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Leise nähere ich mich dem fremden Mädchen. Sie kann nicht älter als ich sein. Ich beuge mich unauffällig über ihre Schulter, um die Zeichnung begutachten zu können. Ihren Kopf hat sie zur Seite geneigt und ihre Fingerkuppen sind ganz grau von dem Bleistift. Noch lässt sich schlecht sagen, was es werden soll. Sie scheint In-Ear-Hörer zu tragen und weder meine Ankunft noch meine Neugierde bemerkt zu haben.
Plötzlich hört sie mit dem Zeichnen auf und erhascht einen Blick auf ihr Handy. Das Display zeigt groß und deutlich die Uhrzeit an. Fast achtzehn Uhr. Fluchend nimmt sie beide Hörer aus den Ohren und will aufstehen. Da hat sie aber nicht mit mir gerechnet, der immer noch hinter ihr steht. Sofort stößt ihr Kopf an mein Kinn. Noch einmal flucht sie und reibt sich den Kopf. Als sie sich schließlich in meine Richtung dreht, um den Grund ihrer Schmerzen zu sehen, schreit sie auf. Was hat sie denn? Ich bin doch kein Alien oder sowas.
"Bleib weg! Bleib bloß weg von mir! Mein Vater ist ein Cop. Der kann dich sofort verhaften, wenn du dich mir auch nur noch auf einen Meter näherst!"
"Das sind schöne Zeichnungen." Ich deute auf ihre Wand. "Wie bist du auf das Aussehen gekommen? Ich muss sagen, das ist dir ziemlich gut gelungen, besonders bei mir."
"Was? Okay, ich weiß, wer du bist."
"Das hoffe ich doch. Man steht nicht jedem Tag seiner eigenen Figur gegenüber und schon gar nicht Brian Lastwood."
"Nein, du bist nicht Brian Lastwood! Du bist ein geisteskranker Typ, der nur scharf auf die Kohle meiner Freunde ist! Mach bloß, dass du hier rauskommst!"
"Ich bin es aber! Siehst du nicht, dass ich genauso aussehe, wie auf deiner Zeichnung? Na ja, etwas menschlicher zwar, aber siehst du nicht die Ähnlichkeit?"
Sie schaut mich verwundert an und schüttelt den Kopf, bevor ihre Wut wieder aufflammt. "Ich muss zugeben, die haben dich echt gut geschminkt und herausgeputzt, aber ich bin mir sicher, dass du eine gute Geschichte auf Lager hast, auf welche Weise du dich hier in mein Zimmer verirrt hast."
"Ja, die hab' ich. Ob sie gut ist, ist eine andere Frage, denn eigentlich war es die Idee des Weisen. Ich bin durch so'n Buch gekommen. Meine Heimat heißt Core Basis und das einzige, das mich von diesem Idioten an der Spitze unterscheidet, ist dieses Pentagramm." Ich halte ihr meinen Unterarm mit dem Tattoo hin. Die Unbekannte schenkt dem aber kaum Beachtung, schnappt sich die gelb-orangene Basecap und öffnet mit dem Handy in der Hand die Zimmertür.
"Du bist krank! Ich muss jetzt los und wenn ich zurückkomme, bist du verschwunden!" Bedrohlich hält sie den Zeigefinger auf mich gerichtet.
Sie setzt sich das Cape auf und will schon durch den Flur stürmen, doch ich lasse sie nicht so schnell gehen. "Glaub mir doch! Ich bin wirklich der Brian Lastwood, dein selbsterschaffener Charakter!"
Sie bleibt kurz stehen und schaut mich genervt an, als ob ich einen schlechten Witz erzählt hätte. So muss ich auch rüberkommen. Wie ein schlechter Witz, den man geschickt hat, um sie in den Wahnsinn zu treiben.
"Wohin gehst du?", wechsel ich das Thema. Es ist sinnlos, sie von der Wahrheit zu überzeugen.
"Das geht dich nichts an."
"Du gehst zur Pizzeria Grande. Steht auf deiner Cape."
"Und wenn schon. Was interessiert's dich? Ich kann dir egal sein. Sag' meinen Freundinnen einfach, dass du mich in den Wahnsinn getrieben hast und dass sie gewonnen haben. Sehr lustig."
"Okay, wenn ich sie kennenlerne, werde ich es ihnen sagen."
Sie schüttelt genervt den Kopf und geht schnellen Schrittes den Flur entlang zur Haustür. Ich bleibe zurück und schaue ihr hinterher. Sie jetzt von ihrem Job abzuhalten, zudem sie obendrein bestimmt auch zu spät kommen wird, würde nicht nur ihr den Kragen kosten.
Kaum hat sie die Tür zugeschlagen, kehrt eine gruselige Stille ein. Ich wünsche mir augenblicklich das hitzige Temperament zurück, um die Erinnerungen an das Zombie-Irrenhaus zu vertreiben. Nachdenklich gehe ich zurück ins Zimmer. Keira hat vergessen das Licht auszuknipsen. Die Regentropfen beruhigen sich einigermaßen und rinnen die Fensterscheibe hinab. Ich weiß, ich habe einen Auftrag zu erfüllen, aber wie kann man das, wenn das Mittel dazu irgendwo draußen umherirrt, wütend auf einen Einbrecher, und Pizzen austeilt? Da kommt mir eine Idee.
Ich greife nach dem Hörer und wähle eine Nummer. Doch ich werde während meines Telefonats unterbrochen. Im nächsten Moment höre ich Schlüssel, die sich im Schloss drehen, und dann zwei laute Stimmen, die ins Haus geschneit kommen und mich in den Wahnsinn treiben könnten. Trotz des Wunsches nach etwas Trubel im Familienhaus, habe ich mich an die nostalgische Stille irgendwie gewöhnt.
"Ich freue mich schon sehr auf übermorgen!", gibt eine Frauenstimme strahlend preis. "Und ich erst! Es ist schon so lange her, dass wir im Kino waren. Nur wir zwei." Für einen Moment hört man Stille, dann ein Geräusch, das wie ein Kuss zwischen den fremden Personen klingt. Ich brauche nicht lange, um zu realisieren, dass das Keiras Mitbewohner sein müssen, die gerade nach Hause zurückgekommen sind. Ich weiß jetzt, woher sie ihre laute Stimme hat.
Besser, sie entdecken mich nicht. Sonst denken sie noch, ich sei Keiras heimlicher Liebhaber. Ich denke, da wären nicht nur sie wütend auf mich und würden mich einen Kopf kürzer machen. Ich schalte also das Licht aus und setze mich stillschweigend auf den Boden, bis es einige Minuten später auch schon klingelt.
Die Frau öffnet die Haustür. Man hört zwei Stimmen. Die eine wird wütender. Dann Schritte, die sich dem Zimmer zu nähern scheinen. Sie werden immer lauter, bis plötzlich die Tür aufgerissen wird, das Licht angeht und zwei aufgebrachte Augen mich angreifen. In der Hand hält die Person einen Karton mit dem Logo der Pizzeria Grande. Jetzt sitze ich in der Patsche. Aber wenn ich nicht zum Zielobjekt komme, muss es eben zu mir kommen.
"Ist das dein Scheiß ernst?! Ich habe dich längst rausgeworfen und dann kommst du auch noch auf die Idee, eine Pizza zu bestellen, damit ich zurückkomme?" Irgendwie erinnert sie mich an einen Bullen, der schon das rote Tuch erblickt und auf den richtigen Moment wartet, um anzugreifen.
"Na ja, jetzt bist du wieder da. Dann können wir ja endlich reden."
Augenblicklich läuft sie rot an. Ihre Wangen fangen förmlich an zu glühen. Ich habe leider kein Wasser bei mir, um sie wieder abzukühlen.
"Falls es dir hilft; du musst nur deine erste Geschichte veröffentlichen, dann bist du mich für immer los."
Keine zwei Minuten später sitze ich auch schon draußen vor der Tür. Eins muss ich ihr lassen; sie ist definitiv keine Bürgerin von Core Basis. Keine Ahnung, wieso sie mich wie ein Parasit aus dem Haus geworfen hat.
Hier stehe ich also. Im Dunkeln. Wo soll ich schon hin? Ich kenne diese Welt nicht. Ich kenne niemanden außer Keira hier. Soll ich die Nacht draußen verbringen? Wer weiß, ob ich dann morgen noch lebe.
Mir bleibt also nichts anderes übrig, als zurückzugehen. Zum Glück hat sich das Mädchen dazu entschieden, zu Hause zu bleiben und nicht wieder zurückzugehen. Es muss mittlerweile auch echt spät sein. Leise klopfe ich gegen ihre Fensterscheibe. Was, wenn sie nein sagt? Nein, das kann sie nicht. Nicht, nachdem sie meine Überredungskünste kennengelernt haben wird.
Das Fenster öffnet sich nur unfreiwillig.
"Was?", fährt mich die genervte Stimme an.
"Kann ich heute Nacht bei dir bleiben? Ich weiß sonst nicht wohin."
"Ja, natürlich. Komm rein."
"Wirklich?" Das ging ja einfach. Ich will schon ihr Angebot annehmen, da bekomme ich auch schon einen Schlag zwischen die Rippen und falle zurück in den Busch voller Stachelbeeren. Schnell schließt Keira das Fenster, knipst das Licht aus und legt sich schlafen, während ich mich versuche aus dem Gestrüpp zu befreien.
Eine Minute später probiere ich es erneut. Ich weiß nicht, ob ich die Scheinvorstellung von Flammen in ihren Augen besitze, aber strahlende Augen sehen definitiv anders aus.
"Bitte, nur eine Nacht. Es ist kalt und ich weiß wirklich nicht, wo ich hin soll. Ich werde auch nichts sagen."
"Bist du etwa aus der Psychiatrie ausgebrochen?"
"Was ist eine Psychiatrie?"
"Du bist verrückt. Wenn du mich nur einmal berührst, mich ansprichst oder auch nur in meine Nähe kommst, bist du morgen Hackfleisch!"
"Also heißt das, ich darf bleiben?"
"Du schläfst auf dem Boden."
Dankend steige ich ins Haus und lege mich auf die Stelle, die sie mir zur Verfügung stellt. Sie legt sich wieder hin und schenkt mir ihren Rücken als Anblick.
"Welche Personen waren das da vorhin im Flur?"
"Nicht reden!"
Stille. Das Licht geht aus.
Ich glaube, ich mag sie jetzt schon.
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