Die Sonne ging langsam unter und tauchte mein Zimmer in ein rötliches Licht. Angespannt schaute ich aus meinem Fenster. Im Hof tummelten sich noch einige Bedienstete, jedoch wurden es mit der Zeit schnell immer weniger.
Es würde noch eine Weile dauern, bis alle in ihre Gemächer eingekehrt waren und nur die Wachen zurückblieben. Bis dahin musste ich warten.
Ich hatte versucht, am Tag ein paar Stunden zu schlafen, damit ich wach bleiben konnte. Das hatte zwar nicht ganz so geklappt, aber ich hatte mich zumindest etwas ausruhen können und die Aufregung vertrieb jede Müdigkeit.
Bald war es so weit, sehr bald. Kurz vor Mitternacht holte ich das Seil von Eko unter meiner zusammengelegten Kleidung hervor und band es an dem Fuß meines Bettes an. Das sollte stabil genug sein, um mein Gewicht zu halten und sonst gab es kaum etwas, das nah genug am Fenster stand, um es daran zu befestigen. Ich machte sicherheitshalber mehrere Knoten.
Ich hörte die Glocken schlagen, ansonsten war alles still. Eko würde mir ein Signal schicken, erst dann würde ich aus dem Fenster klettern.
Die Minuten zogen sich endlos dahin, die Nacht schien dahinzuschwinden, zumindest kam es mir so vor. In meiner Reitkleidung, die sich am besten zum Klettern eignete, und einem Umhang kniete ich vor meinem Fenstern und wartete und wartete.
Endlich ertönte das Signal, es klang wie der Ruf einer Eule, doch es war eindeutig Eko. Er hatte mir einmal versucht beizubringen, wie man die Hände formte und hineinbließ, um einen Vogelruf nachzuahmen. Ich war darin nicht besonders gut, hatte es aber tatsächlich einmal geschafft.
Schnell vergewisserte ich mich, dass der Hof unter mir menschenleer war, dann kletterte ich über das Fensterbrett, umklammerte das Seil und atmete einmal tief durch. Wenn ich hier abstürzte, würde ich vermutlich nicht sterben, dazu war ich nicht hoch genug, aber ich konnte mich trotzdem ernsthaft verletzten. Wenn ich mir bei dieser Aktion das Bein brach, konnte ich den Rest vergessen.
Ich stemmte mich mit den Beinen an der Mauer ab und machte einen Schritt nach dem anderen abwärts, das Seil fest im Griff. Es war deutlich anstrengender, als ich anfangs gedacht hatte und ich kam langsamer voran, aber es klappte.
Ungefähr auf halber Höhe, ich traute mich nicht, runterzuschauen, hörte ich ein Geräusch. Nicht das Pferdewiehern in der Ferne, sondern ein sehr viel näheres, schabendes Geräusch. Erschrocken drehte ich den Kopf. Kam eine Wache auf mich zu, war ich entdeckt worden?
In der Dunkelheit konnte ich nicht viel ausmachen, doch als ich den Blick etwas hob, erkannte ich einen dunkleren menschengroßen Fleck an der Mauer nicht weit von mir entfernt. Im ersten Moment dachte ich, jemand würde bei uns einbrechen, aber dann erkannte ich, dass die Person abwärts kletterte, so wie ich.
Während ich sie beobachtete, erreichte sie meine Höhe. Ich konnte sie immer noch nicht erkennen, aber ich entschied mich kurzerhand dazu, einfach weiterzuklettern und sie unten zu stellen. Die andere Person hatte mich anscheinend noch nicht bemerkt, da sie den Kopf von mir abgewandt hatte.
Wer könnte sich um diese Zeit ebenfalls rausschleichen wollen und aus welchem Grund? Ich hatte eine Vermutung anhand unserer Entfernung, wer es sein könnte, sicher war ich mir aber nicht.
Ich kletterte ein bisschen schneller, um vor der anderen Person am Boden aufzukommen, immer noch darauf bedacht, nicht abzurutschen.
Unten schlich ich die paar Meter zu der Stelle, wo die Person noch eine Menschenlänge über dem Boden hing. Aus der Nähe erkannte ich nun, dass sie nicht so wie ich ein Seil verwendet hatte, sondern zusammengeknotete Bettlaken. Sie musste diese wirklich fest verknotet haben, dass sie ihr Gewicht trugen.
"Ungewöhnliche Art, seine Gemächer zu verlassen in der Nacht vor seiner Hochzeit, Prinzessin." Bei meinen Worten schreckte Prinzessin Lenore zusammen, als sie den Boden berührte und wirbelte herum. Mit dem Rücken zur Wand und großen schreckgeweiteten Augen starrte sie mich an. Nun gab es keinen Zweifel mehr, um wen es sich handelte.
Bei ihrem Anblick breitete sich ein breites Grinsen über mein Gesicht. Ich schlug die Kapuze meines Umhangs zurück und verfolgte ihre Reaktion, als sie mich erkannte. Ein wahrscheinlich unbewusst angehaltener Atem entwich ihr.
"Ich könnte dich dasselbe fragen", erwiderte sie und straffte die Schultern. Ein Glitzern an ihrem Hals erregte meine Aufmerksamkeit. Der Schlüssel.
"Wenn du mir verrätst, was du vorhast, kann ich dir vielleicht helfen. Wir könnten uns gegenseitig helfen", bot ich ihr an. Sie war bestimmt nicht einfach so zum Spaß aus ihrem Fenster gekletterte, wenn sie einfach ihr Zimmer durch die Tür verlassen konnte, wenn sie Lust auf einen Mitternachtspaziergang hatte. Außerdem wollte ich den Schlüssel.
"Wie kommst du darauf, dass ich Hilfe bräuchte und warum sollte ich dir verraten, was ich vorhabe?", erwiderte Lenore entrüstet.
Sie trug ein einfaches Kleid und hatte eine Tasche umgehängt. Es sah nicht so aus, als würde sie einfach einen kleinen Spaziergang machen wollen.
"Keine Ahnung, wie auf diesen absurden Gedanken komme, aber es sieht so aus, als würdest du das Schloss verlassen wollen und das heimlich. Wenn das der Fall ist, durchs Schlosstor wirst du nicht unbemerkt kommen, denn es wird bewacht. Ich kenne einen Geheimgang, den ich dir zeigen kann."
Sie sah mich misstrauisch an. Natürlich bot ich ihr meine Hilfe nicht ohne eine Gegenleistung an und sie wusste das. Sie schien zu überlegen, ob sie mir vertrauen konnte. In Anbetracht dessen, dass ich noch nicht die Wachen gerufen hatte und selbst aus meinem Fenster geklettert war, entspannte sich ihre Miene etwas.
"Na gut, was hast du vor?", fragte sie mit hochgezogenen Schultern.
Ich bedeutete ihr, mir zu folgen. Gemeinsam schlichen wir uns die Mauer entlang, ich lugte vorsichtig hinter die nächste Ecke und als niemand zu sehen war, huschten wir über den Hof. Als wir uns dem Kerker näherten, der nun unbewacht war, klärte ich sie auf. "Vor ein paar Tagen wurde jemand Unschuldiges festgenommen, den ich befreien möchte."
Lenore sah mich ungläubig an. Für einen Moment dachte ich, sie würde die Wachen rufen, doch dann würde man sie auch entdecken und sich fragen, was sie nachts hier draußen zu suchen hatte.
"Und wie willst du ihn befreien?"
Mit einem verschwöcherischen Grinsen deutete ich auf ihre Brust, auf den Schlüssel. "Damit." Sie sah mich daraufhin nur noch verwirrter an.
Die Tür zum Kerker quietschte leicht, als ich sie öffnete und ich hoffte, dass es niemand gehört hatte. Bei dem Geräusch zuckten wir beide zusammen, erstarrten und lauschten in die Nacht. Es war nichts zu hören.
Auf leisen Sohlen quetschten wir uns durch den Türspalt. Der Gang dahinter war dunkel, nur vereinzelte Fackeln an den Wänden spendeten etwas Licht. Ich folgte dem Lichtschein eine steinerne Treppe abwärts, Lenore dicht hinter mir.
Unten verbreitete sich der Gang und öffnete sich zu einem Raum zu unserer Rechten. Die Tür war halb offen, Licht drang daraus hervor gefolgt von einem Geräusch. Es war der Raum, in dem sich die Wachleute ausruhen konnten und als ich genauer hinhörte, erkannte ich, dass es sich bei dem Geräusch um Schnarchen handelte. Im Stillen dankte ich Maya und ihre Idee mit dem Wein.
Die Fackeln wurden immer weniger und der Gang immer dunkler, bis wir zu den Zellen kamen. Sie waren alle leer, bis auf eine.
Ich war mir sicher, dass wir uns vollkommen lautlos fortbewegten, doch als wir näher kamen, brummte eine dunkle Gestalt: "Was wollt ihr?"
Eine glühende Wärme erfüllte mein Innerstes. Es war eindeutig Vi's Stimme! Einerseits war ich froh, dass er es war, andererseits hatte ich noch einen winzigen Funken Hoffnung besessen, dass alles nur ein schrecklicher Irrtum war und jemand anderes eingesperrt worden war.
Ich schluckte einen Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bilden wollte, nahm eine Fackel in die Hand und trat die letzten paar Schritte vor seine Zelle. Lenore hielt sich zurück und blieb im Schatten.
Vi hob den Kopf, seine Narbe glänzte heller im Schein der Fackel, seine dunklen Augen schimmerten. Sein Bart war voll und länger als beim letzten Mal, als wir uns sahen. "Wer bist du?", erklang seine kratzige Stimme.
Natürlich erkannte er mich nicht sofort. Er wusste auch nicht, dass ich hier war, um ihn zu befreien. Maya hatte es ihm nicht sagen können, ohne dass die Wachen sie belauscht hätten.
"Ich bin's", sagte ich betont ruhiger Stimme und strich mir die Kapuze meines Umhangs vom Kopf, die ich zuvor aufgesetzt hatte.
"Yara?", stieß er ungläubig hervor. Sein Gesicht hellte sich auf, dann verdüsterte es sich wieder. "Was tust du hier? Du solltest nicht hier sein!"
Bevor ich zu einer Antwort ansetzten konnte, kam es von Lenore: "Prinzessin, wir sollten uns beeilen, bevor die Wachen aufwachen und etwas bemerken. Hier", sie reichte mir den Schlüssel.
Ich konnte an Vi's Gesicht ablesen, als er zwei und zwei zusammenzählte. Er wollte etwas sagen, doch ich schüttelte nur den Kopf. "Nicht jetzt, später."
Hoffentlich irrte ich mich nicht. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss von Vi's Zelle, zählte bis drei und drehte ihn um. Es machte ein klickendes Geräusch, dann ließ sich die Tür öffnen. Innerlich jubelte ich und bedeutete Vi, uns zu folgen.
Er zögerte für einen Moment, doch dann trat er aus der Zelle und eilte mit uns den Gang entlang, an dem Raum mit den Wachen vorbei, die Treppe hinauf und hinaus. Wir hatten es fast geschafft!
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Wortanzahl:
Kapitel: 1534 Wörter
Insgesamt: 10.907 Wörter
Wir sind schon ungefähr in der Hälfte der Geschichte und des 3. Meilensteins (20.000 Wörter), das ging doch schneller als gedacht. ^^
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