Windstärke 23 | Sky
WYATT.
Dieser Name. Seine Stimme. Er.
Warum passiert mir sowas? Jahrelang habe ich mir gewünscht, er würde plötzlich vor mir stehen.
Am Flughafen irgendwo oder in einem bekackten Supermarkt. Ich habe sogar mal geträumt, dass er nachts durch mein offenes Fenster zu mir ins Zimmer gestiegen kommt.
Aber in keinem – wirklich keinem – Szenario ist er der Bruder des Mannes gewesen, den ich date. Oder, in Rockys Fall, nicht date. Wobei das auch nicht ganz stimmt.
Gott, was für ein riesengroßer Haufen Scheiße mit Sahnehäubchen und Kirsche obendrauf.
Aus dem Augenwinkel blinzle ich zu ihm rüber, meinem Sturmjäger von früher.
Er kaut nicht auf seiner Unterlippe herum, er zerbeißt sie wie einen Hundeknochen. Das rechte Knie lässt er derartig schnell auf und ab wippen, dass die Vibration der Karosserie mein Bein dazu zwingt, sich derselben Bewegung anzuschließen.
Ausgesprochen hat es keiner von uns.
Hey du, ich weiß, wie du schmeckst. Ich hab durch deine Augen ins Universum gesehen und das Licht deiner Seele gefunden.
So ist das, wenn man jung ist. Alles wirkt so verdammt intensiv. Als wären wir in der Schicksalsschmiede speziell füreinander angefertigt worden. Sonderedition. Erstausgabe.
Und dann, Jahre später, kommt Rocky in mein Leben gedüst. Mein Chaos-Pilot. So locker. Endlos frei. Zumindest lässt er es so aussehen.
Er hat mich wieder lachen lassen, ich habe ein fettes, saftiges Stück vom Leben gekostet.
Dann haben wir uns besser kennengelernt, sind zusammen in den Abgrund hinuntergestiegen – und in der Realität angekommen.
Wyatt hingegen ist ein Traum, von dem man am Morgen danach zu sehr und gleichzeitig nicht mehr genug weiß – schwer zu fassen, wie das Motiv auf der Innenseite seines Handgelenks. Der perfekte Sturm, eine Spirale.
Vor Jahren haben meine Lippen dieselbe Stelle berührt. Den Rhythmus seiner Arteria radialis spüren sie bis heute. Die Erinnerung ist so real – oder surreal? Eine Art Phantompuls.
Dann lag mein Mund auf seinem, Wyatts Körper umgab mich wie ein Kokon. Alles an ihm schrie Mann, während ich mich fühlte, als wäre ich gerade mal fünf Minuten eine Frau gewesen.
Vielleicht hat er sich deshalb nie wieder bei mir gemeldet. Oder hatte sich die Sache mit uns erst für ihn erledigt, als ich unsere Verabredung absagen musste?
Dabei war es nicht meine Schuld, dass Mom darauf bestanden hatte, Oklahoma wegen einer nahenden Unwetterfront noch in derselben Nacht zu verlassen. Und das habe ich ihm in meinem Brief auch erklärt.
Ich weiß noch, wie mich der plötzliche Klang einer weiblichen Stimme hochschrecken ließ, als ich drei Uhr morgens den Zettel unter seiner Tür durchschieben wollte.
»Es ist so schön, dass Wy endlich eine Frau getroffen hat, für die er sich länger als zehn Minuten interessiert«, sagte sie. »Ich bin übrigens Liss.« Langes honigblondes Haar, ein schneeweißes Schlaf-T-Shirt, das ihr bis zu den Knien reichte und eine kleine Wasserflasche in ihrem Griff – sie war mir schon am Pool aufgefallen, als ich sie hinter Wyatt auf dem Balkon stehen sah, zusammen mit ein paar anderen. »Wenn du den da durch schiebst–« Mein Gegenüber deutete auf das zweifach gefaltete A5-Blatt in meiner Hand, das zur Hälfte schon unter dem Türspalt verschwunden war. »Na ja, sagen wir's so: Wenn ihn die anderen Jungs zuerst finden, bekommt Wy das Ding nie.«
Sie streckte mir wortlos die Hand entgegen, wie ein Engel mit all dem Blond und dem ganzen Weiß. Zarte Arme, feingliedrige Finger – sie hat wie eine Fee ausgesehen. Und Feen glaubt man. Immer. Damit ihr Funkeln nicht erlischt.
»Hier sind wir«, kommt es in dem Moment von Wyatt neben mir. Mit seiner tiefen Stimme katapultierte er mich aus der Vergangenheit direkt in die Gegenwart zurück.
Die Gegenwart, wo ich allein mit ihm in seinem Haus auf Rocky warten werde. Seinen Bruder. Der bis eben nicht wusste, dass ich komme. Der mich wahrscheinlich überhaupt nicht sehen will. Der mir ans Herz gewachsen ist und zu dem ich mich hingezogen fühle.
Scheiße, ist das alles übel.
»Oh, okay«, stammle ich und merke, dass wir angehalten haben. Wie in einer Trance drücke ich die Tür auf. Von oben drückt die Sommerhitze, um uns herum steht die Luft.
»Hey, was geht so?«, scheint sie zu fragen.
»Nicht viel, ich hänge hier nur so rum. Du?«
»Same.«
Die Limousine zieht ab, bezahlt habe ich längst. Ich schaffe es gerade noch, mit den Lippen das Wort Danke zu formen, bevor ihre Rücklichter die Straße hinunter verschwinden.
Das Trappeln schneller leichter Schritte lässt mich aber gleich wieder zu Wyatts Haus herumfahren.
Ein kleines Mädchen kommt durch ein knarzendes Gartentor auf Wyatt zu gerannt. Ihr glattes dunkelbraunes Haar flattert hinter hier her wie ein Superhelden-Cape, bis sie dem Sturmjäger im freien Flug um die Taille fällt.
Mit der Kraft und Wärme von tausend Teletubby-Sonnen strahlt sie ihn an, um danach vor dem trägen Mops-Opa zu seinen Füßen auf die Knie zu fallen.
»Moms Gartenzwerg sieht super aus, Wy«, sagt die Kleine und zum ersten Mal heute höre ich Wyatt lachen. Es ist ein warmes Geräusch, dass mir direkt in die Magengrube fährt und sich dort einnistet, um zu bleiben. Mein verräterischer Körper hat den Parasiten natürlich hineingelassen. Wir kennen uns ja schon. Geh einfach durch. Vitamin B und so.
Vielleicht werden meine Eierstöcke aber auch einfach nicht damit fertig, wie süß er mit der Kleinen ist.
»Den hast du schon entdeckt, was?«, erwidert Wyatt. »Ich wollte euch doch überraschen.«
Die schönste Frau, die ich je in meinem Leben gesehen habe, erscheint am selben Gartentor von eben. Von innen stützt sie ihre Unterarme darauf ab, als wäre es eine Bank und heute ihr erster Schultag. Mit einer K1-Schülerin hat sie jedoch wenig gemein. Ich sehe nichts als Haut, Stoffschnipsel, das Gesicht einer Hollywood-Schönheit und langes lackschwarzes Haar. Femme fatale.
Automatisch blicke ich an mir herunter.
Jeans. T-Shirt. Meh.
Toll ...
»Dann hättest du uns nicht warten lassen dürfen. Du weißt, wie neugierig wir sind«, sagt sie.
Wyatt schlendert die paar Meter zu ihr rüber, um sich über das Gartentor hinweg in eine Oktopus-Umarmung ziehen zu lassen, die gefühlte drei Stunden anhält. Stechend braune Augen – nicht gerade freundlich wirkende Augen – mustern mich über seine Schulter hinweg. Dabei bohrt sie blutrote Nägel in seine Schultern, als hätte sie gerade die Art von Sex mit ihm, wo einem die Augen in den Hinterkopf rollen. Nicht, dass ich wüsste, wie sich sowas anfühlt.
»Okay, du meinst also, ich bin selbst schuld, ja?«, entgegnet er, ohne zu ahnen, was sich außerhalb seines Sichtfelds abspielt. Wyatt löst sich von ihr und gestikuliert in meine Richtung. »Das ist übrigens–«
»Ich bin nur Sky«, beende ich seinen Satz, ohne zu wissen, wieso ich das tue. Es wäre auf jeden Fall schön, wenn sie aufhört, mich mit Blicken zu durchbohren.
Doch die Gartentor-Schönheit legt den Kopf schräg.
»Hi ... Nur-Sky. Ich bin Cassidy.« Mit dem Zeigefinger gestikuliert sie zu dem kleinen Mädchen. »Das ist meine Tochter Kendra. Wir wohnen gleich um die Ecke.«
Das Mädchen – Kendra – hört kurz auf, den Mops mit Streicheleinheiten zu überschütten und springt auf die Füße.
»Hallo«, grüßt sie mich fröhlich, als wäre die Begegnung mit mir das Highlight ihres gesamten Tages. Ihre Augen werden groß wie Untertassen. »Wow, deine Haare sehen aus wie die von Ariel der Meerjungfrau.«
Ihre positive Energie ist ansteckend, man muss die Kleine einfach anstrahlen.
»Ich bin Sky und rette auch schiffbrüchige Seeleute«, sage ich und merke, dass Wyatt an meiner Seite erscheint.
»Sky ist Helikopter-Rettungsschwimmerin in Alaska. Da, wo Rocky arbeitet.«
Kendra lauscht seinen Worten, als hätte er den Mond und die Sterne gleich mit in den Himmel gehängt. Dann wirbelt sie – und ich meine wirbeln – wieder zu mir herum.
»Wow, stark. Und hast du dabei Prinz Eric gefunden?«
Ich muss kichern.
»Nein, aber ich sage dir Bescheid, sobald er bei mir im Rettungskorb landet.«
Statt zu antworten, beginnt Kendra auf- und abzuhüpfen, wodurch ihre Arme wild durch die Luft geschleudert werden. Wenn die Kleine noch mehr Zentrifugalkraft erzeugt, wird sie jede Sekunde abheben.
Während Kendras Freude weiter anhält, beobachte ich aus dem Augenwinkel, wie Cassidy die Arme vor der Brust verschränkt. Dabei zieht sie eine perfekt gezupfte Braue nach oben.
Wyatt räuspert sich.
»Sky ist wegen Rocky hier. Ist ein Überraschungsbesuch.«
»Ah, verstehe«, kommentiert Cassidy die eben erhaltene Information, doch ich glaube, genau das tut sie nicht. Sonst würde ich jetzt nicht spüren, wie sich ihre Augen in meine rechte Gesichtshälfte brennen und damit das Fleisch vom Knochen schmelzen lassen. Es ist verdammt unangenehm. »Na gut, wir müssen auf jeden Fall erstmal los. Süße, verabschiedest du dich bitte von Wy und Sly?« Sofort wirft sie sich in einer theatralischen Geste die Hand auf die Brust. »Sky, meine ich. Entschuldige bitte. Ich musste heute so viele Kinderbücher vorlesen, dass ich nicht mehr sprechen kann.«
Mh, das wird's wohl gewesen sein.
Kendra kommt auf mich zu gerannt und umklammert mein Bein, als hätte ich mich unter Wasser in einem Algenwald verheddert.
»Du bist fast so groß wie Wy«, sagt sie und schenkt mir damit das goldene Ticket, um mich der Interaktion mit ihrer passiv-aggressiven Mutter zu entziehen.
»Nicht ganz, ich hab nur lange Beine. Wie mein Dad.« Ich streichle ihr über den Rücken. »Es war schön, dich kennenzulernen, Kendra. Vielleicht sehen wir uns ja nochmal, solange ich hier bin.«
»Au ja«, trällert sie. »Darf ich dir dann die Haare flechten? Ich hab ganz viele bunte Spangen und–«
»Hat mich gefreut und viel Spaß in unserer schönen Stadt«, mischt Cassidy sich ein, Scheinbar konnte sie der Idee ihrer Tochter ebenso wenig abgewinnen wie meiner ganzen Existenz. »Wir sehen uns später, Wy.«
Ihm schenkt sie ein honigsüßes Lächeln voller Versprechungen. Ich schwöre, die Frau ist nur noch einen Schritt in schicken Riemchen-Sandalen davon entfernt, ihn mit ihrem Urin zu markieren.
»Okay, bis später, ihr zwei.« Damit wendet sich Wyatt langsam wieder mir zu. Er nickt in Richtung Haustür. »Lass uns reingehen und was trinken, bevor wir hier draußen zu Rosinen verschrumpeln.«
Hinter mir knallen zwei Autotüren, kurz darauf schwirrt das Surren eines Elektromotors in der Luft – und ich kann endlich wieder atmen.
»Deine Freundin?«, frage ich Wyatt in der Sekunde, als hinter uns die schneeweiße Eingangstür seines Einfamilienhauses ins Schloss fällt.
Wyatt ist nach vorn gebückt, um sich die schwarz-weißen Converse von den Füßen zu zerren, ohne vorher die Schnürsenkel zu lösen. Seine Augen schießen zu meinen hoch.
»Nope.«
Er schiebt sich an mir vorbei und ist im Begriff die offene Küchentür zu durchqueren.
»Nope, sie ist nicht deine Freundin oder nope, sie ist nur eine unbedeutende Bekanntschaft, so wie ich vor zwölf Jahren?«, schieße ich zurück, auch wenn jede vernünftige Zelle in mir dagegen rebelliert.
Wyatt, gefriert mit beiden Händen am Türrahmen, seine Fingerknöchel beginnen, sich weiß zu färben. Es würde mich nicht überraschen, wenn uns gleich Splitter um die Ohren fliegen.
Ganz recht, Sturmjäger, ich erinnere mich an dich. Automatisch recke ich ihm das Kinn entgegen, auch wenn ich momentan seine Rückseite vor mir habe.
»Scheiße, kleine Meerjungfrau, ich dachte, wir hätten uns am Hafen im Stillen geeinigt, dass wir uns noch nie begegnet sind.« Seine Hände lösen sich vom Holz. »Für Rocky.« Wyatts Stimme gleicht Sandpapier und irgendwie ahne ich, dass er vorhat, mich hier mit der Aussage stehenzulassen. Als hätte er das allein zu entscheiden.
Aber nicht mit mir – neuerdings befinde ich mich auf Konfrontationskurs. Mein ganzes scheiß Leben steht kopf. Ich habe nichts zu verlieren.
Am unteren Saum bekomme ich sein T-Shirt zu fassen und klammere mich daran fest. Wasserski, Bitch!
»Wir müssen aber darüber reden«, knurre ich, »und zwar bevor Rocky hier auftaucht, sonst platzt mir Schädel, echt!« Endlich wirbelt er herum und wirbelt die Luft um uns herum gleich mit auf. Luft, die nach sonnenwarmer Haut, nach uns riecht. Gott, ich bin so durcheinander.
»Das bin ich auch, aber wenn man's genau nimmt, kennen wir uns nicht wirklich«, sagt er. Habe ich das gerade etwa laut ausgesprochen? »Wir kannten damals nicht mal den vollen – und in meinem Fall – richtigen Namen der anderen Person.« Ich stutze. Der stand doch in meinem Brief. »Wie du wirklich heißt, hab ich vor ein paar Monaten durch Zufall im Frühstücksfernsehen mitbekommen.« Er schüttelt den Kopf und presst dabei ein verbittertes Lachen hervor. »Und dann wird mein kleiner Bruder natürlich nach Alaska versetzt, wo er ausgerechnet dir in die Arme läuft. Absolut fucking golden. Ich hatte mir ja ein kurzes Vorspiel oder 'ne Einladung zum Abendessen erhofft, bevor mich das Leben trocken durchnudelt, aber hier stehen wir nun.«
Zum Ende hin wird seine Aussprache von winzigen Spucketropfen begleitet. Ich beginne zu glauben, dass er Gefühlsausbrüche dieser Art normalerweise nicht zulässt und versuche, mit meiner Reaktion nicht noch Feuer ins Öl zu kippen.
»Die ganze Situation ist nicht optimal, das stimmt.«
Er lässt die Arme zur Seite fallen.
»Findest du?« Sarkasmus trieft aus allen Ritzen.
Ich atme tief durch.
»Wir sollten Rocky erstmal nicht erzählen, dass wir uns kennen.« Als Wyatt nach Luft japst, vermutlich um zu protestieren, hebe ich beschwichtigend beide Hände zwischen uns. »Erstmal rede ich mit ihm, schau wie's läuft und wenn der Moment passt, dann–«
»Schön, dass an dir eine preisgekrönte Schauspielerin verloren gegangen ist, aber ich bin scheiße darin und mein Bruder kennt mich«, grätscht Wyatt dazwischen. Unsanft vergräbt er beide Hände in seinen kinnlangen dunkelblonden Haaren, deren Enden sich nach oben kringeln. Die zwei Brüder könnten nicht unterschiedlicher sein, aber der tiefbraune Farbton ihrer Augen ist beinahe identisch.
»Hey Leute.« Wyatt reißt die Augen auf. Ich tue es ebenso, weil diese Stimme keinem von uns beiden gehört. »Ist ... alles gut hier?«
Zeitgleich wippen unsere Köpfe zur Seite. Wir springen zwei Schrittlängen auseinander.
Rocky umrundet die hölzerne Wendeltreppe, die zum oberen Stockwerk führt, unter der Wyatt und ich uns vor dem Durchgang zur Küche gegenüberstehen.
Dieselben Augen von eben huschen zwischen uns hin und her, nur dass sie diesmal dem anderen Bruder gehören. Rocky runzelt die Stirn. Ich bete, dass er uns nicht gehört hat. Er hat es nicht verdient, unser Geheimnis auf diese Art zu erfahren.
»Hey Kleiner, hier ist alles gut. Bin bloß gestresst, weil ich noch einiges zu tun hab heute«, ringt Wyatt sich ab, »aber jetzt bist du ja hier.« Damit verschwindet er in der Küche.
Danke für nichts. Dann muss ich eben improvisieren.
Als wolle ich Rocky ein Geheimnis verraten, halte ich mir die flache Hand neben den Mund.
»Wahrscheinlich habe ich ihn verrückt gemacht mit meiner pausenlosen Fragerei. Ich plappere, wenn ich nervös bin.« Ein künstliches Lachen entkommt mir. Es hört sich blechern an. »Schön, dich zu sehen.«
Rocky lässt den Kopf sinken, von innen beißt er sich in die Wange. Dadurch wirkt er so jung und verletzlich in dem Moment, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht.
»Was ... verschafft mir denn die Ehre deines Besuchs?«
Ein letztes Mal suche ich Wyatts Blickkontakt. Er stützt die Hände auf beiden Seiten seines leeren Spülbeckens ab. Seine Augen ruhen bereits auf mir.
Wyatt nickt. Ich nicke zurück. Es ist eine Übereinkunft. Wenn wir Rocky jetzt von früher erzählen, wird nichts Gutes dabei herauskommen. Also tun wir es nicht.
»Na ja, ich hatte gehofft, wir könnten in Ruhe reden, nur du und ich«, beantworte ich Rockys Frage wahrheitsgemäß. Er zieht scharf Luft ein.
»Oh! Ich meine, klar. Nichts lieber als das. Wie lange wirst du denn in der Stadt sein?«
Verlegen hebe ich den Arm und lege mir die Hand um den Nacken.
»Weiß ich noch gar nicht so genau. Ein paar Tage vielleicht. Außer meinen Flug hier her hab ich noch gar nichts geplant. Das wollte ich alles spontan vom Handy aus machen.«
Rockys Gesichtszüge glätten sich, die Sorgenfalte zwischen seinen Brauen verschwindet. Gleichzeitig scheint sich sein Mund weder für noch gegen ein Lächeln entschieden zu haben. Er wirkt unsicher.
»Das ist gut, weil ... Na ja, das Haus meiner Eltern ist echt geräumig, ich übernachte momentan auch da. Ich hab ihnen nach Wyatts Anruf von dir erzählt und sie haben ihre Gastfreundschaft angeboten, falls du nicht allein in irgendeinem Hotel bleiben willst.«
Ich lege mir die Hand aufs Herz.
»Rocky ... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist wirklich lieb von dir, von euch allen, aber–«
Er kommt einen Schritt näher.
»Bitte bleib«, flüstert er. »Du hättest ein eigenes Gästezimmer, deine Privatsphäre, viel Ruhe und kannst im See beim Haus jeden Tag schwimmen gehen. Wenn du das willst.«
Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle.
»Aber sie kennen mich doch gar nicht.«
Er hebt die Hand an mein Gesicht, wo sie Millimeter neben meiner Wange schwebt. Ich lehne den Kopf zur Seite, direkt hinein.
»Ich kenne dich, ein bisschen jedenfalls. Das genügt ihnen. Durch mich wissen sie, was du als Rettungsschwimmerin bei der Küstenwache für unser Land tust, welche Opfer du bringst – und sie würden gern was zurückgeben.«
»Okay«, wispere ich in die vermischte Atemluft zwischen uns.
»Du bleibst?«
Rockys Augen wirken riesig. Es liegt so viel Hoffnung in seinem Ausdruck, dass ich nichts anderes tun kann, als zu nicken. Sein ganzes Gesicht wirkt transformiert, als er mich breit anlächelt und schon werde ich in eine kurze Umarmung gezogen.
• | • | •
»Was für ein Tag, aber ich bin froh, dass Archer mir sagen konnte, wo ich dich finde«, stöhne ich und lasse mich vor dem Haus tief in den Beifahrersitz von Rockys Wagen sinken. Gott, bin ich froh, da raus zu sein. Dann fällt mir ein, dass Rockys Schlüsselbein gebrochen ist und ich schnippe in eine aufrechte Position hoch. »Darfst du so überhaupt fahren?«
»Keine Ahnung, ob ich das darf.« Er zwinkert mir zu. »Ich mach's einfach. Den Arm kann ich zur Not bewegen, tut nur weh. Außerdem kann nicht ständig einer für mich den Chauffeur spielen.«
»Aber wenn ich einmal hier bin, kann ich ja fahren.«
Rocky zuckt mit der Schulter.
»Na gut, dann tauschen wir.«
Wir steigen aus und umrunden die Rückseite des Wagens, bis sich unsere Wege kurz kreuzen. Rocky bohrt mir im Vorbeigehen den Zeigefinger in den Bauch. Die Stimmung zwischen uns ist inzwischen locker und entspannt. Ganz im Gegensatz zu seinem Hochspannungsdraht von einem Bruder.
»Hey«, protestiere ich halbherzig, doch meine Mundwinkel zucken nach oben. Ich lasse mich in den Fahrersitz plumpsen und lehne mich zu Rocky hinüber, um ihm mit dem Anschnallgurt zu helfen. »Sonst darfst du im Kofferraum mitfahren.«
Dabei ist mir Rocky so nah, dass mich sein Atem an der Wange kitzelt.
»Das ist aber nicht sehr nett«, wispert er. Seine Lippen streifen meine Haut. Für einen Moment schließe ich die Augen.
Wir können den Elefanten auf unserer Rückbank nicht länger weglächeln. Ich bin hergekommen, weil ich Rocky etwas sagen muss. Wort für Wort habe ich mir auf dem Flug hier her zurechtgelegt.
»Ich bin nicht hier, um weiterzumachen, wo wir aufgehört haben. Jedenfalls nicht gleich«, sage ich. Der warme Luftzug verschwindet, als würde Rocky die Luft anhalten. Ich bringe wieder etwas Abstand zwischen uns. »Es wäre aber schön, wenn wir etwas Zeit miteinander verbringen könnten. Einfach reden und schauen, wo uns die Reise hinführt. Ich meine, wir haben beide Dinge erlebt, an denen wir noch lange zu knabbern haben werden.« Meine Schultern sinken mit einem langen Atemzug. »Und ich muss mich bei dir entschuldigen.«
Rockys Augen schnippen zu meinen hoch.
»Wofür denn?«
»Dass ich im Krankenhaus so abweisend zu dir war. Du hast mich in keinem gutem Moment erwischt und ich war überfordert.«
Er seufzt.
»Du musst dich für überhaupt nichts entschuldigen und ich möchte sehr gern Zeit mit dir verbringen.«
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