Windstärke 14 | Sky
—Das war's für uns. Wir sind weg.
Rocky Byrne
Verträumt grinse ich in meine Kaffeetasse und ziehe mir dabei beinahe Verbrennungen ersten Grades an Lippen und Zunge zu.
»Irgendetwas ist anders an dir«, meinte meine Mutter am Sonntag. Dabei hat sie mich nur in schlechter Auflösung auf dem Bildschirm ihres uralten Smartphones zu Gesicht bekommen. »Gibt es einen Grund, warum du so strahlst?«
Weil der Mond das Sonnenlicht reflektiert, ob er will oder nicht.
Rotzfrech zuckte ich mit der Schulter.
»Keine Ahnung, Mom. Hier ist alles beim Alten.«
Meine Mutter biss sich schmunzelnd auf die Unterlippe.
»Na gut, wenn du das sagst. Dann schlaf gut, mein kleiner Stachelrochen«, sagte sie und dann haben wir aufgelegt.
Ihr kann ich nichts vormachen. Mir selbst genauso wenig.
Ich wollte mich nicht auf Rocky einlassen, doch mit jeder Sekunde in seiner Näher wurde es schwieriger, mich seiner Leichtigkeit zu entziehen. Kein Moment ist wie der andere, ein Augenblick wird zum Augenzwinkern. Er hat mein Leben nicht nur auf den Kopf gestellt, sondern völlig neu durchgemischt.
Schokoeis unter der Kuscheldecke.
Heiße Lippen auf Gänsehaut.
Muskelkater am Bauch, aber auch tränennasse Taschentücher.
Gestern Abend hat mir Rocky eine andere, verletzlichere Seite gezeigt, die ich unter seiner unbekümmerten Fassade nicht vermutet hätte. Aber jeder hat sein Päckchen zu tragen, schätze ich.
Beinahe war ich erleichtert, zu hören, dass auch er den Schatten eines anderen Menschen auf dem Herzen trägt. Aber dann plagte mich sofort das schlechte Gewissen.
Er betrauert keine vertane Gelegenheit. Rock hat diese Francine geliebt, sie gekannt. Die beiden haben zusammen gelebt. Sie zu verlieren, muss ihm völlig den Boden unter den Füßen weggerissen haben und ich bezweifle, dass er das so schnell überwinden wird. Aber ich möchte ihm helfen, neue, schöne Erinnerungen zu schaffen. Mit mir, wenn er mich lässt.
Mein Mobiltelefon beginnt, laut summend über die Arbeitsplatte zu tanzen. Ich zucke zusammen und ein Schwall heißer Kaffee schwappt über meine Fingerspitzen, sodass ich vor Schreck die ganze beschissene Tasse in die Spüle fallenlasse.
»Mist«, fluche ich halbherzig, denn eigentlich muss ich schon wieder grinsen, weil ich Rocky hinter dem Anruf vermute.
Aber der Bildschirm leuchtet mit Levis Namen auf und obwohl wir für gewöhnlich mehrmals pro Woche telefonieren, breitet sich diesmal ein flaues Gefühl in meiner Magengegend aus.
»Was gibt's Lev?«
»Sky, du solltest dringend in die Einsatzzentrale kommen«, keucht er in die Sprechmuschel. Sofort richte ich mich kerzengerade auf.
»Ist, äh, ist alles in Ordnung?«
»Nein«, sagt er, »hier warten drei Krankenwagen auf dem Rollfeld und die haben einen zweiten MH-60 Jayhawk Helikopter und einen Rettungskutter als Verstärkung zu einem laufenden Einsatz in der Marmot Bay geschickt.« Er atmet scharf ein und ich weiß, dass mir der schlimmste Teil noch bevorsteht. »Sky, das Team sollte Cameron aus seinem Boot fischen und nach Kodiak bringen, aber dann ist der Co-Pilot mit Infarkt-Symptomen zusammengebrochen und sie mussten abbrechen.« Sein Atem raschelt in der Leitung. »Es ist dein Dad. Er ist für den eigentlichen Co-Piloten eingesprungen.«
Mein Griff lockert sich. Ich verliere den Halt. Kracht mein Handy auf die Fliesen oder bin ich es, die am Boden in eine Million Teile zerschellt?
»Sky? Sky!«, dröhnt von irgendwoher mein Name. Laut und leise. Eine Stimme aus Stahl und Watte.
Benommen stolpere ich in Richtung Tür. Ich muss zur Zentrale, muss etwas tun. Irgendwas.
Weiß-graues Licht brennt sich in meine Netzhaut, als ich die Haustür öffne. Silber. Da steht mein Wagen, mitten in der Einfahrt.
Statt den kleinen Trampelpfad am Fuße der Verandatreppe zu nehmen, taumele ich durch regennasses Gras, das mir zu den Knöcheln reicht. Feuchtigkeit dringt durch die eiförmigen Aussparungen meiner Crocs, bis ich mit beiden Händen meine Motorhaube erreiche. Sie ist kalt, aber nicht so kalt wie meine Hände.
Gierig sauge ich durch die Nase Sauerstoff ein. Habe ich auf dem Weg hier her überhaupt geatmet?
Ohne mit meiner linken Hand den Halt der Motorhaube aufzugeben, umrunde ich den Wagen und ziehe am Türgriff.
Nichts. Die Tür bewegt sich nicht.
Ich stoße einen Laut aus, der sich zwischen dem Jaulen eines verwundeten Tieres und einem menschlichen Schmerzensschrei befindet.
Mit der freien Hand lasse ich Faustschläge auf die Scheibe hageln, unaufhörlich, bis Schmerz in meiner Hand explodiert.
»Scheiße, komm schon«, kreische ich, als ich plötzlich warmen Druck auf meiner Schulter spüre.
»Also weißt du es schon«, brummt eine tiefe Stimme hinter mit. »Verdammt.« Der Druck auf meiner Schulter verstärkt sich. »Komm, ich fahr' dich.«
Ich muss die Hacken in den Boden drücken, um nicht weggeschoben zu werden. Dann fahre ich herum und blicke wie durch eine verregnete Fensterscheibe in das Gesicht von Chief Braxton.
»Fass mich verdammt noch mal nicht an«, zische ich.
Die Wucht meiner Worte lässt ihn einen Schritt zurückstolpern. Er hebt die Hände, als wäre ich im Begriff, seine Bank zu überfallen.
Ich merke, wie sich der Gedankennebel verzieht. Ich werde klarer, kann wieder atmen. Dann werde ich wütend.
Fäuste donnern gegen eine stahlharte, breite Brust. Der Schmerz kehrt zurück. Nur, dass er mir diesmal guttut, mich fast schon erdet.
»Schon gut. Lass es raus.« Er bekommt meine Handgelenke zu fassen. »Und dann fahren wir. Der Diensthabende erwartet dich. Von ihm bekommst du deine Antworten.«
»Wird mein Dad sterben? Was ist mit Cam?«, will ich von ihm wissen. »Und sei ehrlich, Peter! Wenn du meinen Arsch anfassen kannst, kannst du mich auch wie ein großes Mädchen behandeln.«
Sein Kopf fliegt zur Seite – weg von mir – als hätte ich ihn geohrfeigt. Seine Schultern sinken.
»Bitte steig ein«, wispert er und diesmal gehorche ich. Es ist mein Job, in Notsituationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Normalerweise schaffe ich das auch, aber jetzt ist alles anders.
Ich komme mir vor wie eine menschliche Zeitbombe. Es ist egal, ob du den blauen oder roten Draht durchschneidest. In jedem Fall werde ich dir gleich um die Ohren fliegen.
»Wo ist dein Auto?«, herrsche ich Peter an. Statt zu antworten, hebt er seinen ausgestreckten Zeigefinger vor mein Gesicht. Ich folge der Richtungsweisung mit meinen Augen. Sein nachtschwarzer SUV ist direkt vor meinem Briefkasten geparkt.
Wir steigen ein und Peter navigiert uns ein wenig schneller durch die Straßen, als er fahren dürfte. Alles andere hätte ich auch nicht geduldet. Gelegentlich wirft er einen Blick in meine Richtung.
Geht es ihm wie mir? Fürchtet er sich vor dem, was uns erwarten könnte? Ich habe eine Scheißangst davor.
• | • | •
Als wir in die Einsatzzentrale gestürmt kommen, ist Lieutenant Commander Valdez im Stehen über seinen Büroplatz gebeugt in ein Telefonat verwickelt. Dabei vergräbt er seine freie Hand so hart in der Bürostuhllehne, dass sich seine Fingerknöchel weiß färben.
Der Lieutenant Commander blickt mit gerunzelter Stirn zu mir auf. Er stößt sich von der Stuhllehne ab und hebt den Zeigefinger.
Ich weiß, was es bedeutet: Geben Sie mir eine Minute. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
»Sky, gut, dass Sie hier sind«, sagt er ruhig, nachdem er den Hörer mit einem Klick auf der Telefonstation einrasten lässt. »Mir ist es lieber, Sie selbst auf den neuen Stand zu bringen, bevor Sie die Audioaufnahme von jemand anderem zugeschickt bekommen.«
Peter nähert sich ihm einige Schritte.
»Sir?«, bittet er um Aufklärung. Ich höre die Angst in seiner belegten Stimme.
Lieutenant Commander Valdez presst die Lippen aufeinander und lässt den Blick auf seine Schuhe sinken. Dann holt er ein schlankes schwarzes Mobiltelefon aus der Seitentasche seines armygrünen Overalls.
»Mein Schwager hat an Bord des Schleppnetzschiffes Harbour Maiden einen Vorfall miterlebt und meiner Frau den Handymitschnitt des Funkaustausches geschickt – ihr und offenbar fast jedem anderen auf der Insel.« Hörbar atmet er aus. »Bitte setzen Sie sich, Sky.«
Ich schlucke um Stacheldraht und tue, wie mir geheißen wird. Der Lieutenant Commander startet die Aufnahme und sofort tauchen wir in Wirrwarr aus Stimmen und Geräuschen ein. Die Atmosphäre wirkt unkoordiniert und trubelig, bevor ein erster Funkspruch ertönt.
»Hier Harbour Maiden, wir haben gesehen, dass Sie eine Rettungsinsel abgeworfen haben. Brauchen die Insassen unsere Unterstützung? Over.«
Mein Puls beschleunigt sich, als sich daraufhin eine bekannte Stimme durch das Rauschen kämpft: »Hallo Harbour Maiden, zwei weitere Teams sind auf dem Weg hier her, aber– Argh, verdammt. Festhalten, Baywatch, hier kommt noch eine Böe«, knurrt Rocky. Ich schlage mir die Hand über den Mund. »Wir kommen zu tief.«
»Welle«, brüllt im Hintergrund eine weitere Männerstimme.
Laut. Alles ist so verdammt laut. Es herrscht absolutes Chaos.
»Das war's für uns. Wir sind weg«, höre ich Rocky noch sagen, bevor dem Kreischen des Funkgeräts gespenstige Stille folgt. Dann klackt es und die Aufnahme ist beendet.
Meine Lippen öffnen sich, aber es kommt kein Mucks heraus. Es ist wie schreien unter Wasser. Blasen strömen mir aus Mund und Nase, nur kann mich niemand hören. Ich kann es selbst nicht. Was ist da gerade geschehen? Mein Vater. Rocky. Cam. Sind sie–
»Die Besatzung der Harbour Maiden hat beobachtet, wie der MH-60 von einer Böe erfasste wurde, an Höhe verloren hat und von einer Welle mitgerissen wurde«, erklärt der Diensthabende, als hätte ich eben nicht genau das mitgehört. »Unserem Schwimmer und Cameron Heynes scheint nichts passiert zu sein, aber–«
Das Telefon klingelt und beendet seinen Satz, bevor ich erfahre, ob Rocky und mein Vater noch am Leben sind.
»Sektor Anchorage, endlich.« Der Diensthabende nimmt das Gespräch entgegen. »Lieutenant Commander Valdez hier«, sagt er und lauscht dem Anrufer einige Sekunden lang. »Ich verstehe. Wir sind bereit. Ja, Wiederhören.«
»Bereit wofür?«, will Peter in der Sekunde von ihm wissen, wo der Lieutenant den Hörer sinken lässt. Er seufzt.
»Gute Neuigkeiten, alle drei Insassen konnten mit leichten bis mittelschweren Verletzungen aus dem verunfallten MH-60 geborgen werden. Lieutenant Rutherford ist mit Ihnen auf dem Weg hier her. ETA zehn Minuten. Petty Officer Bradley ist mit Cameron Heynes an Bord unseres Rettungskutters. Die beiden sind unverletzt.«
Noch bevor ich meinem Körper den Befehl dazu erteilt habe, springe ich auf die Füße und hechte zur Tür. Ich muss auf dieses Rollfeld, muss hier sein, wenn Dad und Rocky eintreffen.
Weit komme ich nicht, bevor sich ein Eisenband um meinen Oberarm zusammenzieht. Mein Rücken prallt gegen eine warme Wand.
»Ich will auch zu ihm, Kleine. Mehr als alles andere«, ertönt Peters Stimme hinter mir.
Er ist das – kein Band aus Eisen. Keine Wand.
»Lass mich gehen«, zische ich und versuche, mich aus seinem unnachgiebigen Griff zu winden. Zu fest. Es gelingt mir nicht. Er wirbelt mich herum, schließt beide Hände um beide Oberarme. »Ich schwöre bei Gott, Peter–«
»Wir würden die EMT nur behindern«, argumentiert er und bezieht sich damit auf die Sanitäter der Feuerwehr Kodiaks. »Lassen wir die Leute ihre Arbeit machen, Sky.«
»Wenn ich während des Dienstes einen Patienten übergebe, bin ich denen auch nicht im Weg. Und das ist mein Vater. Ich muss ihn sehen«, krächze ich. »Bitte Peter.« Tränen verschleiern mir die Sicht. »Es könnte helfen, wenn ich seine Hand halte. Er soll wissen, dass er nicht allein ist.«
Für mehrere endlos erscheinende Sekunden betrachtet mich der beste Freund meines Vaters schweigend. Ein Muskel zuckt in seinem Kiefer.
»Also schön, komm mit«, erwidert er und schiebt mich zur Tür hinaus – direkt in Levis Arme.
»Kaulquappe«, haucht mir dieser entgegen. »Tut mir so leid, dass ich nicht eher hier sein konnte.«
Ich hab das Kapitel mal wieder aufgeteilt. Der Rest kommt spätestens Mittwoch. ❤️
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