Kapitel 8
Revanna
Es gab Dinge, die jeder normale Mensch hasste. Dinge wie Krieg, Hunger, Armut, Klimawandel, Hass, Spinnen, enge Räume oder den McDonalds-Clown. Natürlich gab es auch Dinge, die nur bestimmte Menschengruppen hassten. Republikaner hassten Demokraten. Katzenliebhaber hassten Hunde. Und verhasste Singles wie ich hassten frisch verliebte Paare.
Jetzt war es raus: Ich hasste Dates und jegliche Form von übertrieben romantischen Gesten. Warum teuer essen gehen, wenn man Tiefkühlpizza und einen Fernseher zuhause hatte? Warum jemandem für viel Geld Rosen schenken, wenn diese nach wenigen Tagen eh in der Mülltonne landeten?
Offen gestanden hatte ich keine Ahnung, ob ich jemals, als ich noch am Leben war, eine Beziehung geführt hatte, aber wenn ich ehrlich war, bezweifelte ich das doch sehr stark. Und wenn „junge Liebe" das war, was ich in dieser Sekunde vor mir sah, würde ich auf jeden Fall gut darauf verzichten können.
Jackson, den ich sonst als direkten, oftmals peinlich ehrlichen Menschen kennengelernt hatte, war wie ausgewechselt. In seinem Fall schien Liebe nicht nur blind, sondern auch taub zu machen. Eine andere Erklärung dafür, dass er noch nicht fluchtartig aus dem Restaurant und vor einen Bus gespurtet war, konnte ich einfach nicht finden. Seit er Chestity abgeholt hatte, hatte sie nicht für eine Minute die Klappe gehalten. Sie redete ohne Punkt und Komma mit einer so hohen Stimme, dass es verwunderlich war, dass die Alarmanlagen der Autos, an denen sie auf dem Weg zum Restaurant vorbei gegangen waren, nicht losgegangen waren. Dazu kam ihr hohes Lachen und ihr „Interesse" für so ziemlich jedes uninteressante Thema, das die Welt zu bieten hatte. Jackson schien dies alles aber egal zu sein. Vielleicht weil er sie wirklich mochte. Vielleicht weil er sie nur ausnutzte und Sylvester ärgern wollte. Vielleicht weil er einfach nur beschränkt war... Ich würde es nie verstehen.
Mir doch egal, ob er sie liebte oder nicht. Dies waren sein Leben und seine Entscheidungen. Ich war bloß ein unbedeutender, kleiner Teil davon. Ein Teil, den er niemals einsehen können würde, der für ihn auch nie relevant sein würde. Schade nur, dass er und sein Leben, für mich einen bedeutenden, bedenklich großen Teil meines Lebens darstellten. Ich hatte nicht viel zu verlieren, doch würde ich ihn verlieren, würde ich das Wenige, das ich noch hatte, auch noch verlieren. Und er? Er hatte so viel zu verlieren. Er hatte so viel, für das es sich lohnen würde zu leben.
Auch wenn ich mir nach seiner Aktion vor einer halben Stunde nicht sicher war, ob er dies genauso sah. Seine Paranoia hatte auf der Autofahrt hierher nämlich wieder eingesetzt und er hätte sich und die Quaselstrippe fast unter die Erde gebracht, hätte ich nicht im letzten Moment auf die Bremse gedrückt und danach die Handbremse gezogen. Daraufhin war meine erste These gewesen, dass er Chestity einfach nur genauso ätzend fand wie ich und Suizid als einzigen Fluchtweg aus seiner Situation gesehen hatte. Doch da hatte ich wohl falsch gelegen.
Stattdessen war es so, als wäre er mehr von... mir abgelenkt gewesen, was zwar noch weniger Sinn ergab, aber die einzige noch irgendwie plausible Erklärung zu sein schien. Es war zwar nahezu unmöglich, dass er meine Präsenz wahrhaben konnte, doch seine unruhigen Blicke in den Rückspiegel zur Rückbank, wo ich während der Fahrt gesessen hatte, hatten mich zunehmend zweifeln lassen. Na, vielleicht verlor er auch einfach nur den Verstand. Wer würde das, nach wenigen Minuten mit Chestity nicht tun?
...
Das Restaurant war nobel. Nicht Oscars nobel, sondern Buckingham Palace nobel. Teure Kronleuchter, blitzblanke Marmorböden, vornehm gekleidete Menschen und leise Musik. Es war wie ein schlechter Mix aus Downton Abby und Fünf-Sterne-Restaurant. Mein persönlicher Albtraum! Wieso hatten Menschen mit Geld immer das Bedürfnis, es die ganze Welt wissen zu lassen?
Anders als ich, schien Chestity diesen Laden großartig zu finden. Zumindest hatte sie, als wir den Laden betreten hatten, für ganze fünf Minuten lang nicht gesprochen und schien ganz angetan von Jackson und den ganzen Kellnern, die um sie herum schwirrten. Meine Hoffnung, dass sie vielleicht für den Rest des Abends ruhiger bleiben würde, verlor ich wenige Minuten, nachdem sie sich gesetzt hatten, denn in dieser Zeit hatte sie schon angefangen Jackson über Jasmine, die "blöde Tusse" aus ihrem Sportkurs und ihre "Yogahosen" zu unterrichten. Und Jackson? Der hatte sein Playboy-Lächeln aufgesetzt und schien sich nach wie vor kaum an ihrem Gerede zu stören. Entweder er war zugedröhnt oder taub. Eine andere Möglichkeit sah ich da nicht mehr.
...
Nachdem nach weiteren Minuten ein summendes Geräusch in meinen Ohren aufgetaucht war und ich mich zunehmend schlechter fühlte, was physisch gesehen eigentlich unmöglich sein sollte, fasste ich einen Entschluss: Dieses Date musste endlich enden! Wenn ich noch etwas länger mit dem Playboy und seiner Quasselstrippe verbringen müsste, würde ich erst sie töten und dann mich... und vorher vielleicht noch die Kette der alten Dame am Nebentisch stehlen. Die hatte echt Stil! Doch gerade als ich anfangen wollte, einen möglichen Fluchtweg aus dem Gebäude zu planen, sah ich sie...
Sie stand am anderen Ende des Raumes zwischen zwei Tischen und sah zu unserem Tisch herüber. Eine Frau, die so blass war, wie die weiße Wand hinter ihr. Sie war dürr, ihr Gesicht stark eingefallen, ihre grauen Augen farblos, ihr blondes Haar strähnig und stumpf. Um ehrlich zu sein: Sie wirkte mehr tot als lebendig. Verwirrt sah ich mich um. Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht und schien keinem anderen Gast aufzufallen. Doch ich schien dafür ihr aufzufallen. Sie sah nicht Jackson an, sah nicht zu Chestity oder einem anderen Gast. Nein. Sie sah mich an. Mich. Starrte mir direkt in die Augen.
Ich erschauderte. Sie gehörte nicht hier her. Das konnte ich spüren. Das da vor mir, keine fünf Meter von mir entfernt, war kein Mensch...nicht mehr.
Chestitys Stimme kam mir mit einem Mal sehr weit weg vor, Jacksons Stimme war so leise und verschwommen, als wäre eine dicke Wand zwischen uns geschoben worden. Ich hörte sie kaum noch, sah und hörte nichts mehr um mich herum. Keine Musik, kein Klimpern von Gläsern und keine Gespräche. Alles was ich wahrnahm, war die Kälte, die sich von ihr aus ausbreitete wie ein unheilvoller Nebel. Mein Blick fiel für wenige Sekunden auf meinen Armreif, als ich versuchte nach einen Grund für ihren Blick, der immer noch schwer auf mir ruhte, zu finden. Die Einstellungen waren alle korrekt. Wer oder was auch immer sie war, sie dürfte mich nicht sehen können.
Unbewusst glitt meine Hand langsam zu meiner Hüfte zu meinem Dolch, doch ich stoppte abrupt, als die Augen der Frau meiner Bewegung folgten. Das war unmöglich... Ich schluckte schwer. Mein Herz raste in meiner Brust, mein Atem wurde flacher. Als Animus Preditus sollte ich keine Angst haben, vor nichts und niemandem, nicht ohne Grund. Aber irgendetwas sagte mir, dass die Frau vor mir stärker war als ich, gefährlicher und... älter?
„Wer oder was sind Sie? Wieso können Sie mich sehen? Was wollen Sie?", knurrte ich leise, doch verriet das leichte Zittern in meiner Stimme meine Unsicherheit. Verdammt.
Ein leichtes, gruseliges Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als sie langsam ihren bleichen Arm hob. Ein überraschtes Japsen verließ meine Lippen, als ich mit geweiteten Augen sah, was für ein Mal sich auf ihrem Handgelenk befand. Das war nicht möglich.
„Was zur Hölle?", brachte ich leise, mit zusammengezogenen Augenbrauen hervor, bevor sie sich, wie aus dem Nichts in Luft auflöste und verschwand. Was um alles in der Welt suchte ein anderer Animus Preditus hier und wieso hatte sie mich sehen können?!
Doch lange Zeit zum Überlegen hatte ich nicht, da all die Geräusche um mich herum mit einem Mal wieder zu mir durchdrangen... Auch Chestitys Stimme.
Gott, war ich am Arsch. Das war's! Dieses Date musste enden. Jetzt sofort!
In der Hoffnung, dass ich das Date so schnell wie möglich beenden könnte, warf ich, aus Frust und Verzweiflung kurzerhand Chestitys Glas um.
Der gesamte Inhalt des Glases landete auf ihrem Albtraum von Kleid und breitete sich dort aus wie schlechte Memes im Internet. Ein amüsiertes Lachen entwich meiner Kehle und für ein paar wenige Sekunden vergaß ich die gruselige Frau und meine Sorgen.
Sie sah aus wie eine Kuh mit all den Flecken auf ihrem weißen Stofffetzen.
Nur leider fing sie, nachdem der erste Schock überwunden war, an, herum zu motzen. Laut und schrill. Mein Gehör war gut, sogar sehr gut und so presste ich mir augenblicklich die Handflächen auf die Ohren und entfernte mich vom Tisch. Mist! Warum?!Ihre Stimme war nicht nur mentale sondern auch physische Folter! Heute lief aber auch alles schlief.
....
Ich war am Boden zerstört. Wortwörtlich. Warum? Na das dürfte ziemlich offensichtlich sein.
„Und dann hat Anna doch tatsächlich behauptet, dass ICH ruhig abnehmen könnte, dabei ist sie die Dicke von uns..." Hielt sie denn nie die verdammte Klappe?! Wen interessierte es denn schon wie viel sie wog? Sie sah doch sowieso schon aus wie ein Hungerhaken!
Als mir klargeworden war, dass der Vorfall mit dem Getränk die beiden nicht dazu bringen würde zu gehen, was für mich immer noch völlig unerklärlich war, hatte ich mich unter den Tisch verzogen. Hier konnte mich niemand sehen und ich musste Chestity nicht ansehen. Zudem dämpfte das dicke Holz und die edle Tischdecke Blondies Stimme weitestgehend, wenn leider auch nicht vollständig. Da saß ich also. Die Beine an den Körper gezogen, den linken Arm um sie geschlungen und drehte in Gedanken versunken einen meiner Dolche zwischen den Fingern. Wieso passierten immer mir die seltsamsten Dinge? Wer war die Frau gewesen? War sie eine Gefahr für Jackson? Musste ich Fearghas etwas davon erzählen? Lieber nicht. Er hielt mich ja sowieso schon für verrückt. War ich verrückt? Nein. Nein, ich war nicht verrückt. Lady Gaga war verrückt. Der Joker aus Batman war verrückt. Der tat immerhin Menschen weh und erfreute sich an ihrem Leiden und... Oh... Na ja, wie auch immer. Der Punkt war: Ich war nicht verrückt! Jackson war es.
Immerhin war er noch immer nicht aus dem Restaurant gestürmt, oder hatte versucht Chestity zu erstechen.
Als Chestity wieder anfing zu kichern, zischte ich erneut auf, steckte den kleinen Dolch wieder in meinen Stiefel und massierte mir die Schläfen. Halt die Klappe, halt doch die Klappe, halt doch die Klappe!
Dann fing sie auch nach an mit ihrem Fuß zu wippen, welcher nun, in unregelmäßigem Abstand durch meinen Kopf hindurch stieß, was ein Übelkeitsgefühl in mir auslöste.
Okay. Das war es endgültig!
„Nimm deinen scheiß Fuß aus meinem Gesicht, oder ich brechen ihn dir!", schrie ich und donnerte mit meinen Fäusten nach Aktivierung meines Armreifs mehrmals von unten gegen die Tischplatte. Keine Reaktion. Wütend schob ich ihren Fuß von mir, was sie aber kaum zu merken oder zu interessieren schien.
Mit dem Gedanken unter dem Tisch hervorkriechen zu wollen, legte ich mich wieder auf meinen Rücken und schob mich über den Boden. Zu meinem Pech hatte ich allerdings vergessen meinen Armreif wieder zu deaktivieren und keine Sekunde später trat jemand mit voller Wucht gegen meine Beine und stolperte. Ein schmerzhafter Laut entwich meinen Lippen, während von oben lautes Gepolter und lautes Geschrei ertönte. Hey. Ich hatte, aus Versehen etwas getan, was meinem Plan das Date frühzeitig zu beenden, auf die Sprünge geholfen hatte. Man, war ich gut.
Begeistert wollte ich aufspringen, vergaß aber die Tatsache, dass ich jetzt nicht mehr durch Dinge hindurch gehen konnte und noch halb unter dem Tisch steckte und stieß mit voller Wucht meinen Kopf gegen die Tischplatte. Stöhnend ließ ich mich wieder zurückfallen und deaktivierte meinen Armreif.
Ebenso unbeabsichtigt, wie das mit der Tischplatte, war leider auch die Tatsache, dass nun der Kellner härter dran genommen wurde als Jackson. Das machte mich leicht aggressiv, auch wenn der Anblick von Chestity, die mit Essen vollgeschmiert war, mehr als nur beruhigend war.
Während der Kellner, ein dazu gekommener Anzugfutzi und Jackson weiterhin durch das halbe Restaurant schrien und Chestity sich halb heulend über ihre Schuhe wischte, schlich ich mich langsam in Richtung Küche. Plan B. Essen ungenießbar machen und hoffen, dass das endlich ein Ende hatte.
...
Mission erfüllt.
Noch immer damit beschäftigt mir die Lachtränen aus den Augen zu wischen, rannte ich Jackson und Chestity hinterher zum Auto.
Gott, war ich ein Genie. Warum war ich nicht schon viel früher darauf gekommen?! Es hätte so schnell gehen können und es war so leicht gewesen. Ein paar Gewürze hier, ein bisschen Salz und Pfeffer da und voilá! Ein wundervoller Reim und ein Ende der psychischen und physischen Qualen in einem. Ich glaubte, dass ich noch nie zuvor so stolz auf mich gewesen war. Verdammt, hatte ich ein trauriges Nicht-Leben.
„Hör zu Chestity, ich weiß, das war ein richtiges versautes Date, aber ich schwöre dir, das war alles nicht extra und ich ähm... ich dachte, ich könnte dich heute Abend beeindrucken oder dich dazu bringen, dass du mich magst, weil ich dich echt mag und ich hatte erwartet, dass du ähm..." Ich stoppte abrupt in meiner Bewegung. Nein. Nein, nein, nein! Nein!
Warum tat er so, als ob er schüchtern wäre?! Und als ob er sie wirklich mögen würde? Warum?!
Und warum um alles in der Welt schien Chestity es ihm auch noch abzukaufen?!
Was aber als nächstes kam, zerstörte mein komplettes Leben, denn Chestity lächelte, legte ihre Hände an Jacksons Brust und KÜSSTE ihn! Sie küsste ihn! Direkt vor meinen Augen! Und ich?
Ich brauchte eine Kotztüte. Dringend!
Der Arsch fing sofort an zu grinsen und zog sie an der Taille noch näher zu sich, während er ihren Kuss erwiderte. Mein Mund klappte auf und meine Augen wurden wahrscheinlich so groß wie Autoräder, während ich mir die Seele aus der Brust hustete.
Davon würde ich bestimmt ein Trauma bekommen! Oh mein Gott, fühlte es sich so an zu sterben?! Ich erblindete. Oh nein, ich erblindete! Es sollte aufhören!
„Ich hab dich auch sehr gerne Jackson.", setzte Chestity nun noch eins drauf und küsste ihn erneut. Ja. Ich würde mich erschießen müssen.
War ich auch einmal so gewesen? Genauso... Eklig und anstrengend? Hatte ich mich da auch so naiv und dämlich verhalten? Na ja, war auch egal. Ich war nicht der Mensch, der ich einmal war. Zumindest nicht physisch gesehen. Wer wusste schon, ob mein altes Ich nicht zusammen mit meiner Menschlichkeit schon lange verblasst war.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro