Zwei Seelen
Sie war ein einsames Mädchen.
So unschuldig, so klein.
Sie gab sich größte Mühe, sie lachte lauter als alle Anderen, sie sang lauter als sie, sie erzählte ihre Geschichten mit leuchtender Euphorie, und doch hörte ihr nie jemand zu.
Sie saß oft alleine am Meer, lauschte der Stille, die sie bereits ihr ganzes Leben umgab.
Sie sah die Sonne untergehen und wieder aufgehen und fragte sich, was sie falsch machte, was ihre Einsamkeit erklärte.
Sie lachte immer seltener, sie hörte auf, mit den Anderen zu singen, sie begann, ihre Geschichten leiser zu erzählen, bis sie irgendwann ganz verstummte, doch es hörte ihr sowieso niemand zu.
Sie ging nur noch mit gesenktem Blick, nahm die Welt nur noch durch einen Tränenschleier wahr, bis sie nicht einmal mehr in der Lage war, Tränen aufzubringen.
Sie war unsichtbar geworden, aber wenn man es sich recht überlegte, war sie bereits ihr ganzes Leben lang unsichtbar gewesen.
♢ ♢ ♢
Er war ein zerbrochener Junge.
So unschuldig, so klein.
Er hatte zu viel gesehen, zu viel Leid erfahren.
Seine Kinderaugen waren schon immer mit Tränen gefüllt, warteten schon immer auf jemanden, der ihn festhielt, ihn umarmte und ihm zeigte, dass die Welt nicht nur dunkel und böse war.
Doch egal wie lange er wartete, niemand umarmte ihn, niemand gab ihm die Liebe, die er verdiente, die er brauchte, nachdem ihm seine Selbstliebe verloren gegangen war.
Und so wuchs er mit kalten Augen auf, die das Weinen verlernt hatten, die starr und gefühllos auf das Leid blickten, denn all seine Gefühle waren bereits vor langer Zeit zerbrochen, zersplittert zu tausend Scherben, die selbst der gütigste Mensch nicht mehr flicken konnte.
Und so ging er mit trübem Blick durch die Welt, ohne jemals angesehen, gemocht, geliebt zu werden.
In seiner Einsamkeit sah er nichts Gutes mehr,
er hatte seinen Glauben an das Leben, an Liebe,
an die Hoffnung verloren.
♢ ♢ ♢
Ja, so gingen das einsame Mädchen und der zerbrochene Junge aneinander vorbei,
ohne sich zu bemerken,
ohne sich auch nur eines
Blickes zu würdigen,
ohne zu wissen, dass sie nicht
alleine waren.
Ja, vielleicht, wenn sie sich
angesehen hätten,
hätten sie den Schmerz des
Anderen gesehen,
vielleicht hätten sie sich in
die Augen geblickt,
und sich wiedergefunden.
Vielleicht wäre dann das einsame Mädchen endlich nicht mehr alleine, vielleicht hätte ihr dann endlich wieder jemand zugehört und sie hätte irgendwann wieder angefangen, laut zu lachen und zu singen, mit leuchtenden Augen Geschichten zu erzählen und der Junge hätte ihr dann zugehört und mit ihr gelacht und gesungen.
Ja, vielleicht wäre es dem Mädchen gelungen, die zersplitterten Gefühle des zerbrochenen Jungen zusammenzunähen, sie hätte ihn gehalten, ihn geliebt, ihm gezeigt, dass selbst die tiefste Dunkelheit und der grausamste Schmerz irgendwann vorübergingen.
Ja, wenn sie sich doch nur kurz in die Augen geblickt hätten, als sie aneinander vorbeiliefen,
ja, wenn das einsame Mädchen den Blick nicht gesenkt hätte,
wenn die Augen des Jungen nicht alles um ihn herum ausgeblendet hätten,
dann wäre vielleicht alles anders gekommen.
Dann wären sie vielleicht
glücklich geworden,
dann hätten sie vielleicht einen
Sinn gesehen,
dann wären sie nun vielleicht Hand in Hand am Meer gestanden, um den Wellen zu lauschen.
Ja, verdammt, dann wären sie vielleicht nicht einige Straßen voneinander entfernt stehengeblieben, müde vom Leben.
Dann wären sie nicht
einsam und unbemerkt gestorben, ohne gehört oder geliebt zu werden.
Wenn irgendjemand dem Mädchen zugehört hätte,
wenn irgendjemand dem Jungen ein Lächeln geschenkt hätte,
wären sie heute vielleicht noch hier.
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