Kapitel 18
Der erste Applaus ist berauschend.
Michael kann sich bestens an ihn erinnern. Nicht nur, weil es die erste, öffentliche Anerkennung seines Lebens war, nein, er sollte ihm einen Wunsch erfüllen. Einen Wunsch, auf den er die letzten Wochen hingearbeitet hat. Tag für Tag, Stunde um Stunde.
Nichts als ihre Achtung hat er sich gewünscht.
Eine schwere, erdrückende Leere macht sich in ihm breit, ihr Ursprung ist schwer zu deuten.
Ich bin so müde.
Michael sieht sich um, mustert sein junges Selbst auf der Bühne. Der zukünftige Pianist schwitzt, von der Aufregung total erledigt und zugleich genauso glücklich, weil er es geschafft hat. Er verlässt die Bühne und macht dem nächsten, heranwachsenden Talent Platz.
Dann tritt er vor bis an den Rand und schaut ins Publikum, sucht alle Gesichter nach der einen Person ab, die er beeindrucken will. Da ist sie.
Dem naiven Michael bedeutet es die Welt, dass sie dort sitzt und zugehört hat. Dann zerbricht seine Hoffnung, als er ihr Gesicht sieht. Jeder Genuss am Erfolg verliert sich in ihrer starren, unbeteiligten Maske. Als sei sie gar nicht da. Keine Regung, kein Applaus.
Michael verspürt einen Stich beim enttäuschten Gesicht des Jungen. Er glaubt, sie enttäuscht zu haben. Dass er nicht genug ist, niemals genug sein wird. Oder sich vielleicht nur mehr anstrengen muss.
Doch jetzt erfährt Michael endlich die Wahrheit, was hinter dieser kalten Distanz vor sich geht.
Du bist nicht hier.
Er weiß, an wen Violet denkt. Sein Talent erinnert sie an Amaury. Sie stellt sich ihn in allen Einzelheiten vor, wie es sein könnte, wenn er hier wäre.
Sieh, was du verpasst. Er ist einzigartig.
Die Worte wandern mit keinerlei Stolz durch ihre Gedanken. Da ist lediglich Gram und Trauer, es zerfrisst sie, dass er gegangen ist.
Wir hätten alles gemeinsam machen können.
Selbst als ihr Sohn zu ihr zurückkehrt und die beiden den Saal verlassen, kommt sie von diesen Worten nicht los.
Du hättest ihn unterrichten können.
Jeden Tag haben sie an ihren Kräften gezehrt, zehren noch weiterhin an ihr. Und was auch immer sie in ihrem Leben priorisiert hat – sei es Michaels Talent oder ihre eigene Karriere – nichts konnte es ihr erträglicher machen.
„Weiter", bittet er Wes und reicht ihm die Hand. Dieser tut wie ihm geheißen. Auf Kommando zieht die Welt wie in einem Zeitraffer an ihnen vorbei, die schnellen Bilder verschwimmen und spiegeln allmählich den Ort wieder, den Michael sich mit seiner Vorstellung ausmalt. Er selbst wird dabei schwächer und schwächer, sein inneres Wesen zehrt aus, auch wenn man es äußerlich nicht erkennen kann.
Die ineinander zerfließenden Konturen bekommen eindeutige Farben und Formen. Er erkennt die Wände des Wohnzimmers wider, in dem er aufgewachsen ist. Ein paar Wochen müssen ins Land gezogen sein.
Michael erinnert sich an den Mann, mit dem Violet eine Weile ausgegangen ist, irgendein Dirigent, den sie durch ihre Arbeit im Orchester kennengelernt hat. Sie trinken gerade eines ihrer letzten Gläser Wein zusammen, als sie ein Geständnis ablegt. Der Mann mit Allerweltsgesicht legt ihr tröstend seine Hand auf ihre.
„Ich kann es mir nicht verzeihen", flüstert sie.
„Es ist nicht deine Schuld", antwortet er, aber Violet will das alles nicht hören.
„Ich war so verzweifelt, wir haben uns doch kaum gekannt."
„Und warum hast du es nicht getan?"
Ihr gesenkter Kopf zuckt mit entsetztem Gesichtsausdruck hoch. „Wie bitte?"
„Na, warum hast du nicht abgetrieben?"
Sie lacht ungläubig auf. „Du sagst das so, als wäre das eine Kleinigkeit."
„Aber ihr wart nicht bereit, oder?"
„Natürlich nicht", gibt Violet zu. „Ich wollte es ja auch tun aber das war ja nicht nur meine Entscheidung."
Michael spürt Wes' Blick auf sich. Er muss sein kreidebleiches Gesicht gesehen haben, die dunklen Ringe unter seinen Augen. Das kommt nicht nur durch die Leere, die ihm zu schaffen macht.
Hat er Violets Worte erst einmal verstanden, stoßen sie ihm so auf, dass er sich mitten ins Wohnzimmer übergibt. Die beiden reden ungerührt weiter und nippen an ihren Gläsern.
Wer hätte gedacht, dass einem im ach so tollen Reich das Ekligste überhaupt nicht erspart wird?, denkt er verbittert.
„Ist alles in Ordnung?", fragt Wes.
Nachdem er sich den Mund am Ärmel abgewischt hat, richtet Michael sich wieder auf.
„Bring mich hier weg. Und wenn du schon dabei bist, lösch das gleich mal aus meinem Gedächtnis."
„Vielleicht sollten wir erst einmal eine Pause einlegen. Ich glaube, die könntest du mehr als nötig haben."
Er schüttelt kaum merklich den Kopf.
„Und mir wird auch schon ganz schwindelig von dem hin und her."
„Ich dachte, du kriegst den Hals nicht voll", spottet Michael und funkelt ihn an, jegliche Angst vor dem Wesen vergessen.
Der hebt kaum beeindruckt eine Augenbraue. „Ich bin kein Aasfresser, wenn du verstehst. Ich werde keinen halbtoten Jungen durch das Reich schleifen."
Trotzig streicht er sich das Haar aus der schweißbedeckten Stirn. „Mir geht es besser, wenn ich hier weg bin. Versprochen."
Er erwidert nichts, Michael verdreht die Augen.
„Wir haben nicht mehr viel vor uns. Ich muss mit eigenen Augen sehen, was passiert ist. Bitte."
Nach kurzem Zögern seufzt Wes, lenkt schließlich ein und reicht ihm seine mittlerweile schwarz gefärbte Klaue. „Na, wenn du mich schon so freundlich bittest."
Wenige Jahre später kommt Michael gerade nach Hause von der Schule, wirft den Rucksack in den Flur und schlurft in die Küche. Eine ältere, ernste Violet hebt eine Augenbraue, bis sie genauer von ihren Notenheften aufsieht und er durch etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregt.
Er weiß, worum es geht, für seine Mutter gibt es kein anderes Thema. Sonst führen ihre Leben mittlerweile komplett aneinander vorbei.
„Was hast du da?"
„Nichts."
Der Jugendliche verdeckt die Schürfwunden auf den Fingerknöcheln unter den Ärmeln seines Pullovers, doch Violet ergreift sie und schiebt den Stoff nach oben.
„Was hast du gemacht?"
Der unsichtbare Michael steht mit Wes noch immer im Wohnzimmer. Er ignoriert den Schwindel in seinem Kopf und konzentriert sich auf Violets Gedanken. Und sie überraschen ihn keineswegs.
Bald ist sein nächstes Vorspiel.
Die Art, wie ihre Schultern sich anspannen und ihre Lippen zu einer schmalen Linie werden, verrät auch dem jungen Michael, dass Ärger ansteht.
„Hast du dich geprügelt?"
Er würde gern darüber lachen. Wie konnte sie nur glauben, dass er eine Chance gegen die ganzen Schläger hatte?
Sein junges Ich verschließt seine Gedanken vor der Welt. Er verdreht die Augen und entzieht sich ihrem Griff, geht an seiner Mutter vorbei und sucht im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Unterdessen kramt Violet den Verbandskasten aus der Schublade.
„Dann übst du heute nicht, aber morgen dann länger. Je nachdem, wie die Wunden aussehen."
Sonst wirst du das Stück nie meistern. Deine Finger sind nicht annähend schnell genug, denkt Violet.
Michael seufzt, schließt den Kühlschrank und lässt sich widerwillig von ihr verarzten.
„Was ist passiert?" Ihre gesenkte Stimme und der konzentrierte Blick auf seine Hände zeigen ein ehrliches Interesse an der Geschichte.
„Nichts."
Michael betrachtet die oberflächlichen Wunden und erinnert sich. In seiner Wut schlug er auf eine Wand ein, hat sich für einen Versager gehalten.
„Schone deine Hände", sagt Violet und scheint sich mit seiner Verschwiegenheit schon abgefunden zu haben. „Du wirst sie noch eine Weile brauchen."
Sie beißt sich auf die Unterlippe.
Sie sehen aus wie seine.
Als spüre der Jugendliche, dass sie etwas bezüglich seines Vaters umtreibt, fragt er: „Hat Dad sich auch mal geprügelt?"
Er weiß, dass sie nicht antworten wird, das soll ihr schlicht irgendeine Reaktion entlocken. Seine Mutter jedoch zieht den Verband ein wenig fester um seine Knöchel, die Augen auf seine Finger fixiert.
„Was wärst du ohne sie?"
Michael entreißt sich ihrem Griff und starrt sie an. Sie kann seinen Blick nicht erwidern, sieht noch immer auf den Tisch, wo eben seine Hand gewesen ist und realisiert, was sie gesagt hat. Ihr steht der Mund offen, sie stammelt etwas, bringt kein vollständiges Wort heraus.
Das gilt nicht dir, Michael.
Ihr Sohn schließt sich in seinem Zimmer ein, während sie sich seufzend auf die Arbeitsplatte sinken lässt.
Michael hört nicht mehr auf ihre Gedanken, er erträgt sie nicht mehr.
Wes tritt an seine Mutter heran und mustert sie.
„Es ist faszinierend, wie die Menschen ihre Wahrheiten drehen und wenden, dass sie ihnen in den Kram passen."
„Wir haben alle unsere eigene Wahrheit", antwortet Michael und wendet sich von Violet ab. „Und das werden wir gleich wieder sehen. Ich werde es dir zeigen."
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