopfkissen, das nicht nach ihr riecht.
Draußen gießt es aus Kannen. So heftig und unnachgiebig wie an dem Tag, als der Regen Sky in mein Bett spülte.
Mein Schwanz zuckt bei der Erinnerung an Seidenhaut, Pfirsichbrüste und jedes Wimmern, das ich von ihren Lippen getrunken habe, während sie meinen Hintern geknetet hat wie einen Luffaschwamm.
Ich umfasse meine Länge und drücke zu, aber nichts ersetzt das Gefühl, von ihrer feuchten Hitze stranguliert zu werden. Niemand kann die Sky-förmige Delle in meiner Matratze ausfüllen, seit sie sich vor drei Monaten aus meinem Schlafzimmer geschlichen hat und in ein Taxi zum Flughafen gestiegen ist.
Wo ich am nächsten Morgen ihren nackten Körper hätte finden sollen, erinnerte nur noch ein rotes Haar daran, dass ich mir den intensivsten Sex meines Lebens nicht bloß eingebildet hatte.
Dann fand ich den zusammengefalteten Zettel auf ihrem Kopfkissen.
Schau in dein Handy. Das ist kein Abschied.
Für immer deine kleine Meerjungfrau
Als würde Sky ahnen, dass sich in meinem Kopf alles nur um sie dreht, beleuchtet eine eingehende Nachricht von ihr den Bildschirm meines Handys und holt mich ins Hier und Jetzt zurück.
»Hey Sturmjäger, ich habe von dir geträumt«, schreibt sie.
»Ich hab mir vorgestellt, dass du neben mir liegst, aber meine Fantasie reicht nicht mal annähernd an dich heran«, tippe ich zurück. »Was machst du heute Schönes?«
Die Frage stelle ich ihr jeden Morgen. Diesmal kenne ich die Antwort bereits. Sky ahnt nicht, dass mich mein kleiner Bruder für ein verlängertes Wochenende nach Kodiak eingeladen hat.
»Arbeit und heute Abend bin ich im Leeroy's, Rockys zweiten Einstand feiern«, schreibt sie. »Er hat dir bestimmt erzählt, dass er ab Montag wieder an der normalen Dienstrotation teilnimmt.«
Über meine Schulter hinweg, fällt mein Blick auf den gepackten Rucksack neben der Tür.
Ich kann es kaum erwarten, sie bald wieder in meine Arme zu schließen.
• | • | •
»Hier drüben, Wy!«, brüllt mein Bruder quer durch die Ankunftshalle und fuchtelt wie wild mit den Armen herum. Nach einigen langen Schritten stehe ich vor ihm und werde in eine feste Umarmung gezogen. »Gut siehst du aus, alter Mann.«
Als wir uns voneinander lösen, drückt mir Rocky etwas Weiches gegen die Brust, Frischhaltefolie knistert unter meinen Fingerspitzen. Ich schaue an mir herunter und finde Käse, Tomaten und Salat zwischen zwei Scheiben Brot.
»Ein Sandwich?«
Rocky hebt den Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen.
»Jap, mit Liebe geschmiert. Ich wusste nicht, ob wir hier noch was zu beißen kriegen und wollte nicht, dass du dich auf leeren Magen besaufen musst.«
Ich hebe das Sandwich, als wäre es ein Becher und ich würde ihm zuprosten.
»Danke, Mann. Du bist der Beste«, sage ich.
Bis zur Bar sind es mit dem Auto nicht einmal zehn Minuten. Rocky und ich halten das Gespräch locker – Wetter, Arbeit, Smalltalk – aber ich hoffe, dass uns morgen genügend Zeit bleibt, unter vier Augen zu reden.
Mein Bruder schert in eine Parklücke ein, stellt den Motor ab und schielt auf sein Handy. Mit der Hand schabt er sich über den glattrasierten Unterkiefer.
»Okay, Sky kommt etwas später«, murmelt er. »Das heißt, wir müssen dich irgendwo am Rand verstecken, damit sie dich nicht sofort sieht, wenn sie in die Bar kommt.«
Ich verstehe nicht, warum er darauf bestanden hat, dass ich meinen Besuch vor ihr geheim halte.
»Verschießt du neuerdings Amors Pfeile? Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du versuchst, uns zu verkuppeln.«
Ohne hinzusehen, sperrt er den Bildschirm seines Handys und lässt es in der hinteren Tasche seiner Jeans verschwinden.
Rocky lehnt seinen Oberarm ins Fahrerfenster. Ein Auto parkt neben uns, die zwei Insassen stolpern lachend heraus. Ein Mann und eine Frau. Draußen finden sich ihre Hände und sie verschwinden hinter der dunklen Tür dieser Hinterhof-Spelunke. Der Name Leeroy's prangert in flackernder pinkfarbener Neonschrift über dem Eingang. Es würde mich nicht überraschen, wenn da drinnen illegale Hahnenkämpfe stattfinden.
»Oh, ihr habt selbst schon ordentlich gekuppelt«, sagt Rocky. »Ich will euch nur in die richtige Richtung schieben. Ihr gehört zusammen. Sie vermisst dich, Mann. Und du vermisst sie. Ich kenne euch beide, vergiss das nicht.«
Ohne Vorwarnung nimmt mich Rocky in den Schwitzkasten und verwuschelt meine Haare. Knurrend schiebe ich ihn von mir und klappe die Sonnenblende herunter, um mich im Spiegel den Auswirkungen seiner Tat zu stellen. Ich sehe aus, wie eine viel zu oft benutzte Klobürste.
»Affenarsch«, motze ich und zerre mir mit den Zähnen den schwarzen Haargummi vom Handgelenk. Meine wilde Mähne binde ich locker im Nacken zu einem Knoten zusammen. »Gerade wollte ich noch sagen, dass es mir leidtut, falls das mit Sky und mir komisch für dich ist, aber im Moment kann ich nicht besonders gut leiden.«
»Ach komm schon, war doch nur Spaß.« Rocky grinst von einem Ohr zum anderen. »Du liebst mich, ich hab dir ein Sandwich gemacht.« Mein Bruder seufzt. »Und ich komme klar. Mit diesem Freundschafts-Ding hab ich mich arrangiert. Jetzt, wo Franny und ich wieder Kontakt haben, gibt es so viel, was ich aufarbeiten muss. Darauf liegt mein Fokus und ganz ehrlich: Mir war schon klar, dass ihr die Finger nicht voneinander lassen könnt, als sich Sky in Chalmette von mir verabschiedet hat und meinte, sie würde auf dem Weg zum Flughafen bei dir Halt machen. Es wundert mich, dass sie dort überhaupt angekommen ist. Was ihr Freundschaft nennt, verstört Freunde auf der ganzen Welt.«
Über die Mittelkonsole hinweg halte ich ihm die Faust hin und er stößt mit seiner dagegen.
»Hab dich lieb, Kleiner.«
»Ich dich auch«, sagt er. »Und jetzt, wo das geklärt ist, feiern wir. Okay?«
Unsere Augen treffen sich.
»Okay.«
Rocky und ich betreten das Leeroy's durch eine schwere, schwarze Metalltür, die mit einem dumpfen Knall hinter uns zufällt.
Im Inneren verleihen verschiedenfarbige Lichterketten der Bar ein gemütliches Flair. Sofort habe ich das Gefühl, in eine Filmszene gestolpert zu sein – Carohemden und Cowboystiefel so weit das Auge reicht, als wäre heute Halloween. Passend dazu läuft ein langsamer Countrysong mit R&B-Einflüssen, in dem es um eine Frau so samtig wie Tennessee Whiskey, süß wie Erdbeerwein und warm wie Brandy geht.
»Hör auf, dich naserümpfend umzuschauen. Sonst outest du dich gleich als feiner Großstadt-Pinkel«, murmelt Rocky in mein Ohr. »Na komm, ich stell' dich paar Leuten vor.«
Kaum hat er den Satz beendet, kollidieren meine Augen mit einem Kopf schulterlanger brauner Haare und ich stemme abrupt die Hacken ins Linoleum. Ist das nicht der Doktor von der Dachterrasse da am Tresen?
Munroe nimmt einen Schluck von seinem Bier und lässt dabei seinen Blick durch die Bar schweifen. Erst ziehen seine Augen über mich hinweg, bevor sie kurz darauf wieder zu mir zurück schnippen. Er stupst seinen glatzköpfigen Freund mit der Schulter an und deutet in meine Richtung, sodass auch Levis Augen auf mir landen.
»Ah, ja«, höre ich meinen Bruder sagen. »Levi meinte neulich im Hangar schon, dass ihr euch im Krankenhaus kurz kennengelernt habt. Da hatte er noch keine Ahnung, dass du mein Bruder bist oder in welcher Verbindung wir alle zueinander stehen.« Wir bewegen uns auf den Tresen zu, da hält mich Rocky am Oberarm zurück. »Warte mal, am selben Tag hast du Sky und mich doch auch im Krankenhausflur gesehen, oder? Als du in mein Zimmer geschlichen bist?« Er lässt mir keine Zeit, zu antworten. »Hast du sie da schon erkannt?«
Meine Schultern sinken mit einem langen Seufzer.
»Erkannt habe ich sie damals im Frühstücksfernsehen, als ihr Interview lief und du meintest, du würdest dich für so eine Frau nach Kodiak versetzen lassen. Da habe ich auch ihren richtigen Namen erfahren und jedes Mal, wenn du sie am Telefon erwähnt hast, wusste ich, um wen es geht.«
Meinem kleinen Bruder klappt buchstäblich die Kinnlade herunter.
»Und trotzdem hast du dir das mit ihr angehört und mir Ratschläge gegeben? Obwohl du wusstest, dass wir vielleicht zusammenkommen werden?«
Ich zucke mit der Schulter, doch bevor ich etwas erwidern kann, tauchen in unserer Peripherie zwei bekannte Gestalten auf.
»Schaut mal, wen die Katze da angeschleppt hat. Lange nicht gesehen, Wyatt.« Munroe legt mir die Hand auf den Oberarm. »Du solltest dich doch melden, wenn es dich mal wieder zu uns in den Norden verschlägt.« Lächelnd nickt er Rocky zu. »Lieutenant, schön Sie offiziell wiederzuhaben – und danke für die Einladung.«
»Da schließe ich mich an. Willkommen zurück«, begrüßt Levi meinen Bruder.
»Immer wieder gern«, sagt Rocky.
Die beiden umarmen sich locker von der Seite, bevor Levi seine haselnussbraunen Augen auf mich richtet. Mit dem Zeigefinger deutet er zwischen meinem Bruder und mir hin und her.
»Krass, wie unterschiedlich ihr ausseht und trotzdem weiß man sofort, dass ihr Brüder seid.«
»Das sind die Augen«, mischt Munroe sich ein und legt Levi von hinten das Kinn auf die Schulter. »Schau mal, komplett gleich.«
Levi schüttelt den Kopf.
»Als Sky mir das von euch dreien erzählt hat, dachte ich, sie verarscht mich«, sagt er.
Rocky räuspert sich neben mir.
»Ja, schon 'ne irre Story irgendwie. War anfangs ein ziemlicher Schock, das alles.« Verlegen tritt er von einem Fuß auf den anderen. »Aber bitte, das darf unsere Runde nicht verlassen, okay? Sonst könnten Sky und ich bei der Arbeit echt Probleme bekommen, auch, wenn wir nicht zusammen sind.«
Verständnisvoll nicken die zwei.
»Klar.«
»Versprochen«, antworten sie gleichzeitig.
»Schon witzig, wie wir manchmal alle miteinander verknüpft sind, ist es nicht so?«, ertönt eine dritte Männerstimme hinter mir. Die adrige, von Wind und Kälte gegerbte Hand eines Mannes, der sein ganzes Leben im Norden verbracht hat, landet auf meiner Schulter. Langsam drehe ich mich zu ihm herum.
»Cameron, wie geht es Ihnen?«
»Schlechten Menschen geht's immer gut«, erwidert der scherzhaft. »Schön, Sie wiederzusehen, mein Junge.«
Camerons grauweißer Schnurrbart wippt, als der alte Mann schmunzelt. Wie Levi, nimmt er eine wichtige Rolle in Skys Leben ein und damit ab jetzt auch in meinem.
»Oh Scheiße, Leute.« Rocky greift nach meinem Ellenbogen und drückt zu. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger deutet er hinter mich. Mein Kopf wippt in Richtung Eingang herum. »Da ist sie! Da ist sie!«, gibt er mir mit einer Mischung aus Flüstern und Schreien zu verstehen.
Mir stockt der Atem, als ich Sky entdecke und meine Augen von den schwarzen Pumps bis zu ihrem hinreißenden Kussmund hinaufklettern lasse. Im blutroten Trägertop und knallengen Jeans verdrängt sie sämtlichen Sauerstoff aus dem Raum, um ihn mit Verlangen zu füllen. »Nicht starren, Wy – du musst dich verstecken.«
Ich spüre, dass es dafür zu spät ist, bevor mir auffällt, dass Sky an Ort und Stelle zur Salzsäule erstarrt ist.
»Zu spät, sie hat ihn entdeckt«, spricht Levi laut aus, was mir eben durch den Kopf ging.
Rocky schnaubt.
»Bei den beiden ist Hopfen und Malz verloren. Wahrscheinlich geht da irgendein innerer Radar an, wenn die andere Person in der Nähe ist«, sagt er. »Kacke, ich hätte Sky echt gern überrascht«
Aber seine Stimme gerät zunehmend in den Hintergrund. In einer Art Trance beobachte ich, wie Sky zaghaft einen Fuß vor den anderen setzt, als wäre sie nicht vollständig überzeugt, dass ihr die eigenen Augen nicht bloß einen Streich spielen.
Ich sehne mich nach nichts mehr, als meine Nase in ihrer Halsbeuge zu vergraben und tief einzuatmen. Plötzlich steht sie vor mir.
»Hi«, krächze ich. Meine eigene Stimme kommt mir fremd vor.
»Hi«, wispert Sky zurück. Wie ein graues Tongefäß im Regen füllen sich ihre Augen mit Flüssigkeit.
Mit einem Arm um ihre Taille ziehe ich ihren warmen Körper an meinen. Sie nicht zu berühren, ist keine Wahl, die mein eigener Körper mir lässt. Viel zu lange hat er sich nach ihrer Nähe gesehnt.
Ich bin ihrem Ruf in die Tiefe gefolgt. Im grenzenlosen Schwarz der Ungewissheit hat sie auf mich gewartet – meine Sirene. Dank ihr habe ich mich der Dunkelheit gestellt, mich ihr ergeben. Mein Herz kennt keine Furcht mehr, denn Sky hat mich ans Licht geführt. Wie nach meinem Sprung in diesen Hotelpool vor zwölf Jahren breche ich durch die Oberfläche und finde ihr Gesicht auf der anderen Seite. Gott, ich liebe sie.
»Ich kann nicht fassen, dass du wirklich hier bist«, flüstert Sky. Ihre Lippen kitzeln meine Ohrmuschel, als sie spricht, und hüllen meinen Körper in Gänsehaut. »Ist das etwa der Beginn einer wunderbaren Fernbeziehung?«
Sachte hauche ich ihr einen Kuss auf die Seite ihres Halses. Skys Puls flattert hektisch unter meinen Lippen.
»Wir finden einen Weg, zusammen zu sein. Davon hab' ich vor zwölf Jahren geträumt«, wispere ich gegen ihre weiche Haut. »Und ich denke, ein Teil von mir, hat nie damit aufgehört.«
Überschwänglich wirft mir Sky die Arme um den Hals.
»Ich hab genug von Träumen, Wy. Ab jetzt will ich leben – und ich will es nur mit dir.«
Hello :-) Morgen kommt das allerletzte Kapitel, bzw. der Epilog. Dann heißt es Abschied nehmen.
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