Kapitel 4
Mit den Jahren hat Michael vergessen, was das Grauen eines Auftritts ausmacht. Nein, nicht ganz.
Ich habe es so nie wirklich gekannt.
Es befällt ihn. In einer Tortur von wenigen Stunden frisst es sich von Kopf bis Fuß durch seinen Körper. Und alle um ihn herum wissen es. Michael liest es in ihren Augen, die stumm seinen Schritten folgen, ungesagte Worte auf den Lippen. Sein rasendes Herz übertönt ohnehin jene, die sie an ihn richten würden.
Bis er dort raus muss, tigert er draußen herum, durch die Gänge und hinter den Vorhängen, durch das Labyrinth seiner Gedanken. Läuft, raucht, atmet. Und wieder von vorne.
Dazwischen drängen sich die Folgen seiner Rastlosigkeit, die ihn schon den ganzen Tag auf den Beinen hält. Stoppt Michael, schlottern diese vor Schwäche, und die Müdigkeit zieht ihn zugrunde.
Bleib nicht stehen, drängt er sich. Geh weiter.
Als könne er vor dem weglaufen, das ihn auf Schritt und Tritt verfolgt, die Sabotage im Schlepptau. Und dem, was ihm bevorsteht. In ein paar Minuten.
Michael bricht der Schweiß aus. Er ist nach seinem Marathon wieder hinter der Bühne gelandet und wartet auf das Unvermeidliche.
Lass das nicht zu, flüstert sein Stolz. Verweise alle auf ihren Platz, indem du beweist, dass du hierher gehörst.
Und wenn er alles nur schlimmer macht? Wie soll er sich gegen etwas wehren, das unsichtbar und erschwerend dazu unberechenbar ist?
Michael schiebt den Vorhang zu Seite und lugt durch den schmalen Spalt, als finde sich zwischen den zahlreichen Köpfen eine Lösung für all das. Letztlich stiert er wie ein Irrer zum Flügel, gefangen von der Vorstellung, ein unsichtbares Monster sitze dort und warte auf ihn.
Dann ist es soweit. Michael ballt die Hände zu Fäusten und liefert sich der Bühne und dem verräterischen Licht aus. Sein aufrechter Gang weicht den steifen Bewegungen einer Aufziehpuppe.
Ich bin eine Marionette.
Eine Marionette seiner Angst, einer fremden Macht, der Vergangenheit – wieso nur hat er sich für frei gehalten?
Vielleicht ... ist man das nie.
Er hätte sich am liebsten an den Flügel geklammert, bemüht sich dennoch, aufrecht zu sitzen und die Schultern zu senken. Sie alle sehen den Erwachsenen, innerlich jedoch holt ihn sein zehnjähriges Ich ein, das sich fehl am Platz fühlt.
Michael kneift die Augen zusammen, um das Bild zu verdrängen. Daran darf er nicht denken.
Hülle den Geist in Nebel ein.
Also verscheucht er all seine Gedankenspiele, anstatt hinein zu flüchten. Er darf nicht träumen. Das Hier und jetzt, der Flügel, seine Zuhörer sind jetzt der Traum – und es schmerzt.
Ein flacher Atemzug. Für mehr lässt er sich keine Zeit.
Wie vom Blitz getroffen schlagen Michaels Finger auf die Tasten ein. Die Lautstärke vertreibt jegliche Unentschlossenheit. Er spielt gehetzt und auf der Suche nach einem schnellen Ende – bevor sich der ungewollte Zuhörer einmischt.
Michael verabscheut es. Dieses Spiel hat nichts mit seinem eigenen zutun. Seine Hände sind wie ferngesteuert, tun, was sie gelernt haben, nicht mehr und nicht weniger. Es gleicht dem Vortrag eines auswendig gelernten Gedichtes, dessen Bedeutung man nicht begreift – hohl, seelenlos und zugleich der Perfektion nahe. Das, was er von sich selbst in Ravels Kunst einfließen lässt, fehlt.
Ondine bringt er ohne Vorkommnisse hinter sich, sodass ein Funken der altbekannten Selbstsicherheit zu ihm zurückfindet. So kämpft sich Michael mit zaghaftem Optimismus durch das zweite Stück, Le Gibet, und findet im letzten Teil, Scarbo, zu einem gemächlichen Ende.
Und ehe er sich versieht, ist es vorbei.
Es dauert einen Moment, bis der Applaus zu dem Pianisten durchdringt. Fast verpasst er seinen Einsatz aufzustehen und sich zu verbeugen. Er hetzt nach vorne und stolpert beinahe über seine eigenen Füße.
Ich hab's geschafft.
Michael lässt den Gedanken nachhallen, bis er es endlich glaubt.
Ich. Hab's. Geschafft. Es ist vorbei.
Natürlich nicht alles, nur der teuflische Tanz auf der Bühne, doch fürs Erste reicht das vollkommen aus. Die Anspannung hat ihn festgebunden, und jetzt ist ihm so leicht ums Herz, dass er glaubt, fliegen zu können.
Michael lächelt. Das erste Lächeln in dieser Stadt, und das erste, echte Lächeln seit Jahren. Unglaublich ist das einzige Wort, das ihm einfällt.
Es fühlt sich unglaublich an.
Er wäre am liebsten vor Erschöpfung zusammengeschrumpft. Geschwächt und überwältigt schafft Michael es nicht, abzuhauen. Er lässt die Menschen reden, bringt das ein oder andere Nicken zustande, lächelt höflich und beantwortet Fragen. Wie Gray es sich wünscht.
Danach schlappt er endlich in die Garderobe. Er wünscht sich nach Hause und eine ordentliche Portion Schlaf - wenn das mit dem ungebetenen Gast überhaupt klappt.
„Ich wusste, dass du das kannst."
Die Stimme taucht wie aus dem Nichts hinter ihm auf, er kennt sie. Michael schlüpft in seinen Mantel und dreht sich um. Gray steht im Türrahmen und lächelt. Er antwortet nicht.
Im Augenblick der Stille verschränkt sein Agent die Arme vor der Brust und mustert ihn von oben bis unten. „Du siehst scheiße aus."
„Hab ich doch gesagt."
„Von deinen Armen hast du gesprochen, nicht davon, dass du zum Geist geworden bist."
Michael ist nicht in der Stimmung und viel zu müde für dieses Gespräch. Dass Gray seine Schmerzen offensichtlich nicht ernst nimmt, akzeptiert er missbilligend.
„Wenn's schlimmer wird, ist das deine Schuld."
„Schon gut, schon gut, ich lass dich in Ruhe. Muss ich mir Sorgen machen, dass du angefahren wirst oder kommst du allein nach Hause?"
Sein Augenrollen ist Antwort genug. Mit einem gemurmelten „Bis dann" drängt Michael sich an ihm vorbei. Ehe er draußen ist, hält Gray ihn mit sanftem Griff am Oberarm auf. Er scheint mit den Worten zu ringen, fasst sich jedoch wieder und setzt sein übliches Grinsen auf.
„Gute Arbeit."
Dicke Flocken rieseln vom Himmel herab. Michael fröstelt und sieht auf, bis ihm prompt eine ins Auge segelt.
Wenn es noch da ist, versteckt es sich hinter den Wolken.
Er kämpft sich durch das Schneegestöber, in Gedanken bei den unsichtbaren Schatten in seiner Wohnung. Deswegen tritt er nicht ein, sondern verharrt er im Treppenhaus und gibt der Tür einen kräftigen Stoß. Die Lichtsäule erhellt den Flur, alle Räume hüllen sich in Schwärze.
Michael späht hinein, als könnte er etwas bei seinen Machenschaften ertappen. Dass nichts passiert, lässt er nach drei Minuten gelten. Einen Schritt wagt er sich hinein und betätigt den Lichtschalter. Alles ist wie immer, und der verrückte Tag erscheint wie ein Fiebertraum.
Zuerst kontrolliert er die Zimmer auf Anomalien. Im Wohnzimmer lässt er sich Zeit und umrundet sein Klavier, betrachtet es von allen Seiten. Es geschieht nichts. Er bleibt stehen und runzelt die Stirn.
Warum hat es beim Konzert funktioniert? Das Ding hätte eingreifen können.
Aber das hat es nicht, und Michael ist ratlos, wieso.
Nachdem er geduscht und das Brötchen vom Nachmittag verspeist hat, liegt Michael im Bett und wartet auf das Reich der Träume.
Nach einer halben Stunde des Herumwälzens sieht er ein, dass sein Körper es schlicht nicht mehr gewohnt ist, vor zwei Uhr morgens einzuschlafen. Doch das ist nicht alles. Die letzten Geschehnisse halten ihn wach, ploppen in einer chaotischen Aneinanderreihung von Bildern vor seinem geistigen Auge auf und lassen keinen klaren Gedanken zu.
Michael seufzt und wünscht sich die schlaflosen Nächte zurück, die er nach seinen Wünschen verbracht hat. Seine Gedanken schweifen, kehren zu einem Augenblick zurück, dem er mit Freude nachsinnt – und einer leisen Hoffnung.
Ich habe das Konzert überstanden und jetzt ist es still. Vielleicht ... Vielleicht ist das ein Zeichen.
Ein Zeichen, dass alles wieder gut wird.
Michael reißt die Augen auf, wickelt sich aus seiner Decke und stolpert durch den Flur. Sein Ziel ist das Wohnzimmer.
Ich brauche Gewissheit.
Dort steht es, stumm und unbewegt. Er schaltet das Licht an und nähert sich dem Klavier. Hastig zieht er die Kopfhörer auf, hebt die Hand und betätigt das mittlere C.
Da ist nichts.
Michael hätte das Scheißteil am liebsten umgeworfen.
Er tippt die Taste erneut, nochmal und nochmal.
Ich höre nichts.
Er prügelt auf die Tasten ein, mit einem, sechs und dann allen Fingern, bis ein chaotisches Staccato erklingen sollte.
Wie? Warum?
Mit einem frustrierten Jammern verkrampft er sich über der Klaviatur, seine Hände verharren wie zwei ausgestreckte Klauen. Michael sinkt wie in Zeitlupe auf seinen Hocker zurück. Elendige Schluchzer schütteln ihn durch, seine Schultern beben.
Die Stille verhöhnt ihn.
Seine kraftlosen Hände verlieren den Halt. Er zieht sie zu sich, umschlingt mit beiden Armen seinen Oberkörper und macht sich so klein wie möglich, den Blick starr auf seine nackten Füße gerichtet. Die Welt schiebt er von sich, um den Schwall an Panik zu überwinden.
Mit der Zeit beruhigt er sich, das Wimmern wird leiser und der Kloß in seinem Hals kleiner. Michael summt eine Melodie, spürt die Vibrationen seiner Stimmbänder und atmet auf. Er hört sich.
Die Erleichterung währt nicht lange, denn ihm wird eines klar: Nicht Michael entscheidet, was er hört, sondern es.
„Warum?"
Er richtet sich auf. Mit jedem Wort wird seine Stimme lauter. „Wer oder was auch immer du bist: Ich weiß, du bist hier. Zeig dich! Was willst du von mir und warum bestiehlst du mich?"
Stille.
„Ich warte hier so lange, bis du dich offenbarst!"
Er schweigt erneut und fügt dann hinzu: „Und wenn nicht, will ich, dass du von hier verschwindest und zurückgibst, was du mir gestohlen hast!"
Michael steht auf und streckt den Rücken durch.
Ich bin bereit, für was auch immer ich bereit sein muss.
Es dauert nicht lange, bis etwas geschieht. Wenig überraschend sind es die Tasten seines Klaviers. Diesmal hält es die Seiten E, G und H.
„Das reicht nicht", ruft er aus. „Was soll das bedeuten?"
Michael sieht sich um und zuckt zusammen, denn als er sich abwendet, sind die Töne urplötzlich zu hören – jedoch nicht in der üblichen Reihenfolge. Der Eindringling lässt zuerst das G erklingen, darauf folgen E und H.
Er fasst sich an die Stirn und begreift, dass es mithilfe der Musik anders kommuniziert als ein Mensch. Ein einziges Wort erklingt.
„Geh."
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