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"Adeena Evelyn Zariah!" Bei dem Ton meiner Mutter blieb ich augenblicklich stehen und zog instinktiv den Kopf ein. Wenn sie mich bei meinem vollen Namen rief, hatte das meistens nichts Gutes zu bedeuten, zumindest nicht für mich. Jedoch war ich mir nicht sicher, worüber sie dieses Mal verärgert war.
Bevor sie meine Haltung kritisieren konnte, straffte ich meine Schultern und drehte mich mit einem unschuldigen Lächeln zu ihr um. "Ja, Eure Majestät?", fragte ich in dem höflichsten Ton, den ich aufbringen konnte, wofür ich ein Augenrollen erntete. Titel hatten innerhalb der Familie laut ihr nichts zu suchen, schließlich war sie nicht nur Königin sondern auch Mutter.
"Wo warst du? Dein Tutor hat mich soeben darüber informiert, dass du wieder nicht in seinem Unterricht gewesen bist", kam sie ohne Umschweife zur Sache. Ihre stahlblauen Augen schienen mich zu durchbohren, als könnten sie auf der Suche nach einer Antwort in mein Innerstes sehen. Mit diesem Blick konnte sie die stärksten Männer in die Knie zwingen, aber nicht ihre eigene Tochter.
Wenn sie meine Gedanken lesen könnte, wie so manche hinter vorgehaltener Hand behaupteten, hätte es keinen Sinn, ihr etwas zu verheimlichen oder zu schwindeln. Doch Königin Enora war nur ein Mensch wie wir alle. Eine glatte Lüge durchschaute sie jedoch meist, so scharfsinnig wie sie war. Man musste aber nur genau auf das Verhalten seines Gegenübers achten, das war keine Zauberei, man konnte es lernen.
Umgekehrt traf dies genauso zu, wer glaubhafte Lügen erzählen wollte, musste ein paar Dinge beachten. Abgesehen von der Körperhaltung, Mimik und Blickkontakt war eine Sache jedoch von entscheidender Bedeutung: die Wahrheit. Wer lügen wollte, musste die Wahrheit sagen, so paradox es auch klang.
"Der Geschichtsunterricht ist so langweilig, dass der Tutor selbst einschläft", gab ich wahrheitsgemäß zu und ahmte ein Gähnen nach. Als ich das letzte Mal über die Entstehung unseres Königreiches lesen musste, wäre ich eingeschlafen, hätte mich sein Schnarchen nicht wach gehalten. Der Mann war einfach schon zu alt zum Unterrichten, bestimmt hatte er die ganze Geschichte selbst miterlebt.
"Somit war ich in der Bibliothek und hab nach Büchern gesucht, um mich selbst zu informieren", fügte ich hinzu, was auch zum Teil stimmte, schließlich kam ich gerade von dort. Zur Bestätigung zeigte ich ihr mein Buch, das ich zuvor unter dem Arm getragen hatte. Die Königsfamilie von Eldoria stand auf dem Einband. Zum Glück hatte ich daran gedacht mir irgendein Buch zu schnappen, bevor ich ging. "Ich möchte es später in meinem Zimmer weiterlesen."
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn gelesen hatte ich bisher nichts davon. Mein Aufenthalt in der Bibliothek war ebenso von kurzer Dauer gewesen. Niemand, besonders nicht meine Mutter, sollte wissen, wo ich wirklich gewesen war.
Mit einem milden Lächeln zwinkerte mir meine Mutter zu. "Ich fand Geschichte in deinem Alter auch todlangweilig. Wir finden einen neuen Tutor für dich, der nicht ganz so... einschläfernd ist." Bevor ich sie umarmen konnte und ihr sagen, was für eine tolle Mutter sie doch war, fügte sie ermahnend hinzu: "Bis dahin wirst du selbstständig lernen und mich beim Abendessen über deinen Fortschritt informieren."
Wie es sich für eine Prinzessin gehörte, nickte ich leicht als Antwort, protestieren half in diesem Fall sowieso nichts. "Natürlich, Mutter." Als ich mich von ihr abwenden und weitergehen wollte, hielt sie mich jedoch zurück. Hoffentlich sagte sie mir jetzt nicht, dass sie mich beaufsichtigen lassen würde. Ich brauchte keinen Aufpasser, außerdem würde er mir bei meinen "Ausflügen" nur in die Quere kommen.
"In den nächsten Wochen wird die zukünftige Braut deines Bruders ankommen", erinnerte sie mich, "bis dahin müssen wir noch ein Kleid für dich aussuchen. Komm." Ach, das war also der Grund, warum sie mich persönlich gesucht und nicht einen Diener nach mir geschickt hatte. Oder vielleicht hatte sie jemanden geschickt, jedoch war ich nicht auffindbar gewesen.
Ergeben folgte ich ihr ins Ankleidezimmer, in dem bereits unzählige Stoffe überall herumlagen und der kleine Tisch unter einem Stapel Skizzen verschwand. Bisher hatte ich mich davor gedrückt, aber die Hochzeit meines Bruders rückte immer näher und dafür musste ich natürlich perfekt aussehen. Unsere Hofschneiderin präsentierte uns einige Entwürfe und vorgefertigte Kleider zum Anprobieren.
Wie erwartet traf meine Mutter die Auswahl, mit meiner Wahl war sie nie zufrieden. Entweder zeigte ich zu viel Haut oder zu wenig, das eine Kleid war zu extravagant, das andere zu schlicht. Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich mich fragte, ob sie nichts Wichtigeres zu tun hatte, konnten wir uns auf einen Kompromiss einigen.
~~~
Ein paar Stunden zuvor
Das Gedränge und der Lärm des Marktplatzes machte mir kaum noch etwas aus. Geschickt wie ein Fisch schob ich mich durch die Menschenmenge und tauchte darin unter. Ich schreckte auch nicht mehr zurück, wenn mich jemand am Arm streifte oder ein Marktschreier neben mir auftauchte und herumschrie, wie frisch doch seine Ware war.
Wenn die Menschen um mich herum nur ahnen würden, dass ich ihre Prinzessin war, würden sie bestimmt einen großen Abstand halten. Aber wer würde schon glauben, dass sich die Tochter des Königs hosentragend unter das einfache Volk mischen würde.
Obwohl ich kaum meine Arme ausstrecken konnte, ohne jemanden zu stoßen und auch selbst aufpassen musste, keinen Ellbogen ins Gesicht zu bekommen, fühlte ich mich hier so viel freier als im Schloss. Ich war ein gleichwertiger Teil der Gesellschaft und niemand verlangte von mir, perfekt zu sein. Es gefiel mir, mich so normal zu fühlen.
Die intensiven Gerüche von geräuchertem Fisch, Käse und frisch gebackenem Kuchen und Gebäck lagen in der Luft. Wie von selbst fanden meine Füße den Weg zum Bäcker und ich wartete, bis ich an der Reihe war. Mit einem Taler aus meinem Geldbeutel, den ich vor Dieben sicher in meiner Innentasche trug, kaufte ich mir ein warmes Brötchen, frisch aus dem Ofen.
Als ich herzhaft hineinbiss, fragte ich mich abermals, wie etwas so simples so gut schmecken konnte. Wenn ich unserem Küchenmeister gegenüber auch nur andeuten würde, dass mir ein einfaches Brötchen genauso gut, wenn nicht sogar besser, als sein Gebäck schmeckte, würde er mir mit dem Kochlöffel drohen - nicht, dass er jemals eine Hand gegen mich erheben würde.
"He, du Satansbraten! Was fällt dir ein, dich an meinen Äpfeln zu vergreifen!", drang es an mein Ohr und brachte eine unangenehme Erinnerung zum Vorschein. Sogleich folgte ich der wütenden Stimme, nur um zu sehen, wie die alte Obsthändlerin einen kleinen Jungen am Handgelenk gepackt hielt. Die andere Hand erhoben, bereit ihm eine Ohrfeige zu verpassen.
Instinktiv sprintete ich auf sie zu, um sie davon abzuhalten. "Halt, tun Sie ihm nicht weh! Ich bezahle für die Äpfel." Die füllige Dame schnaubte missbilligend, ließ den Jungen jedoch los. Eilig kramte ich zwei Taler hervor, ließ sie in ihre wartende Hand fallen und nahm zwei schöne rote Äpfel.
Der Junge hatte sich in der Zwischenzeit nicht vom Fleck gerührt, seine Augen begannen zu glänzen, als ich ihm die Äpfel hinstreckte. Als hätte er Angst, ich könnte meine Meinung noch ändern, schnappte er sich beide und drückte sie eng an seine Brust, die nur von einem löchrigen dreckigen Leinenhemd bedeckt wurde. Seine Hose war an den Knien zerrissen und reichte ihm nur bis knapp über die Knöchel.
Es war unschwer zu erkennen, dass er keine Eltern mehr hatte und sich mit seinen höchstens zehn Jahren durch Betteln und Stehlen selbst versorgen musste. Als Prinzessin hatte ich alles, als Waisenjunge hatte er nichts. Was für mich selbstverständlich war, bedeutete ihm die Welt. Und doch beneidete ich ihn um seine Freiheit, wohl wissend um den Preis, den er dafür zahlte.
Mit einem breiten Lächeln und ohne Schuhe rannte er davon und verschwand in einer dunklen Gasse. Hätte ich mein Brötchen nicht schon aufgegessen, hätte ich es ihm gegeben, sein Hunger war bestimmt größer als meiner.
So verschieden wir und unsere Umstände auch waren, hatte ich mich in der selben Situation wie er gesehen. Bevor ich mich das erste Mal aus dem Schloss geschlichen hatte, wusste ich noch nicht, was Armut wirklich bedeutete. Ich dachte, alle wären glücklich und zufrieden. Die Wahrheit zu erfahren hatte weh getan.
Die Obsthändlerin schaute mich eindringlich an, so als würde sie mich erkennen. Nicht als ihre Prinzessin, sondern von meinem ersten Ausflug als ich an der Stelle des Jungen war. Damals wusste ich noch nicht, dass ich mir nicht alles nehmen konnte, was ich wollte. Zu meinem Glück kam mir jemand zu Hilfe, so wie ich nun dem Jungen.
Meine Hand schmerzte in ihrem eisernen Griff, Tränen verschleierten meine Sicht. "Lassen Sie das arme Mädchen gehen, ich bezahle für sie."
In Gedanken bahnte ich mir einen Weg zu meinem damaligen Retter und bestem Freund. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein grimmiger Riese, auf den zweiten Blick auch, aber wenn man genauer hinschaute, erkannte man seinen weichen Kern.
"Yara!", begrüßte er mich sogleich mit seiner klangvollen tiefen Stimme, als ich mein Ziel erreichte. Wie von selbst schoben sich meine Mundwinkel nach oben, als ich den Namen hörte, den ich mir selbst ausgesucht hatte. Jeder kannte den Namen der Prinzessin, somit musste ich mir einen anderen überlegen.
"Hallo, Vi!", erwiderte ich breit grinsend und begegnete dem warmen Blick aus seinen goldbraunen Augen. Die breite Narbe, die sich quer über seine Nase und Wange bis zu seinem linken Mundwinkel zog, fiel mir kaum noch auf. Woher er sie hatte, verriet er niemandem.
Seine eindrucksvolle Gestalt machte seinem Namen alle Ehre, Vídarr, der Waldkrieger, doch im Grunde war er so weich wie ein Teddybär. Er konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun, zumindest nicht solange diese Fliege niemanden schikanierte.
Prüfend ließ ich meinen Blick über die geschnitzten Figuren auf seinem Tisch wandern. Vídarr hatte ein Händchen für alles, was mit Holz zu tun hatte, egal ob Alltagsgegenstände oder Kinderspielzeug. Ich war immer wieder fasziniert von seinem Können und der Detailgetreue seiner Figuren.
Besonders angetan hatte es mir heute ein kleiner Vogel aus hellem Holz. Bevor ich fragen konnte, wie viel er kostete, brummte Vi freundlich: "Ich schenke ihn dir." Ich wusste, wie viel Zeit und Mühe er in jede einzelne Figur steckte, so ein Geschenk konnte ich nicht einfach so annehmen.
Verhement schüttelte ich den Kopf und kramte meinen Geldbeutel hervor. "Ich werde bezahlen, du musst mir nichts schenken."
"Es würde mich aber freuen, wenn du ihn annimmst. Ich bestehe darauf." Bevor ich weiter protestieren konnte, wickelte er den kleinen Vogel in ein Stück Papier und reichte ihn mir.
Wenn das so war, konnte ich doch nicht ablehnen.
"Na gut, ich danke dir. Aber im Gegenzug möchte ich dir auch etwas schenken." Bevor er abwehren konnte, steckte ich den kleinen Vogel ein und verabschiedete mich von ihm. Es war höchste Zeit, dass ich mich zurück ins Schloss schlich, bevor mich jemand vermisste.
Auf dem Heimweg überlegte ich, was ich Vídarr schenken könnte. Vielleicht ein neues Schnitzmesser oder einen Schleifstein? Nein, auch wenn er sich bestimmt darüber freuen würde. Am besten wäre etwas, dass er immer bei sich tragen konnte und sofort an mich dachte, wenn er es sah.
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Wortanzahl
Kapitel: 1813 Wörter
Insgesamt: 2163 Wörter
1. Meilenstein geschafft, yay! ;D
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