Windstärke 29 | Rock
Meine Augen wandern zur Beifahrerseite, wo Sky eben noch gesessen hat, bevor sie wortlos im Haus meiner Eltern verschwunden ist.
Sie war mein Weg aus der Abwärtsspirale, mein goldenes Ticket. Mit ihr hätte ich mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen können und entgegen Wyatts Mutmaßung, tut es mir sehr wohl weh, sie zu verlieren.
Dass ich Franny nie vergessen konnte, bedeutet nicht, dass ich mich nicht in Sky verliebt habe. Und dass ich bei ihr nie den ganz großen Knall gespürt habe, heißt nicht, dass ich gar nichts gespürt habe.
Wyatt und Sky mögen ineinander den Regenbogen am Mitternachtshimmel gefunden haben. Aber auch wir hatten eine Verbindung.
Ich umklammere das Lenkrad noch immer so fest, als hätte mich jemand mit der Heißklebepistole angeleimt. Zeit loszulassen – das Lenkrad und meine Fantasievorstellung von einem Neuanfang.
Mein Bruder ist nicht der Einzige, der heute vor einem Scherbenhaufen stand. Und genau deshalb kann ich unsere letzten Worte zueinander so nicht stehenlassen.
Ich nehme mein Handy von der Mittelkonsole. Es liegt zehnmal schwerer als sonst in meiner Hand. Der Bildschirm ist auf volle Helligkeit eingestellt – wäre das ein Dracula-Film, würden meine Augäpfel explodieren und als kreischender Fledermausschwarm in den Himmel aufsteigen.
Die Helligkeit schraube ich auf fünfzig Prozent runter und schon befindet sich mein Daumen im Schwebeflug über Wyatts Namen.
Nur, was sage ich, wenn er den Anruf entgegennimmt?
Dass unsere Beziehung vielleicht nie mehr dieselbe sein wird und mich diese Tatsache bei allem, was heute passiert ist, am meisten fertigmacht? Oder dass eine Wünschelrute kein Wasser findet, wenn sie in der Mitte durchgebrochen ist und wir uns deshalb zusammenraufen müssen?
Ein Schatten landet auf mir, als wäre die Sonne von einer gigantischen dunkelgrauen Gewitterwolke verdeckt worden. Neben meinem Kopf klopft es an der Fensterscheibe und ich zucke zusammen.
Wer zur Hölle ...?
Wyatts Oberkörper füllt Hals abwärts den Rahmen des Beifahrerfensters aus. Die Ärmel seines Hemdes sind zum Ellenbogen hochgekrempelt.
Scheinbar haben ihn dieselben Gedanken geplagt.
Erleichterung durchflutet mich vom Scheitel zu den Zehenspitzen. Ich entlasse einen langen zittrigen Atemzug, öffne die Tür und stolpere aus meinem Wagen.
»Hey«, hauche ich und lehne mich seitlich gegen das erhitze Metall.
»Hey«, gibt mein Bruder im selben Tonfall zurück.
»Ich wollte dich eben anrufen.«
Wyatt nickt langsam. Seine Augen sind blutunterlaufen.
»Rocky, ich wollte das alles nicht.« Mein Bruder schluckt hörbar. »So können wir nicht auseinandergehen.«
Weil jeder gemeinsame Moment der letzte sein könnte und er auf die harte Tour lernen musste, dass diese Redensart der Wahrheit entspricht – aber den Teil lässt er weg.
Ich lege Wyatt die Hand um den Nacken und ziehe ihn an meinen Brustkorb, was bei unserem Größenunterschied ulkig aussehen dürfte. Aber wen juckt's?
»Fuck, Wy, zwischen uns hat sich so viel angestaut. Ich kapier' nicht, was passiert ist.« Wir hocken uns nebeneinander auf den Bordstein. »Denkst du wirklich, Sky ist mir egal, bloß weil ich noch ein Stück weit in meiner Vergangenheit mit Franny festhänge?«
Wyatt entlässt einen schwerfälligen Atemzug.
»Nein und ich weiß, es war nicht fair, das zu sagen. Zumal dir deine Ex gar nicht die Möglichkeit gegeben hat, mit euch abzuschließen.«
»Es war echt hart, Sky und dich so zu sehen«, sage ich. Wyatts Lider sind nach unten gerichtet. Er beißt sich so hart auf die Unterlippe, dass seine Zähne zur Hälfte in rotem Fleisch verschwinden. »Alte Gefühle rosten nicht – glaub mir, ich versteh' das, aber von mir hat sich Sky auch küssen lassen. Ich habe mir Chancen ausgerechnet und du wusstest, dass ich mich für sie interessiere. Mit dem Kuss habt ihr mich verletzt, auch wenn keiner von euch das wollte.«
»Ich weiß, Rocky – und das tut mir wahnsinnig leid.« Wyatt vergräbt das Gesicht in den Händen. »Was für ein scheiß Durcheinander«, knurrt er.
Mein Bruder wirkt gebrochen, er sieht fertig aus und egal, wie wütend ich bin, ich sorge mich um ihn. Wyatt trifft dumme Entscheidungen, wenn er leidet.
Das Blut gefriert in meinen Adern, als ich an Liss' ersten Todestag zurückdenke.
Da hat er sich ein Bad eingelassen, eine halbe Flasche Scotch geleert und ist eingeschlafen. Tate warf sich gegen die verschlossene Badtür, als ich am nächsten Morgen ankam. Ich musste erst die Tür eintreten und dann meinen nackten, halb erfrorenen Bruder aus dem eiskalten Wasser zerren. Sein Kopf war nach vorn geneigt, die feuchten Haare hingen ihm ins Gesicht und kurz dachte ich, er wäre abgesoffen.
Der Schweinehund hat im ersten Moment gar nichts kapiert, als ich ihn in den Wachzustand zurück geohrfeigt habe. Das war einer der schlimmsten Tage in meinem Leben, und ich werde dieses Bild nie wieder aus dem Kopf bekommen.
»Ich mach's wieder gut, Rocky. Das verspreche ich dir«, höre ich Wyatt wie in weiter Ferne sagen und drehe den Kopf in seine Richtung.
»Das musst du nicht«, sage ich, »aber es wäre schön, wenn ich bei einer Sache auf deine Hilfe zählen könnte.« Wyatts Augen schnippen zu meinen hoch. »Ich muss wissen, was Franny von dir wollte. Erzähl mir alles.«
Die Gesichtszüge meines Bruders glätten sich. Damit scheint er gerechnet zu haben. Er räuspert sich.
»Sie hat durch ihren Vater von deinem Unfall erfahren, weil Dad ihm gegenüber die Fresse nicht halten konnte.« Mein Bruder seufzt. »Und er muss ziemlich übertrieben haben, weil Franny völlig fertig aussah. Ihre Hände haben gezittert, sie war blass wie ein Bettlaken. Echt übel.«
Es bringt mir keinerlei Genugtuung, das zu hören. Ich reagiere mit Unverständnis.
»Also war sie bei dir, weil ihr sonst vor lauter Zittern der Hörer aus der Hand gefallen wäre – oder warum hat sie mich nicht einfach angerufen? Meine Nummer ist dieselbe.«
Wyatts Gesicht verzieht sich zu einer Landschaft aus Linien und Gräben, als würde er eine innerliche Schlacht austragen – und verlieren.
»Sie hat mich angefleht, dir nichts von ihrem Besuch zu sagen. Franny ist noch nicht bereit, sich dir und deinen Fragen zu stellen.«
Ich schnaube.
»Nimm's mir nicht übel, Wy, aber wenn's danach geht, warte ich in hundert Jahren noch.« In meinem Frust fahre ich mir mit beiden Händen durch die Haare. »Ich will sie doch nur mal kurz sehen. Von mir aus verstecke ich mich in einem Busch, wenn's sein muss. Aber ich muss sie sehen.« Wyatt mustert mich schweigend, also mache ich weiter: »Das passt doch alles nicht zusammen ... Franny hat uns den Rücken zugekehrt.« Dem Baby und mir. »Mit ihrer ganzen verfickten Freiheit müsste es ihr doch jetzt blendend gehen, oder nicht?«
Wyatts stöhnt auf. Wieder ein verlorener Kampf.
»Das hast du jetzt nicht von mir, aber denselben azurblauen Zweisitzer, mit dem sie bei mir in der Praxis gewesen ist, hab ich in letzter Zeit öfter drüben in Bywater gesehen. In der Chartres Street, nahe der Rusty Rainbow Bridge, wo die neue Werbeagentur eröffnet hat. Möglich, dass sie da arbeitet. Im Crecent Park hab ich sie jedenfalls nicht getroffen, wenn ich mit Tate dort spazieren war.« Wyatts Lippen bilden eine schmale Linie. »Aber falls du da hinfährst, Rocky, bitte–«
»Ich soll mich fernhalten, schon klar«, gebe ich den Kern seiner über uns schwebenden Bitte wieder. »Ich will mich nur vergewissern, ob du sie eventuell bloß an einem schlechten Tag erwischt hast. Vielleicht war sie krank oder so.«
»Sei vorsichtig, okay?« In der Stimme meines Bruders schwimmen mehrere Bedeutungen dieses Satzes mit.
Ich drücke ihm meinen Zeigefinger aufs Brustbein.
»Dasselbe gilt für dich. Kein Scotch in der Wanne. Versprich mir, dass du nicht wieder absackst.« Ich seufze. »Im Moment bin ich vielleicht nicht dein größer Fan, aber ich will trotzdem nicht, dass dir was passiert, klar?«
Mein Bruder schüttelt den Kopf und lässt seinen Blick die Straße hinunter wandern. Weg von mir.
»Das war ein dummer Unfall. Ich hatte nicht vor, einzuschlafen. Das kannst du mir nicht ewig vorhalten.«
»Ein Jahr ist nicht ewig«, sage ich. »Nicht mal annähernd. Wenn wir über neunzig sind, können wir weiterreden.«
Wyatt lacht trocken auf und fährt sich mit der Hand über das Gesicht.
»Ich will bloß nicht, dass du denkst, du musst mich babysitten, damit ich keine Scheiße baue, die mich killt.« Seine Schultern sinken. »An dem Abend hab ich mich allein gefühlt und musste den Kopf ausschalten.«
Ich nicke langsam. Er hat es mir bestimmt tausendmal erklärt und doch zieht sich mein Herz noch immer schmerzhaft zusammen, wenn ich an diesen Tag zurückdenke.
»Aber du bist nicht allein und Stand-By hätte es auch getan.«
»Ich weiß. Danke Rocky ... für alles«, sagt er, bevor sich unsere Augen wieder treffen. Zwei Paar Augen, hinter denen zwei ganz unterschiedliche Seelen wohnen. Und doch werden wir für immer verbunden sein. Über unsere Fehler, die Zeit – und das Leben hinaus.
Oder wie Buzz Lightyear sagen würde: Brüder bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter.
• | • | •
Ich habe vergangene Nacht kaum ein Auge zugetan. Keine optimale Voraussetzung, um stundenlang auf irgendeinem Parkplatz in Bywater herumzulungern.
Um nicht einzuschlafen, habe ich mir meine Lieblingsplaylist runtergeladen und Proviant organisiert.
»Donuts und Kaffee ...« Dad stößt einen Pfiff aus. »Du bist wohl unter die Privatdetektive gegangen?«
Mein Kopf fliegt herum. Das war etwas zu nah an der Wahrheit. Aber Dad wässert weiter seelenruhig Moms Rosenbüsche vor dem Haus und summt vor sich hin. Der ahnt nicht, was ich vorhabe.
Sein heutiges Outfit ist wieder zum Niederknien. Er trägt eines seiner bekloppten kurzärmligen Hemden, diesmal mit Haifisch-Print. Hammerhaie, Tigerhaie, weiße Haie – bestimmt hunderte davon. Dazu trägt er rote Shorts mit Hawaii-Muster. Ich muss grinsen.
»Ne, Wys Boot bekommt heute 'ne Grundreinigung von mir. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, nachdem ich dort gepennt hab.« Dad winkt den Schlauch in die Luft, sodass eine Sekunde lang eine Million Tropfen auf uns herunterregnen. Das Wasser frisst sich direkt in die Box mit den Donuts und weicht die Pappe auf. »Ey!«, motze ich, doch Dad zuckt bloß mit der Schulter.
»Ach, jetzt heul nicht, das war nur 'ne kleine Abkühlung«, sagt er. »Wir sehen uns später, mein Junge.«
Ich starte den Motor und rolle aus der Einfahrt. Von Chalmette bis Bywater in New Orleans sind es ungefähr fünfzehn Minuten. Meine Herzfrequenz schießt durch die Decke, als ich mein Ziel erreiche und im Schritttempo von der Chartres Street auf die schmale Einfahrt zu einem länglichen asphaltierten Parkplatz abbiege. Die Parklücken sind rechts und links von einer Mittelspur aufgereiht wie an einer Perlenkette.
Ich entscheide mich für die allerletzte Lücke auf der linken Seite, direkt neben dem Aufgang zur Rusty Rainbow Bridge und der hinteren Zu- oder Ausfahrt. So ist im Notfall meine Flucht garantiert.
Bisher kann ich auf dem viertelvollen Parkplatz keinen azurblauen Zweisitzer entdecken, wir haben es aber auch erst sieben Uhr dreißig. Der Tag ist noch jung.
Die erste Dreiviertelstunde starre ich in der Gegend herum und beginne, mit den Händen den Rhythmus meiner Lieblingssongs auf dem Lenkrad mitzutrommeln.
Nach weiteren fünf Minuten sind zwei von vier Donuts weg inhaliert, nochmal zwei Minuten später alle vier.
Schnell komme ich an den Punkt, wo ich es hier drin nicht länger aushalte und entscheide, mir die Beine zu vertreten. Ich umrunde den Wagen und öffne die Beifahrertür. So kann ich mich jederzeit hinter dem Auto verstecken und unbemerkt hineinspringen, falls ich Franny kommen sehe.
Leider habe ich meine Rechnung ohne den Rest der Menschheit gemacht, denn plötzlich knirschen Schritte hinter mir. Bitte lass das nicht meine Ex-Freundin sein.
Ich versuche, locker stehenzubleiben und mich nicht auffällig zu verhalten.
»Sir?«
Eine tiefe, leicht kratzige Stimme hallt über den Parkplatz und für einen Moment befürchte ich, dass einer der anderen Fahrzeugbesitzer einen herumlungernden Mann bei der Polizei gemeldet hat und die mich jetzt einsammeln wollen.
Ich atme kurz und tief durch, um möglichst entspannt rüberzukommen, als ich mich umdrehe.
Keine Polizei – Gott sei Dank.
Stattdessen steht mir ein Typ in meinem Alter gegenüber, der sich vom Aussehen her ohne Weiteres als verschollener Hemsworth-Bruder ausgeben könnte. Er hat sich eine Art Babytrage umgebunden, über die oben der hellblonde, spärlich behaarte Schopf eines Säuglings herauslugt. Er schiebt einen Buggy vor sich her. Das schwarze Verdeck ist bis zum Anschlag runtergezogen, sodass nur die Beine eines weiteren Kindes unten raushängen.
Der Typ hat Superkräfte. Er ist der scheiß Sandmann – die Daddy Edition.
»Hey, brauchen sie Hilfe?«, frage ich freundlich, da er mich bestimmt nicht umsonst angesprochen hat.
»Ähm, also offen gestanden ...« Der Mann beißt sich auf die Unterlippe. »Das ist mir jetzt super unangenehm, aber wäre es möglich, dass ich mit Ihrem Handy meine Frau anrufe? Sie rechnet längst mit uns, aber die Jungs sind gerade erst eingeschlafen und ich will sie nicht wecken. Die beiden waren fast die ganze Nacht wach.«
Zur Sicherheit blicke ich mich noch einmal auf dem Parkplatz um. Die Luft ist rein und ich ziehe das Handy aus der Gesäßtasche meiner Jeans.
»Muss Ihnen nicht unangenehm sein.« Ich halte es ihm hin. »Bitte sehr.«
Der Fremde lächelt dankbar.
»Sie sind mein Retter, Mann. Das vergesse ich Ihnen nie«, sagt er und beginnt, die Nummer seiner Frau einzutippen. Respekt, ich kann mir nicht mal meine eigene merken.
»Hey Baby«, säuselt er nach einer kurzen Wartezeit in die Sprechmuschel und auch, wenn mein Liebesleben momentan eine Vollkatastrophe ist, muss ich grinsen.
Gleichzeitig sticht mir aus dem Augenwinkel ein bläulicher Farbtupfer ins Auge.
Superdad hat mich abgelenkt und ich habe den kleinen Flitzer nicht auf den Parkplatz rollen sehen.
Oh, Fuck! Franny – sie ist es!
Die messerscharfen Enden ihres Bobs schwingen, als sie abrupt von Stadtgeschwindigkeit auf Schritttempo drosselt. Kleine Verkehrssünderin – manche Dinge ändern sich nie. Francine war hinter dem Steuer schon immer zu schnell unterwegs. Als Beifahrer war ich permanent darauf gefasst, dass mein Kopf gleich gehen das Armaturenbrett prallt.
Langsam rollt Franny an uns vorüber. Ihre Augen sind hinter einer gigantischen Sonnenbrille verschwunden.
Entweder hat sie mich noch nicht gesehen oder längst aus ihrer Erinnerung verbannt, während sie in meiner ihren Zweitwohnsitz eingerichtet hat – inklusive eigenem Briefkasten.
Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen. Der Vater der beiden kleinen Jungen ist noch immer in ein Telefonat mit seiner Frau verwickelt und gerade verfluche ich mich dafür, ihm mein Handy geliehen zu haben.
Vorsichtig spähe ich über meine Schulter, in der Hoffnung, dass meine Ex sich eine Parklücke gesucht hat, ausgestiegen ist und mich von hinten nicht erkannt hat.
Selbstverständlich ist das Gegenteil der Fall.
Sie hat ihren Wagen mitten auf dem Parkplatz angehalten und die Fahrertür geht auf.
»Oh Scheiße«, zische ich, was Superdad neben mir mit gerunzelter Stirn zur Kenntnis nimmt. »Ich muss dringend weg. Legen Sie das Handy dann aufs Dach oder so, keine Ahnung.«
Aus dem Stand jogge ich los, an ihm vorbei und die Stufen der Rusty Rainbow Bridge hinauf.
»Wo wollen Sie denn hin?«, brüllt er mir hinterher. Aber ich erklimme die steile rostbraune Bogenbrücke ohne zurückzublicken – immer zwei Stufen gleichzeitig – und flüchte auf der anderen Seite in den länglichen Crescent Park am Mississippi-Ufer.
Als ich das Wasser erreiche, muss ich meine Hände auf den Knien abstützen. Ich keuche wie ein achtzigjähriger Kettenraucher und dabei nehme ich den Ausblick auf die Skyline New Orleans nur schemenhaft wahr. In erster Linie versuche ich, nicht zu verrecken.
Als sich meine Atmung langsam beruhigt, stelle ich fest, dass ich auf dem Piety Wharf gelandet bin, einem beinahe quadratischen Platz mit Bänken und Plattformen aus rötlichem Beton. Ein paar Skater düsen ratternd über den mit Holz ausgekleideten Boden zu meinen Füßen, ansonsten bin ich hier allein.
Erschöpft und um die zehn Jahre in zehn Minuten gealtert, sinke ich auf einen der harten Betonblöcke, die als Sitzgelegenheiten dienen und lege mich der Länge nach darauf. Soll man nicht machen nach einem anstrengenden Lauf. Scheiß' ich gerade drauf.
Es tut gut, durchzuatmen und für den Moment keine Körperspannung aufrechterhalten zu müssen. Gleichzeitig wird mein Gehirn wieder ausreichend mit Sauerstoff versorgt und mir wird bewusst, was gerade passiert ist.
Ich habe einem Wildfremden mein Smartphone in die Hand gedrückt und das Auto meiner Eltern unverschlossen zurückgelassen.
In einer abrupten Bewegung setze ich mich senkrecht auf. Ich bin ein Idiot. Dad wird mich killen.
Der Typ, dem ich mein Handy geliehen habe, hat anständig gewirkt und ich glaube nicht, dass er neben der Kinderbetreuung hauptberuflich Autos klaut und auf dem Schwarzmarkt vertickt. Das heißt aber nicht, dass es auch kein anderer tut.
Ich muss zurück. Es nützt nichts.
• | • | •
Eine schwarze Limousine rollt an mir vorbei, als ich den Parkplatz erreiche und mich nach einem azurblauen Fleck in der Landschaft umsehe.
Franny hat ihren Wagen ordentlich am Rand eingeparkt, von ihr fehlt jede Spur. Mein Kopf wippt zur Seite und ich atme auf. Den SUV meiner Eltern finde ich noch genau da, wo ich ihn zurückgelassen habe.
So weit, so gut und jetzt weg hier.
Ich lasse mich in den Fahrersitz gleiten und finde mein Handy auf dem Beifahrersitz wieder. Superdad hat meine Dummheit nicht ausgenutzt.
»Das war mehr Glück als Verstand«, murmle ich ins Innere des Wagens.
»Kannst du laut sagen«, erreicht mich von hinten eine weibliche Stimme. Meine Augen schnippen zum Rückspiegel und mir entkommt ein schriller Schrei.
»Ahhh!«
Abwehrend hebt die blinde Passagierin auf meiner Rückbank die Hände.
»Ich bin's nur, Rocky.« Langsam stellt sich meine Sicht scharf und ich sehe, wer es ist. »Franny ... Weißt du noch?«
»Was machst du in meinem Auto?«, krächze ich und beobachte schweigend, wie sie ihren zierlichen Körper durch die Mitte manövriert und in den Beifahrersitz klettert. Sie riecht nach frisch gewaschener Wäsche und verpufften Träumen.
»Du klingst immer noch wie ein fünfjähriges Mädchen, wenn du kreischst«, sagt sie, statt meine Frage zu beantworten. Dabei stiehlt sich ein zaghaftes Lächeln auf ihr blasses, eingefallenes Gesicht.
Ich erkenne sie kaum wieder.
Womöglich werde ich deshalb nicht von einer Welle der Wut mitgerissen.
Vielleicht will ich ihr deshalb nicht die Hände um die Gurgel schlingen und zudrücken.
Weil sie zerbrechen würde wie ein verdammtes Streichholz.
»Franny, wie ...« Ich kneife kurzzeitig die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffne, ist sie noch immer da und nicht nur das Ergebnis meiner Vorstellungskraft. Die Worte fehlen mir. »Bist du okay?«
Sie schaut aus dem Fenster, während sich in meiner Kehle vom Gefühl her ein faustgroßer Kloß bildet.
»Es geht, ich habe nur Gewicht verloren.« Sie schüttelt den Kopf. »Und was ist mit dir? Warst du zufällig in der Gegend oder ...?«
»Was denkst du denn?« Unsere Augen treffen sich einmal mehr. »Wyatt hat mir mit seiner Version deines Besuchs einen ziemlichen Schreck eingejagt. Ich musste es mit eigenen Augen sehen. Du kennst mich ja.« Ich zucke mit der Schulter. »Erbarmungslos, wenn es um dich geht.«
Francine schlingt die Arme um sich selbst. Es kostet mich all meine Willenskraft, diese nicht durch meine zu ersetzen. Scheiß Gewohnheit. Mein Körper hat den abrupten Entzug nicht verarbeitet und reagiert wie früher.
»Nach all der Zeit noch«, flüstert sie.
Meine Augen brennen sich in ihre.
»Wäre vielleicht einfacher gewesen, wenn du ordentlich mit mir Schluss gemacht hättest. Ist nur so 'ne Idee. Ich hab dich geliebt, weißt du?«
Ihre Unterlippe bebt, als sie nickt. Aber ich muss hart bleiben. Ich kann diese Frau nicht wieder an mich heranlassen.
»Ich dich auch – und das weißt du.«
Ich schmiege die Seite meines Gesichts gegen die Kopfstütze.
»Keine Ahnung, was ich weiß. Was ich sehe, passt irgendwie nicht zu deinem Abgang damals. Müsstest du jetzt nicht glücklich sein ohne–«
»Dich?«, fragt sie vorsichtig.
»Uns«, sage ich. Mein ganzer Schmerz sickert in das Wort, all die aufgestaute Wut und Verzweiflung der letzten Jahre. Dabei ist es kaum lauter als ein Flüstern.
»Nein«, krächzt sie. »Seit ich euch verloren hab, bin ich keinen einzigen Tag glücklich gewesen.« Ich schaue sie ungläubig an. Franny wischt die einzelne Träne auf ihrer Wange hastig weg. »Ich musste ein totes Kind gebären und hab die Liebe meines Lebens weggestoßen.« Haselnussbraune Augen wandern überallhin, nur nicht zu mir. Ich verstehe nichts. »Es war ein Unfall und mich trifft keine Schuld«, sagt sie. Der Rhythmus und ihr Tonfall lassen den Satz einstudiert klingen. Als hätte sie sich die Worte wieder und wieder gesagt, wie ein Mantra. »Es war ein Unfall.«
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