
Windstärke 26 | Wyatt
Teil 1/3 des heutigen Uploads
Dieses und die nächsten zwei Kapitel gehören zusammen, daher will ich sie nicht getrennt hochladen.
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Um mich herum explodieren Geräusche. Ganz plötzlich. Einfach so. Dabei hat bis eben Totenstille geherrscht.
Nerviges Bellen.
Markerschütterndes Schrillen.
Von null auf hundert. Mein Herz rast, ist im Alarmmodus. Was passiert hier?
Ich schaffe es nicht, die Lider zu heben, bis es mir nach ungefähr hundert Versuchen doch gelingt.
Die Seite meines Gesichts klebt an einem weichen flachen Kissen in weißer Bettwäsche, die nach mir riecht. Mein langer Körper ist auf einer mittelharten Matratze ausgestreckt.
Ich bin in meinem Bett, das ist mein Haus. So weit, so gut.
Tate landet mit einem dumpfen Knall Pfoten voran auf dem Holzparkett und stapft zur Tür, seine Nägel verursachen etwas zwischen einem Kratzen und einem Klacken auf dem Bodenbelag. Mit der rechten Pfote schabt er an meiner Schlafzimmertür, während das Sturmklingeln anhält.
»Ich komme ja«, knurre ich niemanden bestimmten an und schnappe mir im Vorbeigehen meine Jeans vom Fußende des Bettes, die ich mir am obersten Treppenabsatz überziehe. Nach ein paar Stufen versuche ich, durch die längliche Milchglasscheibe der Eingangstür zumindest die Größe und Statur des oder der morgendlichen Besucher einschätzen zu können.
Mir begegnen Silhouetten in allen Farben des Regenbogens und es fällt mir wie Schuppen von den Augen. Shit. Ich habe Rocky, Sky, Cass und Kendra zum Frühstück eingeladen – und verschlafen.
Automatisch wünschte ich, dass ich am Abend zuvor nicht so viel Scotch getrunken hätte. Auch wenn ich ohne die bernsteinfarbene Flüssigkeit niemals eingeschlafen wäre.
Skys Gesichtsausdruck, als ich mit ihrem Bikini auftauchte, hat mich in meine Träume verfolgt – und nicht so, wie ich es mir gewünscht hätte. Ihr ganzes Gesicht fiel in sich zusammen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, die Nadel des Emotions-Barometers zitterte irgendwo zwischen Verwirrung und Entsetzen.
Jahrelang habe ich ihren Bikini auf dem Dachboden verborgen gehalten wie einen Piratenschatz. Nicht einmal Liss wusste davon. Sie wäre ausgerastet, hätte ihn verbrannt – und mir den Anschiss meines Lebens verpasst.
Aber mehr als das Bisschen Stoff von der Wäscheleine ihres Hotelbalkons war mir von Sky nicht geblieben. Ihn wegzuwerfen war nie eine Option für mich gewesen.
Ich erinnere mich noch genau, wie aufgeregt ich am Tag unserer geplanten Verabredung gewesen war. Allein mein Hemd zuzuknöpfen hatte bestimmt dreißig Minuten gedauert und dann kam zu allem Überfluss Liss ins Zimmer geschlendert.
»Mit Hemd heute – schick, Byrne. Sehr schick«, flötete sie und warf sich auf mein Bett. »Wo soll's denn hingehen?«
Seit sie in unser Nachbarhaus gezogen war, hatte Liss wiederholt meine Nähe gesucht und sich im Prinzip selbst auf diesen Ausflug mit meinen Freunden Jax, Emilio und Sophia eingeladen, die sich leider nicht dagegen ausgesprochen hatten. Deshalb war ich nicht sicher, ob ich die Wahrheit mit ihr teilen sollte.
»Ja, weißt du, ich hab doch ein Date nachher«, sagte ich, kurz und schmerzlos wie das Abreißen eines Pflasters.
»Ah, die Sportliche mit den tollen Haaren.« Liss legte sich nachdenklich den Zeigefinger über die Lippen. »Aber sag mal, ist die nicht in der Nacht abgereist? Ich könnte schwören, dass–«
Den Rest des Satzes hörte ich nicht mehr und stürzte in langen Schritten zur Balkontür, die ich unsanft aufriss. Ich schlang alle zehn Finger um die Metallreling und beugte mich vorn über, um auf den Balkon schräg unter unserem zu spähen.
»Ihr Bikini ist noch da, unten auf dem Wäscheständer«, rief ich Liss über meine Schulter hinweg entgegen, als mir ihr fruchtiges Parfüm in die Nase stieg. Ich hatte sie nicht einmal kommen hören.
»Mag sein, aber ich konnte nicht schlafen und hab sie mit ihrer Mom Koffer ins Auto laden und davon düsen sehen.«
Schlagartig fuhr ich zu ihr herum, sodass sie ein, zwei Schritte zurückstolperte, bevor sie die Schultern wieder straffte.
»Was?«, zischte ich mein Gegenüber an, viel harscher, als Liss es verdient hatte und für den Bruchteil einer Sekunde huschte sowas wie Verletzlichkeit über ihr Gesicht. Aber sie fing sich schnell wieder.
»Was meinst du mit: ›Was‹?« Liss hob eine schmale dunkelblonde Braue. »Meiner Zeugenaussage von eben ist nichts hinzuzufügen.«
Ich verringerte die Distanz zwischen uns.
»Und da bist du nicht auf die Idee gekommen, mich zu wecken?«
Liss warf die Hände in die Luft.
»Sag mal, geht's noch? Woher sollte ich denn bitte wissen, dass sie dir das Detail ihrer Abreise vorenthalten hat? Habt ihr denn keine Nummern getauscht?«
Ich vergrub beide Hände in meinen Haaren und zog ruppig an den damals schulterlangen Strähnen. Den Hauch von Schmerz, das Brennen meiner Kopfhaut, brauchte ich manchmal, um mein Temperament zu zügeln.
»Nein«, knurrte ich zurück, griff mir mein Kopfkissen vom Bett und brüllte hinein: »Fuuuuuck!«
Wann genau Liss daraufhin mein Zimmer verlassen hatte, konnte ich nicht sagen. Ich war allein, als ich mich wieder beruhigt hatte und nach ihr umblickte. Damals ahnte ich nicht, dass ich diese Frau Monate später um ein erstes Date bitten würde – und kletterte auf Skys Balkon hinunter.
Heute Morgen bin ich schon froh, dass ich es die Treppe hinunter geschafft habe.
Unten hängt ein getragenes T-Shirt über dem Holzgeländer. Ich knülle die graue Baumwolle zwischen meinen Händen zusammen und drücke mir das Bündel ins Gesicht. Es riecht, als hätte ich mich darin in einem Puma-Gehege gewälzt. Sieht aus, als müsste ich meine Gäste Oberkörper frei begrüßen.
Ich lege eine Hand um die Klinke, durch die Nase fülle ich meine Lungen mit dem längsten Atemzug aller Zeiten, bis sich mein Brustkorb auf doppelte Größe weitet.
»Sieh an, es lebt«, reißt ausgerechnet mein Bruder als erster das Maul auf, als ich schwungvoll die Eingangstür öffne. Genau, was ich jetzt brauche.
Ich lehne die Seite meines Oberkörpers gegen die Holzkante des Rahmens.
»Entschuldigt bitte, ich hab verpennt.«
Cassidy mustert mich von oben bis unten. Ihre Stirn liegt in Falten.
»Jesus, Wy, wer hat dich durch den Fleischwolf gedreht und danach mit einem Vierzigtonner überfahren?«
Innerlich rolle ich meine Augen einmal zum die eigene Achse. Hat heute jeder einen dummen Spruch auf Lager?
»Hallo, Wy«, trällert Kendra, der scheinbar das Interesse an langweiligen Erwachsenengesprächen fehlt, und schiebt sich an mir vorbei ins Haus. Wenigstens Eine, die weder meinen Zustand noch die Tatsache, dass ich verschlafen habe, kommentieren muss.
Das Getrappel ihrer Schritte wird leiser und mir fällt ein, dass sie Tate hier unten nicht finden wird, weil ich vergessen habe, ihn die Treppe hinunterzutragen.
»Hey Kendra, Tate ist noch oben. Kannst du ihn für mich retten gehen? Das wäre lieb.«
»Okay, mache ich«, trällert die Kleine zurück. Die halbe Treppe hat sie bereits erklommen. Mein Mopsrüde erwartet sie auf dem obersten Absatz.
»Danke. Und schön vorsichtig beim Abstieg.«
Ich wende mich meinen anderen drei Gästen zu und versuche, mit den Augen nicht an Sky hängenzubleiben, die ihre sanften Kurven heute in ein waldgrünes, enganliegendes Kleid mit Spaghettiträgern gehüllt hat. Die Farbe bildet einen genialen Kontrast zum Rotschimmer ihrer offenen Haare.
»Dürfen wir auch rein, oder ...?« Den Rest des Satzes lässt Rocky in der Luft hängen. Mein Bruder tritt heute bissig auf. Der Tag fängt richtig gut an.
Ich drücke die Tür so weit auf, wie es die Verankerung zulässt. Rocky rollt mit den Augen und setzt sich als Erster in Bewegung. Cassidy folgt ihm seufzend, sodass nur noch Sky und ich zurückbleiben.
Zum ersten Mal heute hebe ich die Lider zu ihrem Gesicht, ihren Augen, die hektisch zwischen meinen hin- und her huschen, als wüsste sie nicht, wo sie hinsehen soll. Fuck, habe ich sie mit dem Bikini-Vorfall so verstört?
»Morgen«, murmelt sie kaum hörbar und verschwindet ebenfalls im Inneren meines Hauses, obwohl ich gern kurz mit ihr darüber geredet und mich entschuldigt hätte. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr und den anderen in mein Wohnzimmer zu folgen.
»Macht euch den Fernseher an oder setzt euch in den Garten«, schlage ich vor, damit sie die Zeit zum Frühstück überbrücken können, das ich noch zubereiten muss. »In zwanzig Minuten sollten die Pancakes fertig sein. Fühlt euch wie zu Hause.«
Cassidy streicht sich eine dunkle Strähne hinters Ohr, die sich aus ihrem hohen Pferdeschwanz gelöst hat.
»Brauchst du Hilfe oder–«
»Nein, alles gut, das geht schnell«, unterbreche ich sie. »Und du weißt ja: Viele Köche verderben den Brei.«
Sie schiebt die Unterlippe hervor und im selben Moment rollt ein zerfledderter roter Stoffball zwischen unseren Füßen über das Parkett.
Cassidys Lippen verziehen sich zu einer schmalen Linie, als sie zunächst das Hundespielzeug und dann Kendra betrachtet.
»Süße, keine Bälle im Haus«, richtet sie das Wort an ihre Tochter. »Das weißt du doch.«
»Das Teil wiegt doch nichts, was soll denn da passieren?«, mischt Rocky sich ein, der es sich in der Zwischenzeit auf meinem dunkelgrauen Ecksofa gemütlich gemacht und seinen gesunden Arm locker auf der Lehne abgelegt hat. »Komm, wir spielen 'ne Runde mit dem alten Lümmel, bevor er wieder einpennt.«
»Seid einfach vorsichtig, okay?«, werfe ich in die Runde und verschwinde nebenan in der Küche.
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Die letzten drei Pancakes brutzeln geräuschvoll in meiner XXL-Pfanne vor sich hin, die anderen habe ich zu einem ordentlichen Turm übereinander gestapelt. Gleich dürfen wir uns alle am Esstisch gegenübersitzen. Jippy fucking Yay.
Vom Wohnzimmer her dringen Musik, Stimmen und Gelächter zu mir in die Küche, aber dann wird die friedliche Geräuschkulisse durch ein lautes Klirren unterbrochen. Plötzlich herrscht bis auf das Zischen und Knistern der Pfanne gespenstige Stille. Ich drehe die Herdplatte ab.
Ein flaues Gefühl schwappt über mich hinweg – ich besitze keine Vasen, Dekoschalen und wenn doch, dann stehen sie nicht in meinem spärlich dekorierten Wohnzimmer herum. Nichts Zerbrechliches bis auf ...
Die Erkenntnis trifft meinen Hinterkopf mit der Wucht eines Baseballschlägers.
Bitte nicht!
Nein. Nein. Nein.
NEIN!
Ich stolpere über meine eigenen Füße und stürze ins Wohnzimmer, wo ich zu einer Salzsäule erstarre.
Mein Blick fällt auf Sky, die mein Hochzeitsfoto in den Händen hält. Zu ihren Füßen ist die schlichte weiße Keramik-Urne meiner Frau in eine Million Scherben zersprungen, die inmitten ihrer Asche auf dem Boden verstreut sind.
In meinen Augenhöhlen prickelt es, als ich das Bild verarbeite.
»Ich ... ich ...« Skys Brustkorb wird von mehreren herzzerreißenden Schluchzern erschüttert. Dabei kann ich mir nicht vorstellen, dass ausgerechnet sie Tates roten Spielball gegen das kleine Hängeregal geworfen hat, auf dem er neben Liss' hölzerner Lieblingsschatulle mit unseren Eheringen zum Liegen gekommen ist. Nach seinem Spruch vorhin habe ich eher Rocky in Verdacht.
Ich falle vor meiner Frau auf die Knie, vor dem grauen Pulver, das von ihr übrig geblieben ist. Tränen verschleiern mir die Sicht. Sie tropfen von meinem Kinn, um sich als dunkle Flecken auf ihrer Asche zu sammeln.
»Wy, ich wollte das nicht«, krächzt mein Bruder, doch gerade kann ich mich nicht mit ihm auseinandersetzen. Mit seinen Schuldgefühlen, die ihn hoffentlich von innen heraus auffressen werden.
Wie konnte er Liss so etwas antun? Warum ist er so verdammt leichtsinnig?
Sky geht auf der gegenüberliegenden Seite des Aschehäufchens vor mir in die Knie und reicht mir schweigend das Schmuckkästchen meiner Frau.
Meine Hände zittern, als ich den mit einer schnörkeligen Schnitzerei versehenen Deckel hebe. Das Scharnier knarzt. Weitere Tränen tropfen hinein und sickern in den roten Samt, mit dem die Schatulle ausgekleidet ist.
Zwei einfache goldene Ringe liegen darin, die sich einst an unseren Fingern befanden. Irgendwann, als ich noch glaubte, Liss und ich würden zusammen alt werden.
Sie starb zu früh und damit endete auch mein Leben, wie ich es kannte.
»Wollen wir sie fürs Erste hier drin aufbewahren?«, erkundigt sich Sky vorsichtig.
Ich nicke hektisch, während immer neue Tränenbahnen aus meinen Augen quellen.
Sie nimmt die Ringe heraus, drückt sich in den Stand hoch und legt beide mit einem sanften Klacken auf demselben hölzernen Hängeregal ab, auf dem eben noch meine Vergangenheit ruhte.
Ich schaffe es noch immer nicht, Rocky in die Augen zu sehen, während ich die Asche meiner Frau in mehreren Durchgängen und samt Scherben mit beiden Händen in das Schmuckkästchen rieseln lasse.
»Vielleicht ...« Sky hält inne und ich klappe den Deckel zu. Sanft drückt sie meinen Unterarm. »Hast du mal überlegt, ihre Asche an einem schönen Ort zu verstreuen? Irgendwo, wo es ihr gefallen hätte?« Ihre Asche verstreuen? Sie gehen lassen? Mich endgültig von Liss verabschieden? »Bei meinem Vater hat es mir geholfen, ihn ins offene Meer zu entlassen, einfach weil ich wusste, dass ihm das gefallen hätte«, fährt sie fort. »So hab ich mich ihm näher gefühlt. Irgendwie.«
»Sie mochte die Sümpfe, Wy.« Rocky taucht neben uns auf. »Wollte sie dich nicht mal zu einem Ausflug in so einem Hochgeschwindigkeits-Luftkissenboot überreden?« Mein Bruder geht neben mir in die Knie. »Du könntest ihr diesen Wunsch erfüllen. Dad kennt da jemanden, der–«
Unsere Augen treffen sich und er hält inne.
»Wir machen es«, sage ich, bevor ich es mir anders überlegen kann. Meine Frau wollte mit Sicherheit nie in einer Box voller Scherben enden und ich kann Liss nicht ewig auf einem Podest in meinem Haus gefangenhalten. Einem Schrein.
»Ich kümmere mich drum.« Mein Bruder springt auf die Füße. »Liss bekommt ihr heiß-geliebtes Schwemmland – und du deinen Abschied. Das verspreche ich dir.«
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