Windstärke 13 | Rock
Die folgende Notsituation habe ich mir ausgedacht und nach gründlicher Recherche versucht, den Rettungseinsatz einigermaßen glaubhaft darzustellen. Bitte beachtet, dass sich die geschilderten Abläufe innerhalb der Küstenwache wahrscheinlich stark von der Realität unterscheiden.
Es ist ein langes Kapitel, das sich schlecht trennen ließ.
Schönes Wochenende allerseits.
Danke fürs Lesen ❤️
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»Wie spät ist es?«, murmelt Sky verschlafen. Ihr Haar ist in einem wilden Durcheinander auf dem himmelblauen Stoff ihres Kissens verteilt. Selbst im schwachen Licht der Nachttischlampe sieht sie zum Niederknien aus.
»Gerade mal sechs«, flüstere ich. »Hau dich nochmal aufs Ohr.« Sie seufzt im Halbschlaf, als ich meine Lippen auf ihre drücke.
Ich wäre gern länger geblieben, aber das ist unmöglich, wenn ich vor der Frühschicht noch duschen und eine Portion Rührei mit Toast in mich reinstopfen will. Im Gegensatz dazu steht Sky ein entspannter Vormittag bevor. Sie hat frei und ich kann es kaum erwarten, sie heute Abend wiederzusehen.
In denselben Klamotten wie gestern schlüpfe ich durch die Haustür auf ihre Veranda hinaus. Die kühle Luft trifft mich wie eine Kältepeitsche, nachdem ich mich eben noch an einen warmen Körper schmiegen durfte. Aber das war es absolut wert.
Ich ziehe mir die Kapuze meiner Windjacke tief ins Gesicht und das hat nur zum Teil mit den niedrigen Außentemperaturen zu tun.
Sky und ich balancieren am Abgrund. Wenn wir nicht aufpassen, könnte uns bald der eigene Arsch um die Ohren fliegen. Wir müssen unsere Beziehung geheim halten. Dabei würde ich am liebsten von den Dächern schreien, dass wir ab jetzt zusammengehören.
Was ich ihr gestern anvertraut habe, war eine große Sache für mich. Es hat mich wahnsinnig viel Überwindung gekostet und ich hätte mir keine bessere Reaktion von ihr erhoffen können. Anstatt alles auf sich zu beziehen und das Unmögliche von mir zu fordern – nämlich, dass ich nicht mehr an Franny denken und ein Stück weit auch um sie trauern darf – hat mir Sky Trost gespendet, mir zugehört.
Ich glaube, sie hat mich verstanden, was die Frage aufwirft, ob es da auch mal jemanden in ihrem Leben gab. Jemanden, an den sie gelegentlich denken muss.
»Dass du deine Vergangenheit mit mir teilst, ist ein riesiger Vertrauensbeweis und dafür kann ich dir nicht genug danken«, hat mir Sky unter dem Schleier der Nacht zugeflüstert.
Hoffentlich gelingt es ihr irgendwann, mir dasselbe Vertrauen entgegenzubringen. Mir alles zu erzählen.
Ich wechsle zur anderen Straßenseite, wo ich auf dem Fußweg in einen lockeren Laufschritt übergehe. Die Dämmerung setzt gerade erst ein und doch brennt bereits in ein paar Fenstern Licht. Sollte mich also jemand entdecken, ist es besser, für einen morgendlichen Jogger gehalten zu werden, anstatt in dunkler Kleidung durch die Nachbarschaft zu schleichen wie ein Kleinkrimineller, der durch Kellerfenster in fremde Häuser einsteigt.
Doch ich bin hier draußen nicht vollkommen allein. Ein Stück die Straße runter erspähe ich ein entgegenkommendes Fahrzeug. Keine fünf Sekunden später explodieren meine Augäpfel im grellen Licht der Scheinwerfer.
Die Motorengeräusche verklingen, doch in meinem Blickfeld regnet es noch immer Sterne, als ich der Biegung des Eldred Rock Way bis zur Albatros Avenue folge, auf die ich scharf links abbiege. Ich kann nur hoffen, dass sich meine Augen langsam wieder an die spärlichen Lichtverhältnisse gewöhnen.
Die Fahrbahn wird hier nur vom seichten Schein der Straßenlaternen erhellt – keine beleuchteten Fenster, keine weiteren Autos. Die Häuser meiner Nachbarn wirken wie ausgestorben.
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»Morgen Lieutenant«, fängt mich ausgerechnet Skys Vater hinter der großen Drehtür im Eingangsbereich der Zentrale ab. Wie immer hebe ich die flache Hand zur Schläfe. Xander Neill tut es mir gleich.
»Guten Morgen, Commander.«
Der verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen.
»Trifft sich gut, dass sie mir heute schon zum zweiten Mal in die Arme laufen«, sagt er. »Ich möchte sie gleich nach der Dienstübergabe in meinem Büro sprechen.«
Ich stutze, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was er von mir wollen könnte, wage es aber nicht, ihn danach zu fragen.
Beim Militär erhält man seine Befehle und führt sie genau so aus. Gehorsam ist eine Grundvoraussetzung – das Warum hat einen nicht zu interessieren. Wenn ich sage spring, fragst du maximal: »Wie hoch?«
»Ja, Sir«, bestätige ich seine Weisung beinahe roboterhaft. Er hat mich doch wohl nicht aus Skys Haus kommen sehen, oder?
Der Commander nickt zufrieden, während hinter meiner Stirn dutzende unterschiedlich große Zahnräder ineinander greifen. Mit einer ausladenden Armbewegung deutet er auf den vor uns liegenden Korridor.
»Gut, dann kommen Sie. Wir haben dasselbe Ziel.«
Seite an Seite marschieren wir in Richtung Briefringraum, wobei sich Commander Neill aufgrund seiner Größe eher mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsbewegt. Ich komme mir vor, wie ein Schuljunge auf dem Weg zum Nachsitzen, der dem Schuldirektor hinterherrennen muss, um ansatzweise Schritt halten zu können.
Was meine körperliche Fitness angeht, brauche ich mich nicht zu verstecken, aber bei einem Meter siebenundsiebzig verdunkelt dich nicht gerade die Sonne, wenn ich in jemandes Blickfeld trete.
Ob mir dieser Büffel von einem Mann ins Gesicht lachen würde, wenn er wüsste, dass ich mich mit seiner Tochter treffe?
Plötzlich lässt uns die Sirene des Search and Rescue Einsatzalarms zusammenfahren. Wir legen noch einen Zahn zu, um die letzten paar Meter zur Einsatzzentrale zu überbrücken, wo wir bereits vom diensthabenden Offizier Lieutenant Commander Victor Valdez erwartet werden.
»Guten Morgen allerseits«, beginnt er die Fallübergabe in dem Moment, als die Petty Officers Buchannon und Bradley zu uns stoßen. »Wir haben es heute mit einem überfälligen Boot zu tun, eine POB. Bei der gefährdeten Person handelt es sich um Cameron Heynes, fünfundsechzig Jahre alt und ehemaliger Leuchtturmwärter des St. Elias Light auf Kayak Island. Ich denke, die meisten von Ihnen dürften ihn noch von der großräumigen Suchaktion nach seinem Sohn Andrew kennen.« Er räuspert sich. »Cameron ist bei Windstärken um die vierzig Knoten mit seinem acht Meter langen Kajütboot von Port Lions in See gestochen und hat es aktuell mit Wellen um die sieben Meter zu tun. Der Mann ist ein erfahrener Bootskapitän, leider aber mit relativ altmodischer Ausstattung unterwegs. Sein Boot verfügt weder über GPS noch Autopilot. Er kennt die Gegend und benutzt einen Kompass, kommunizieren können wir über VHS-Funk, aber das war's auch schon. Hoffen wir, dass er sich bis zu unserer Ankunft nicht groß von seiner aktuell bekannten Position entfernt. Er hat uns nicht selbst angefordert, sondern wir haben einen Anruf seiner besorgten Ex-Frau erhalten, die uns mitteilte, dass er nach einem Streit abgelegt hat und seither nicht wieder aufgetaucht sei. Sie fürchtet, dass er zu aufgebracht ist, um sich bei dem Wellengang zu orientieren. Unterwegs wurde er von einem kleinen Fischerboot gesichtet, das ihn auf dem Weg nach Port Lions passierte. So haben wir eine ungefähre Idee, wo er sich momentan befindet«, fährt der Diensthabende fort und tippt auf der Karte mit dem Zeigefinger einen Punkt inmitten der Marmot Bay zwischen Whale Island und der Siedlung Ouzinkie auf Spruce Island an. Meiner Schätzung zufolge dürfte sich der alte Mann um die zwanzig Kilometer von Port Lions entfernt haben. »Ihre Aufgabe ist es, ihn mit dem MH-60 aufzuspüren und Funkkontakt herzustellen, um herauszufinden, ob er den Kahn sicher nach Port Lions zurücknavigieren oder an Bord des Helis nach Kodiak gebracht werden muss.« Dann wendet er sich mir zu. »Lieutenant Byrne, Ihren Co-Piloten hat es ausgehebelt. Lieutenant Anderson leidet an einer schweren Magen-Darm-Grippe. Aber wir sind mit Hochdruck dabei, kurzfristig Ersatz zu finden. Es wird gleich jemand hier sein.«
Mit aufeinander gepressten Lippen nicke ich. Die Situation ist nicht ideal, aber am Ende unterziehen sich sämtliche Mitarbeiter der Küstenwache einer einheitlichen Ausbildung innerhalb ihres Fachgebiets. Sollte ich also temporär in ein Hurrikan-Gebiet geschickt werden, bin ich in der Lage, mit einem Co-Piloten aus Cape Cod, einem Bordmechaniker aus Clearwater und ein Rettungsschwimmer aus Port Angeles zusammenzuarbeiten, obwohl wir uns vorher noch nie gesehen haben.
»Ich mach's«, grätscht Commander Neil dazwischen. Beide wirbeln wir zu ihm herum.
»Her ... vorragend«, erwidert Lieutenant Commander Valdez ein wenig zeitversetzt. Wahrscheinlich überrascht ihn die spontane Reaktion seines Vorgesetzten ebenso sehr wie mich. »Dann wird Commander Neill die Mission als Pilot fliegen und Sie, Lieutenant Byrne–«
Der Commander schüttelt den Kopf. Dabei massiert er sich die linke Schulter. Ich kann nicht fassen, dass wir eine Mission zusammen fliegen werden.
»Ich hab kein Problem damit, den Sitz des Co-Piloten einzunehmen. Aber am Ende entscheiden natürlich Sie, Victor.«
Der zuckt mit der Achsel.
»Dann machen wir das so. Viel Erfolg«, erwidert der diensthabende Offizier, woraufhin sich sämtliche Teammitglieder in Bewegung setzen. Jeder weiß, was er zu tun hat.
Bordmechaniker Axel 'Baywatch' Buchannon schnappt sich seinen schwarzen Rucksack und einen orangen Equipment-Koffer, während unser Rettungsschwimmer Archer Bradley mit zwei orange Taschen aus dem Lager zurückkommt.
»Was ist da drin?«, hake ich nach.
Archer schaut erst die Beutel und dann mich an.
»Ein Survival-Anzug und ein Hypothermie-Sack«, sagt er. »Wenn der alte Mann überstürzt los geschippert ist, wissen wir nicht, wie gut er auf die Wetterbedingungen da draußen vorbereitet ist.«
Kameradschaftlich klopfe ihm auf die Schulter.
»Gute Idee«, gebe ich zurück. »Kann ja auch sein, dass sein Boot bereits Wasser aufnimmt.«
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»Sektor Anchorage, wir sind soeben von Kodiak zu einer Such- und Rettungsmission gestartet. Bei der gefährdeten Person handelt es sich um einen fünfundsechzigjährigen Kleinboot-Kapitän ohne GPS. Bitte überwachen Sie die Notfrequenz. Over«, melde ich mich bei der Zentrale, als wir abheben.
»Roger, habe verstanden. Over«, kommt es keine zwei Sekunden später zurück. Dabei stecken mir die Blicke des Commanders in der Wange. Vielleicht bilde ich mir aber auch nur ein, dass er mich mustert, denn Tatsache ist, seine Anwesenheit macht mich nervös.
Erstens ist mir bewusst, dass es sich bei Cameron Heynes um einen engen Familienfreund handelt, was ich offiziell natürlich nicht wissen dürfte. Und zum Anderen strebe ich nach seinem Respekt. Nur dann kann ich mich seiner Tochter irgendwann als würdig erweisen.
Meine Kollegen tauschen sich über unseren Gesuchten aus und ich gewinne den Eindruck, dass er sich nicht nur bei Sky und dem Commander, sondern auch bei meinen anderen beiden Kollegen größter Beliebtheit erfreut.
»Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht ausgeschlossen, Lieutenant Byrne«, holt mich Commander Neill in den Moment zurück. »Cam tendiert dazu, einen bleibenden Eindruck bei seinen Mitmenschen zu hinterlassen. Wir sind einfach besorgt.« Kurz schaue ich in seine Richtung. Unsere Augen treffen sich und für mich besteht kein Zweifel daran, dass Sky dieses intensive Gewitterwolkengrau von ihm geerbt hat.
»Das verstehe ich, Sir«, sage ich. »Hoffentlich finden wir ihn auch ohne GPS.« Ich werfe einen routinierten Blick auf das Display mit den Wetterdaten. »Da braut sich ordentlich was zusammen. Bedeutet, wenn sich die Sicht weiterhin verschlechtert, können wir es nur mit seiner letzten bekannten Position versuchen und über Funk Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Ich fürchte, dass es genauso ablaufen wird.« Commander Neill schüttelt den Kopf. »Dieser Hornochse ... Wenn er draufgeht, bringe ich ihn um. Meine Tochter wird mir nie verzeihen, wenn ich ohne den alten Knochen zurückkomme.« Er zuckt mit der Schulter, als ich mich ihm zuwende. »Und er schuldet uns auf Lebenszeit Freibier bei Tony's oder eine Heilbutt-Flatrate. Am besten beides.«
Mir entkommt ein Schnauben,
»Klingt gerecht, wenn Sie mich fragen.«
»Seh' ich auch so«, erwidert Commander Neill. Dabei massiert er sich erneut die Schulter.
Ich nicke in seine Richtung.
»Haben sie sich was gezerrt?«, frage ich. »Das haben Sie vorhin schon gemacht.«
»Ja, wahrscheinlich hab ich mich heute Morgen vor dem Sport nicht richtig aufgewärmt.«
»Aber bewegen können Sie alles?«, frage ich, bevor ich mich eines Besserem belehren kann. Schließlich würde keiner von uns in diesen Heli steigen, wenn er sich nicht dazu in der Lage fühlt. »Entschuldigen Sie, Commander. Ich wollte damit nicht andeuten, dass–«
»Papperlapapp. Alles gut. Sie scheuen sich nicht, die richtigen Fragen zu stellen«, unterbricht er mich. »Das respektiere ich. Und den Arm kann ich ohne Einschränkung bewegen. Da ist nur ein unangenehmes Ziehen, aber das passt schon.«
Ich entlasse einen langen Atemzug, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn angehalten hatte.
»Verstehe.«
Wir nähern uns Ouzinkie und damit der mutmaßlichen Position des Gesuchten.
»Es wird hässlich da draußen«, kommt es aus dem Laderaum von Baywatch.
»Die Wolkendecke kommt immer weiter runter, so viel ist sicher«, bestätige ich seufzend. »Wird nicht einfach, die kleine Schüssel zu finden. Haltet die Augen offen. Und ich funke derweil Kanal sechzehn an. Vielleicht kommt ja schon irgendwas zurück.«
»Roger, Sir«, rieseln die Rückbestätigungen meiner Teamkollegen ins Headset, auch die von Commander Neill.
Dass er hier nicht den Oberboss raushängen lässt, während ich fliege und die Verantwortung für die Mission zu tragen habe, macht ihn irgendwie sympathisch. Er versucht nicht, das Steuerruder an sich zu reißen. Jeder von uns kann wie gewohnt seiner Aufgabe nachgehen, während wir eng im Team zusammenarbeiten.
»Blue Crab«, beginne ich den Funkspruch mit dem Namen des gesuchten Bootes. »Hier spricht die Küstenwache. Kommen. Over.« Wie befürchtet, bleibt die Leitung stumm. Ich wiederhole mich: »Blue Crab, bitte kommen. Hier spricht die Küstenwache. Over.« Wieder erhalten wir keine Rückmeldung und so kreisen wir weiter. Ein guter Anlass, unseren Treibstoffverbrauch zu überprüfen. Noch ist alles im grünen Bereich. »Blue Crab, hier spricht die Küstenwache. Bitte kommen. Over.«
»Ich hab ihn«, ruft Commander Neill aus, kaum, dass ich meinen Funkspruch beendet habe. »Auf neun Uhr.«
Mit seinem weißen Anstrich hebt sich das Boot im Sprühnebel der See kaum von den weißen Schaumkämmen auf den Wellen ab. Aber ich sehe es. Jetzt muss es sich nur noch um unseren Gesuchten handeln. Ich versuche mein Glück.
»Blue Crab, Hier ist die Küstenwache, wir kreisen über Ihnen. Sehen Sie uns? Over.«
Es vergehen einige Sekunden, in denen keiner von uns spricht. Dann ist das erlösende Knacken des Funkgeräts zu hören.
»Hier Blue Crab. Ich sehe Sie. Over.«
Fuck, ja. Ich atme auf.
»Okay, wir sind visuell«, informiere ich meine Teamkollegen. »Blue Crab, Sie haben sich ja nicht den besten Tag für eine Spazierfahrt rausgesucht. Wie geht es Ihnen, Captain? Over.«
»Es ging schon mal besser«, sagt er. Ein ohrenbetäubendes Rauschen ertönt, bevor Cameron Heynes erneut spricht. »Ich wollte nur mal den Kopf freikriegen und dachte vorm großen Sturm wäre ich wieder zu Hause.« Jedes Wort wird begleitet von heftigem Keuchen und knallenden Lauten, als würde er beim Wellengang in seiner Kajüte hin und her geworfen wie ein Beachvolleyball. »Diese Wellen machen mich fertig. In welche Richtung muss ich denn jetzt, wenn ich nach Port Lions will?«, fragt er. »Fünf Meilen nach Westen?«
Kurz kneife ich die Augen zusammen. Der Mann hat keine Ahnung, wie weit ihn das Meer mit sich gerissen und damit von seinem Heimathafen entfernt hat.
»Südwesten«, sage ich. »Sie haben Port Lions in nordöstliche Richtung verlassen. Und es sind elf Meilen, Captain. Over.«
»Sir, er nimmt über das Heck haufenweise Wasser auf. Sehen Sie das?«, gibt mir unser Schwimmer aus dem Laderaum Bescheid. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie er und Baywatch hinten an der Scheibe kleben.
»Ich sehe, was Sie meinen, Archer. Am besten schicken wir Sie im freien Fall runter«, gebe ich zurück. »Holen Sie ihn da raus, bringen Sie ihn zum Korb und dann ziehen wir Sie nacheinander hoch.«
»Roger, Sir.« Nachdem das geklärt ist, mache ich mich bereit, Cameron Heynes mit einem erneuten Funkspruch über das weitere Vorgehen zu informieren, da fügt Archer plötzlich hinzu: »Wo ist er hin? Ich kann das Boot gerade nicht finden.«
Sofort beginne ich, mein begrenztes Blickfeld nach dem Fünfundsechzigjährigen abzusuchen.
»Drehen Sie uns um 360 Grad. Finden Sie bitte dieses Boot«, grätscht Commander Neill dazwischen.
»Oh Scheiße, da ist es ja«, rufe ich, als ich das Boot in einer Wasserschlucht zwischen den Wellen entdecke. »Zwei Uhr.«
»Hier ist Blue Crab. Mir geht's gut«, funkt uns Cameron Heynes an, als wüsste er, dass wir auf heißen Kohlen sitzen. »Das Boot ist in Ordnung. Ich muss es jetzt nur dringend wieder nach Hause bringen.«
Das kann noch nicht sein beschissener Ernst sein.
»Blue Crab, nochmal zur Erinnerung«, antworte ich bestimmt. »Sie befinden sich elf Meilen außerhalb der Ortschaft. Ich empfehle Ihnen dringend, an Bord des Helis mit uns zurück nach Kodiak zu kommen. Over.«
Commander Neill berührt für einen Moment meinen Unterarm.
»Ich bringe ihn zur Vernunft«, keucht er und beginnt seinen Funkspruch. »Cameron, hier ist Xander.« Pause. Warum atmet er so schwer? »Lass das beschissene Boot zurück! Wenn schon nicht zu deiner eigenen Sicherheit, dann tue es wenigstens für Sky und mich. Oder für Sam.« Der Mann keucht wie eine Dampflok. »Ich kaufe dir einen neuen Kahn, du sturer Bock. Over.«
Der letzte Teil war aufgrund seiner schweren Atmung nur schwer zu verstehen. Es ist warm hier drin. Bekommt er vielleicht deshalb etwas schwerer Luft als sonst?
»Mann! Aber wo wird es dann hin treiben?«, erwidert der alte Mann. Ich muss mir förmlich auf die Zunge beißen, um ihn nicht anzuschnauzen. Kapiert der nicht, dass er mit dieser Diskussion Zeit vergeudet und damit nicht nur sich selbst, sondern uns alle gefährdet? Wir können nicht ewig im Schwebeflug bleiben, das erhöht unseren Treibstoffverbrauch.
»Mach dir keine Gedanken«, presst
Commander Neill hervor, als hätte er gerade einen Halbmarathon hinter sich. »Die Schüssel ist im Vergleich zu deinem Leben gar nichts wert. Komm einfach mit uns nach Hause. Bitte bestätigen. Over.«
»Ahh«, knurrt Captain Heynes. »Ich will nicht. Kacke ... Aber ihr habt recht.«
Kaum, dass er den Satz beendet, merke ich, wie hinter mir Bewegung in den Laderaum kommt. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sich Archer und Baywatch auf das Rettungsmanöver vorbereiten.
»Tür ist geöffnet, Schwimmer hält sich bereit. Erlaubnis erteilt, ihn im freien Fall runterzuschicken?«, erkundigt sich unser Bordmechaniker.
Es geht los.
»Erlaubnis erteilt«, bestätige ich.
»Schwimmer ist auf der Brücke. Absprung Schwimmer.«
Ich schwenke herum, bis ich Archers knallorangen Tauchanzug entdecke, der ihn von hier oben wie eine Boje aussehen lässt. Doch weder Rotorabwind noch Wellengang bringen ihn davon ab, mit der Zielstrebigkeit eines Haifischs an Camerons Boot heranzuschwimmen und ihm ins Wasser zu helfen.
»Schwimmer hat die Blue Crab erreicht und gibt Signal für den Korb«, informiert mich Baywatch.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sich der Commander mit gefletschten Zähnen vorn über krümmt. Fuck, was läuft hier gerade? Mit beiden Händen scheint er den Ausschnitt seines Trockentauchanzuges aufreißen zu wollen. Okay, er bekommt definitiv keine Luft.
Meine Herzfrequenz multipliziert sich. Eine heftige Böe trifft uns in genau diesem Moment. Es ist verdammt schwer, den Vogel gerade zu halten.
»Haben Sie Schmerzen hinter dem Brustbein, Commander?«, frage ich, wobei mein Blick weiterhin nach vorn gerichtet ist. Wenn ich mich jetzt nicht konzentriere, gehen wir hier gleich alle drauf.
»Ja«, stöhnt er. »Ich habe ... Infarkt vielleicht. Ah, Fuck. Keine Luft.«
»Wie kann ich helfen?«, will Baywatch von mir wissen. Ohne unseren Co-Piloten läuft die Seilwinde nicht, was bedeutet, dass sich der Bordmechaniker gerade nicht seiner eigentlichen Aufgabe widmen kann.
»Buchannon, Sie müssen hier erstmal Nothilfe leisten«, weise ich ihn an. »Vorher werfen Sie Archer und Cameron aber noch eine Rettungsinsel runter. So bekommen nur drei Familien eine Begräbnis-Flagge, wenn das hier schiefgeht.«
Mein Gefühl sagt mir, dass der Einsatz kein gutes Ende nehmen wird. Womöglich sterben wir hier.
»Ganz Ihrer Meinung, Sir. Rettungsinsel wird abgeworfen.«
Baywatchs Stimme bebt. Wir sind Profis – aber eben keine verfickten Roboter. Der Mann hat eine Frau und drei Kinder.
»Versuchen Sie den beiden da unten ihre Lage begreiflich zu machen. Ich sorge dafür, dass die zwei durchkommen, indem ich Verstärkung anfordere«, lasse ich ihn wissen und atme. Ruhig, Byrne. Du hast alles im Griff. Noch. »Sektor Anchorage, unser Co-Pilot hat höchstwahrscheinlich einen Infarkt und zwei Männer sind im Wasser. Die Rettungsinsel wurde abgeworfen. Schicken Sie bitte ein weiteres Team und wir brauchen medizinische Notversorgung auf dem Rollfeld in Kodiak. Bitte bestätigen Sie. Over.«
»Bestätige. Kehren Sie sicher zur Basis zurück und halten Sie durch Lieutenant. Wir beten für Sie alle. Over.«
»Komm mir nicht mit dem Scheiß«, will ich zurück brüllen, meine Wut an ihm auslassen, aber das geht natürlich nicht. »Danke. Bitte überwachen Sie die Notfrequenz. Wir melden uns. Over«, ringe ich mir stattdessen ab. Der Wind zeigt sich von unserem Dilemma völlig unbeeindruckt und führt seinen Wutanfall fort. Ich kann nicht einmal die linke Hand entbehren, um sie Commander Neill beruhigend auf den Arm zu legen. Um überhaupt irgendwas für ihn zu tun. Meine Stimme muss genügen. »Baywatch kümmert sich gleich um Sie, Sir. Halten Sie durch. Sky braucht Sie. Ersparen Sie ihr bitte ein Leben ohne ihren Dad. Ich flehe Sie an.«
»Sagen Sie Sky ... Argh!«
Er schafft es nicht, seinen Satz zu beenden, aber immerhin ist er noch bei Bewusstsein.
»Ich sag' ihr gar nichts, weil Sie das nämlich machen werden. Kommen Sie Mann. Sie müssen kämpfen!«
»Mhh«, ächzt er und ich heule fast vor Erleichterung, als Baywatch in meiner Peripherie auftaucht.
Er muss sich am Sitz des Commanders festkrallen, um nicht durch die Kabine geschleudert zu werden. Sein Gurt, mit dem er im Inneren des Laderaums gesichert ist, kann ihm jetzt auch nicht helfen.
Das Gesicht des Commanders hat eine blass-graue Färbung angenommen. Er hängt da wie ein Schluck Wasser.
»Ich werde Sie jetzt bequem lagern, Sir, mit erhöhtem Oberkörper und Ihren Tauchanzug machen wir auf«, redet der Bordmechaniker mit ruhiger Stimme auf ihn ein. Auch wenn wir ihn in dieser Situation nicht von jeglicher Aufregung abschirmen können, müssen wir es zumindest versuchen.
Ich würde jetzt doch dieses Gebet nehmen, das der Mitarbeiter der Zentrale vorhin angepriesen hat.
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