Kapitel 5
Jackson
Als die anderen beiden sich umdrehten, konnte ich in ihren Augen die gleiche Aggressivität lesen, wie bei dem ersten und mein Herz schlug wenn möglich noch schneller. Dann kamen sie zu dritt auf mich zu. Mein einziger Gedanke war: „Jackson, renn um dein Leben!", aber meine Beine ließen sich noch immer nicht bewegen.
Erst als die Typen nur noch circa fünf Meter von mir entfernt waren, machte etwas in meinem Kopf Klick und ich hatte endlich wieder die Kontrolle über meine Beine. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper schoss, dann drehte ich mich um und rannte um mein Leben, um das ich noch nie zuvor so eine Angst gehabt hatte.
„Glaub ja nicht, du kommst uns so einfach davon!", hörte ich den einen Typen hinter mir schreien.
Wenn die wüsten wie lange ich dieses Tempo halten konnte. Ich lief jetzt einen großen Umweg nach Hause in der Hoffnung, ich würde die Typen bis dahin abgehängt haben. Und meine Rechnung schien aufzugehen, denn schon nach knappen zehn Minuten, hörte ich wie einer der Männer zurückfiel und nach weiteren zehn Minuten hatte ich nur noch einen Verfolger. Ich war wahrscheinlich noch nie in meinem Leben so froh gewesen, dass ich regelmäßig Ausdauertraining machte! Und es zahlte sich auch wirklich aus, denn als ich außer Atem in die Straße einbog, in der unser Haus stand, war ich mir ziemlich sicher meine Verfolger komplett abgeschüttelt zu haben.
Den Mann, der sich um die Straßenecke schob, als ich die Haustür aufschloss, bemerkte ich nicht.
„Wieso hat das solange gedauert?", schnauzte Dad mich an, sobald ich den großen Eingangsbereich unseres Hauses betrat. Man könnte fast meinen, er hätte dort auf mich gewartet.
„Wahrscheinlich will ich das gar nicht wissen", fuhr er genervt fort. „Du gehst jetzt sofort in dein Zimmer und machst deine Hausaufgaben!"
Ich war immer noch viel zu geschockt, von dem was mir eben passiert war, um irgendwelche Wiederworte zu geben, sodass ich tatsächlich nach oben in mein Zimmer ging und mich mit Macbeth beschäftigte. Ganz ehrlich, wer brauchte schon Shakespeare? Der Typ war schon seit Ewigkeiten tot und interessierte keinen mehr.
Eigentlich machte ich die Hausaufgaben auch nur, weil ich hoffte mich von meinen Gedanken, die sich nur um das drehten, was ich eben gesehen hatte, abzulenken. Aber da wir die Szene analysieren mussten, in der der König umgebracht wurde, klappte das nicht wirklich und meine Gedanken kehrten immer wieder zu dem Flehen der Frau und ihrem leblosen Körper auf der Straße zurück. Warum hatte sie sterben müssen? Warum waren die Typen so grausam gewesen? Und vor allem: Sollte ich jemandem erzählen, was ich gesehen hatte?
Ich könnte zur Polizei gehen oder es sofort Dad erzählen, schließlich hatte er es tagtäglich mit Verbrechern und Mördern zu tun. Das Problem war nur, dass mir wahrscheinlich niemand glauben würde, denn ich hatte früher schon oft komische Geschichten erfunden, die meist irgendwas mit Diebstahl oder Mord zu tun hatten, um die Aufmerksamkeit meines Vaters zu bekommen. Das hatte nur, nach dem es das erste Mal als Lüge aufgeflogen war, nicht mehr funktioniert und Dad würde jetzt wahrscheinlich nur denken, dass ich mit dem Unsinn wieder anfing. Schließlich hatte ich auch keinerlei Beweise und die Leiche der Frau würden die Männer schon längst weggeschafft haben.
Am besten vergaß ich die ganze Sache einfach! Helfen konnte ich der Frau sowieso nicht mehr.
Irgendwie, ich wusste wirklich nicht wie, schaffte ich es die Hausaufgaben fertig zu machen und ging direkt danach ohne Abendessen ins Bett. Hunger hatte ich keinen. An Schlafen war allerdings auch nicht zu denken, zu sehr beschäftigte mich diese Sache immer noch. Und das ärgerte mich ganz gewaltig!
Seit wann war ich zu jemandem geworden, der sich so viele Gedanken über den Tod einer Frau machte, die er nicht mal kannte? Und die es vielleicht sogar irgendwie selber Schuld war. Das klang jetzt hart, aber sie hatte sich ja auch mit diesen Kriminellen abgegeben und war mit großer Wahrscheinlichkeit sogar selbst kriminell gewesen, wenn sie Geschäfte mit diesen drei Männern gemacht hatte. Na gut, vielleicht hatte sie auch keine andere Wahl gehabt. Aber man hatte immer eine Wahl, oder nicht?
So oder so, es sollte mich nicht beschäftigen! Zu mindestens nicht so.
Jede Sekunde starben auf dieser Welt tausende von Menschen, die ich nicht kannte und viele von ihnen wurden garantiert genauso kaltblütig ermordet wie die Frau eben. Natürlich war das nicht schön! Aber groß etwas daran ändern konnte ich auch nicht.
Der Unterschied zu den anderen Menschen war nur, dass ich ihren Tod nicht mit eigenen Augen sah und die Mörder mich nicht dabei erwischten, wie ich sie beobachtete. Denn so etwas im realen Leben zu erleben, war etwas ganz anderes als es im Fernsehen zu sehen. So viel hatte ich heute realisiert. Mitzuerleben, wie das Leben einer Person innerhalb von wenigen Sekunden einfach so auf grausame Weise durch die Hand eines anderen ausgelöscht wurde, war brutal und erschreckend.
Aber was mich außer dem Mord auch noch ziemlich stark beschäftigte, war die Frage, ob die Typen mich wohl suchen würden und vor allem, was sie mit mir anstellen würden, wenn sie mich dann fanden.
Vielleicht sollte ich doch lieber Dad davon erzählen?
Doch ich verwarf diesen Gedanken ganz schnell wieder, denn er würde mich ja eh nicht ernst nehmen. Er hatte ja eben nicht mal gemerkt, wie aufgewühlt ich gewesen war, als ich zur Haustür reingekommen war. Und außerdem war ich mir zu 99% sicher, dass ich die Typen abgehängt hatte. Und wie sollten sie mich bitteschön finden? Im Dunkeln hatten sie ja nicht mal mein Gesicht richtig erkennen können.
Das Letzte, das ich mitbekam, bevor ich dann doch endlich einschlief war, dass Dad den Kopf durch meine Zimmertür steckte. Hätte ich sein Gesicht sehen können, ich wette, es wäre überrascht gewesen, denn normalerweise ging ich nie so früh ins Bett. Jedenfalls nicht freiwillig.
Am nächsten Morgen wachte ich wahrscheinlich das erste Mal in meinem Leben auf bevor mein Wecker klingelte. Das lag zum einen daran, dass ich gestern so früh ins Bett gegangen war und zum anderen daran, dass ich schlecht geträumt hatte.
Der Inhalt meines Traumes war auch nicht wirklich verwunderlich gewesen. Gott... Ich musste das, was gestern geschehen war, endlich aus meinem Kopf verbannen!
Ich ging ins Bad und machte mich für die Schule fertig, wobei am meisten Zeit für meine Haare draufging, die ja schließlich perfekt sitzen mussten. Danach packte ich meine Schultasche, bevor ich runter in die Küche ging, um zu frühstücken. Dort saß schon Dad mit seiner üblichen Tasse schwarzem Kaffee vor sich auf dem Tisch und der Morgenzeitung in der Hand.
„Guten Morgen, Jackson", sagte er ohne wirklich von der Zeitung aufzusehen.
„Morgen", murmelte ich und füllte Cornflakes und Milch in eine Schüssel.
„Warum warst du gestern schon so früh im Bett?"
„War müde", antwortete ich knapp. Generell sprachen ich und Dad nicht viel miteinander. Mal abgesehen davon, dass er eh fast immer mit seiner Arbeit beschäftigt war, selbst wenn er dann mal zu Hause war, hatte ich irgendwie auch nicht wirklich das Gefühl ihm irgendetwas mitteilen zu wollen. Wir hatten noch nie eine sonderlich gute Beziehung zueinander gehabt und seit Mom's Tod war sie auch nicht gerade besser geworden. Mit meiner Mutter war ich immer super klargekommen und ich gab Dad irgendwie die Schuld an ihrem Tod. Außerdem ging er mir seitdem mit seinen übertrieben Versuchen, mich vor was auch immer zu beschützen, ziemlich auf die Nerven. Er behandelte mich als wäre ich acht und nicht achtzehn.
„Hast du wenigstens deine Hausaufgaben ordentlich gemacht? Ich will keine weiteren Beschwerden von deinen Lehrern!" Welcher Vater kontrollierte bitteschön die Hausaufgaben seines achtzehnjährigen Sohnes?! Die Väter meiner Freunde taten das jedenfalls nicht!
„Ja." Als Beweis hielt ich ihm meine Englischhausaufgaben unter die Nase, die sogar eine Seite lang waren.
Er überflog sie kurz und meinte dann nur: „Gut gemacht." Das war für seine Verhältnisse ein schon ein sehr großes Lob.
Vielleicht war jetzt, wo er ausnahmsweise mal nicht sauer auf mich oder enttäuscht von mir war, der richtige Moment gekommen, um ihm von meinem liegengebliebenen Auto zu erzählen? Gestern Abend hatte ich da, wegen den ganzen unnötigen Gedanken, die ich mir gemacht hatte, gar nicht mehr dran gedacht.
„Äh Dad", fing ich also vorsichtig an und er schaute wieder von seiner Zeitung auf. „Ich habe gestern Abend so lange nach Hause gebraucht, weil mein Auto liegen geblieben ist und ich zu Fuß gegangen bin..."
„Ist das dein Ernst, Jackson?", fragte er nur genervt. „Warum schaffst du es eigentlich immer alles kaputt zu machen? Du hast das Auto doch noch nicht lange! Ich weiß wirklich nicht, ob ich dir nochmal sowas teures schenken sollte..."
„Aber ich hab doch gar nichts gemacht!", verteidigte ich mich. „Ich bin ganz normal gefahren und dann ist es plötzlich ausgegangen und nicht mehr angesprungen."
„Schreib mir auf, wo der Wagen ungefähr steht. Ich kümmre mich nachher darum, auch wenn ich eigentlich besseres zu tun habe!" Jetzt war er wirklich sehr genervt. „Und guck, dass du irgendwie zur Schule kommst, ich hab nämlich keine Zeit dich auch noch herumzukutschieren!"
Das hieß dann wohl, ich musste den Bus nehmen... Ich hasste Bus fahren! Es war uncool, es war laut, die ganzen kleinen Kinder gingen einem total auf die Nerven und man brauchte gefühlte Stunden bis zur Schule! Aber immerhin war Dad entspannter mit der Auto-Sache umgegangen als ich befürchtet hatte.
Als ich an der Schule ankam, standen die Jungs schon neben ihren Autos auf dem Schülerparkplatz.
„Wieso fährst du mit dem Bus?", fragte Cole verwundert, nachdem ich mich zu ihnen gesellt hatte. „Was ist mit deinem Auto?"
„Das ist gestern auf dem Weg nach Hause liegen geblieben und nicht mehr angesprungen." Ich verdrehte die Augen. „Mein Vater kümmert sich erst nachher darum."
„Oh Mann, das ist ja scheiße! Und jetzt musst du auch noch mit dem Bus fahren... Ich will echt nicht mit dir tauschen!", sagte Jack.
In diesem Moment kam Chestity mit ihren Freundinnen auf den Schulhof und zwinkerte mir im Vorbeigehen zu. Sofort musste ich anfangen zu grinsen. Sie war mir so gut wie sicher und ich hatte noch nicht mal wirklich viel dafür getan. Als sie sich, bevor sie hinter ihren Freundinnen das Schulgebäude betrat zu mir umdrehte und mich keck anlächelte, bewies sie mir das nur noch mal. Ich hoffte nur, dass ich mein Auto bis zu unserem Date wieder hatte, denn wenn wir mit dem Bus zum Restaurant fahren müssten, würde ich sie wahrscheinlich nicht sonderlich beeindrucken...
„Alter, du hattest Recht! Die fährt total auf dich ab", merkte Cole an.
Ja das tat sie. Wie ich es liebte gut auszusehen und charmant zu sein! Es machte einfach alles einfacher. Vor allem wenn es um Mädchen ging. Wenn ich wollte, könnte ich fast Jede hier auf diesem Schulhof haben. Das bewiesen mir schon die ganzen verstohlenen Blicke, die ich zugeworfen bekam.
„Oh Man Jackson, bleibst du jetzt eigentlich bei deinem Plan für Freitag mit Chestity?", fragte Will mich.
„Die Kleine ist so oder so in mich verknallt! Ich glaube, der ist es so gut wie egal wo wir hingehen.", antwortete ich selbstsicher. „ Aber egal, ich bleibe bei meiner ursprünglichen Entscheidung."
Wir unterhielten uns noch weiter über Mädchen, ganz besonders über zwei aus dem Jahr unter uns, auf die Jack und Cole ein Auge geworfen hatten. Sie standen ein paar Meter von uns entfernt und warfen uns immer wieder kichernd Blicke zu. Mich interessierten die beiden nicht wirklich. Sie waren zwar ganz süß, aber mehr eben auch nicht. Vielleicht gut genug, um sie einmal flachzulegen, aber danach garantiert langweilig.
Ich stand eher auf Mädchen, die heiß, selbstbewusst und ein bisschen Bad Girl waren. Und ich glaubte, dass Chestity so ein Mädchen war. Sie war eindeutig heiß und sie mochte zwar auf den ersten Blick, wie ein braves Mädchen wirken, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie das eigentlich nicht war.
Da Zac die zwei Mädchen auch langweilig fand, wandten wir uns einem interessanteren Thema zu: Das Rugbytraining morgen.
Und dann, als wir gerade in neue Spielzüge vertieft waren, passierte es. Etwas so seltsames, dass ich es mir in diesem Moment überhaupt nicht erklären konnte und das ich erst einige Zeit später so richtig verstehen sollte.
Ganz plötzlich von der einen auf die andere Sekunde fühlte ich mich ganz leer, so als würde mir etwas wirklich Wichtiges fehlen. Während ich noch herauszufinden versuchte, was das war und Zac schon gar nicht mehr richtig zuhörte, passierte etwas noch viel seltsameres. Ich meinte, dass mir jemand eine Hand auf meine Brust drückte, an der Stelle, wo mein Herz lag, obwohl ja noch nicht mal jemand vor mir stand. Dann spürte ich ein starkes Ziehen im Bauch. Ich schloss für einen kurzen Moment verwirrt die Augen und hätte schwören können, dass jemand direkt vor mir stand, nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Ich meinte sogar die Körperwärme einer anderen Person zu spüren und ihren Herzschlag zu hören.
Doch als ich meine Augen nach nur wenigen Millisekunden wieder öffnete, war da niemand, mal abgesehen von Zac, der einige Meter von mir entfernt stand und mich verwirrt ansah. Dafür verschwand der leichte Druck auf meiner Brust, woraufhin ich stark zusammenzuckte und sich ein kaltes Gefühl von dieser Stelle blitzschnell durch meinen ganzen Körper zog. Die Kälte war genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war, ebenso wie das Gefühl der Leere wieder verschwunden war. Stattdessen hatte ich jetzt das merkwürdige Gefühl beobachtet zu werden. Wurde ich jetzt endgültig verrückt?
„Alter, was war das?", fragte Will und sah mich fragend an. Ich hatte mittlerweile auch die Aufmerksamkeit der anderen drei.
„Nichts Mann, mir war nur irgendwie kurz kalt", meinte ich schulterzuckend. „Lass uns reingehen", schlug ich dann vor, um von meinem seltsamen Verhalten abzulenken und weil es eh gleich zur ersten Stunde klingeln würde.
Bevor wir unseren Kursraum betraten, hielt mich Zac nochmal auf. „Bist du dir sicher, dass es dir gut geht?" Er sah mich besorgt an. „Du bist schon die ganze Zeit mit deinen Gedanken irgendwo anders und das gerade war wirklich nicht normal."
„Mir geht's gut", wich ich aus. „Ich habe nur heute Nacht schlecht geschlafen."
„Okay", meinte Zac schulterzuckend und ich folgte ihm in den Klassenraum.
Das Gefühl beobachtet zu werden, ließ mich den Rest des Tages nicht mehr los. Ich schob es darauf, dass ich in meinem Unterbewusstsein immer noch Angst hatte, dass die drei Typen mich suchten. Was aber lächerlich war, denn wie schon gesagt: Wie sollten sie mich bitte finden?
Doch als das auch den Rest der Woche nicht aufhörte und ich sogar schon die Angewohnheit entwickelt hatte, mich nach möglichen Verfolgern umzusehen, machte ich mir langsam wirklich Sorgen um meine geistige Gesundheit. Es war doch nicht normal, dass mich das alles so sehr mitnahm! Denn dass ich das Gefühl hatte beobachtet zu werden, war noch lange nicht alles. Es war ja nicht so, als wäre das alleine nicht schon komisch genug! Nein, ich meinte auch noch manchmal, jemand hätte mich berührt und wenn ich mich dann umsah, war absolut niemand in meiner Nähe.
Am Donnerstag beim Rugbytraining wurde es dann richtig seltsam. Nach dem Aufwärmen trainierten wir den dropkick, eine Möglichkeit einen Freistoß zu schießen, bei der man den Ball aus der Hand auf den Boden fallen ließ und ihn dann kurz nach dem Aufkommen kickte. Dabei war ein Ball, den jemand gekickt hatte geradewegs auf mich zugekommen, aber ich hatte ihn nicht sehen können, weil ich mit dem Rücken dazu gestanden hatte. Erst als Zac mir quer über das ganze Spielfeld eine Warnung zurief, drehte ich mich um. Doch da war es eigentlich schon zu spät, denn der Ball befand sich nur noch wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt und flog mit rasender Geschwindigkeit durch die Luft. Innerlich machte ich mich schon auf den Aufprall auf meinem Gesicht und die darauffolgenden Schmerzen bereit. Doch so weit kam es nicht, denn in letzter Sekunde war es so, als würde jemand den Ball zur Seite schlagen und dieser war knapp an meinem Kopf vorbei geflogen und ein paar Meter hinter mir auf dem Rasen aufgetitscht.
Ich stand für ein paar Sekunden regungslos auf dem Feld. Wie war das möglich gewesen? Der Ball hätte mich treffen müssen! Er war nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt gewesen, da konnte er unmöglich noch eine Kurve fliegen!
Ich erwachte erst aus meiner Starre und meinen wirren Gedanken, als Zac auf mich zugelaufen kam. „Alles klar bei dir?", fragte er mich.
Ich nickte nur.
„Man das war echt knapp! Ein paar Zentimeter weiter rechts und du hättest jetzt eine gebrochene Nase..." Da hatte er wohl Recht! „Man, ich glaube fast, Sylvester wollte dich treffen.", fuhr Zac mit gesenkter Stimme fort.
„Sylvester hat den Ball geschossen?", fragte ich überrascht.
„Ja. Dieser Arsch! Ich meine, wir wissen, dass er was gegen dich hat, aber deshalb schießt man doch nicht seinen Teamkollegen beim Training ab!", regte Zac sich auf.
Aber ich hörte ihm schon wieder nur mit halben Ohr zu, denn das Sylvester den Ball geschossen hatte, machte die ganze Sache noch komischer. Wenn er mich hätte treffen wollen, dann hätte er mich auch getroffen, denn mit dem dropkick konnte man ziemlich genau zielen.
Aber wenn ich mir das so überlegte, hatte er vielleicht auch mit Absicht danebengeschossen, um mich einfach nur zu erschrecken, denn wie Zac schon gesagt hatte, wäre es ziemlich dämlich seinen Teamkollegen beim Training abzuschießen, selbst wenn man ihn nicht leiden konnte. Wahrscheinlich hatte ich mir einfach nur eingebildet, dass der Ball schon so nah an meinem Gesicht gewesen war. Ja, so musste es sein, denn anders konnte ich es mir einfach nicht erklären, ohne dabei total verrückt zu klingen.
Doch als wir später noch ein Spiel spielten, passierte das zweite mehr als seltsame an diesem Tag. Ich lief dem Ball hinterher, der durch die Luft flog und den ich versuchte zu fangen. Dabei achtete ich nicht darauf, wo ich hinlief, sondern sah nur auf den Ball. Deshalb lief ich fast in Arthur rein, der gerade mein Gegenspieler war und genauso fixiert auf den Ball war wie ich. Doch eben nur fast. Denn gerade als ich realisierte, dass er vor mir war und ich nicht mehr richtig bremsen können würde, packte mich jemand von hinten an meinem Trikot und zog mich in letzter Sekunde ein Stück zur Seite, so dass ich an Arthur vorbeilief.
Ich war so überrascht, dass ich den Ball vollkommen vergaß und stehen blieb, um mich nach der Person umzusehen, die mich vor einem Zusammenstoß mit Arthur bewahrt hatte. Aber es war absolut niemand nah genug an mir dran, als das er mich hätte wegziehen können. Was war nur los mit mir? Warum bildete ich mir seit gestern dauernd Sachen ein, die gar nicht sein konnten!?
„Was sollte das denn werden Graham?!", schrie mich jetzt auch noch Sylvester, der heute in meinem Team war, an, nachdem Arthur den Ball gefangen hatte und dann ein Tor erzielte. „Den Ball hättest du locker kriegen können!"
Ausnahmsweise musste ich ihm sogar Recht geben, obwohl ich ihn genau so wenig leiden konnte wie er mich. Hätte ich mich nicht ablenken lassen, hätte ich den Ball locker vor Arthur kriegen können und somit verhindert, dass das andere Team jetzt sechs Punkte mehr hatte.
Nach dem Training rief uns Coach Irvine noch mal alle zusammen, um uns etwas Wichtiges mitzuteilen. „Also, ich habe gute Neuigkeiten für euch", begann er. „Bei unserem nächsten Spiel nächste Woche Samstag werden zwei Talentsucher vom Marr RFC anwesend sein, die nach jungen Nachwuchsspielern suchen."
Ein begeistertes Raunen ging durch unsere Reihe, denn der Marr RFC zählte zu den erfolgreichsten Vereinsmannschaften in der Scottish Premiership und ich war ihr größter Fan.
„Ich bin mir sicher, dass einige von euch das Zeug dazu haben von ihnen ausgewählt zu werden." Dabei sah er Sylvester und mich bedeutungsvoll an. Es war kein Geheimnis, dass wir die besten Spieler im Team waren. „Ich erwarte von euch, dass ihr nächste Woche noch härter trainiert und dann am Samstag diese einmalige Chance nutzt!" Damit entließ er uns in die Umkleide, wo es dann natürlich kein anderes Thema mehr gab.
Und auch ich war mega aufgeregt, denn wenn ich an dem Tag gut spielte und sie sich für mich entschieden, würde mein allergrößter Traum in Erfüllung gehen. Ich könnte ein professioneller Rugbyspieler werden und das auch noch in meinem absoluten Lieblingsteam! Ich wollte nichts anderes in meinem Leben. Ich wollte nach der Schule nicht aufs College oder zur Uni gehen, um dann später irgendeinen langweiligen Beruf zu haben. Ich wollte Rugbyspieler werden, denn Rugby war mein Leben. Es hatte mir in allen schwierigen Phasen meines Lebens mehr geholfen als irgendetwas anderes. Ich liebte diesen Sport mit meinem ganzen Herzen mehr als irgendetwas anderes und sogar mehr als irgendeine Person.
Aber das hieß, ich musste mich bis nächste Woche Samstag wieder in den Griff bekommen oder ich würde mir diesen Traum selber zerstören!
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