Kapitel 12
Revanna
"Haben Sie denn nun völlig den Verstand verloren?!" Ob das eine rhetorische Frage war?
"Sie haben sich den Menschen gezeigt! Ihrem Schützling! Sie haben Menschen willkürlich verletzt und erneut liegt ein Mensch, der unter ihrem Schutz stand im Krankenhaus!" Ich fuhr leicht zusammen, senkte vorsichtig meinen Kopf und versuchte Fearghas Blicken auszuweichen.
"Was um alles in der Welt haben Sie sich nur gedacht?!" Seine Stimme war dunkel und voller Wut und ich machte unbewusst mehrere Schritte nach hinten. Doch auch wenn ich in dieser Sekunde große Angst hatte, konnte ich nicht verhindern, dass sich ein gewisser Anflug von Wut in mir bemerkbar machte.
"Antworten Sie mir!", fauchte mein Chef mich an und kam mir fast schon bedrohlich näher.
"Ich habe in einer Notsituation getan, was ich tun musste, um ihn zu retten, Sir", zischte ich leise und gab mir nicht sonderlich viel Mühe, meine Wut zu verstecken. Ich hatte getan, wofür ich auserkoren worden war und hatte ihn gerettet. War das denn nicht das Wichtigste?! Jackson lebte und war den Umständen entsprechend wohl auf. Wieso um alles in der Welt wurde ich also behandelt wie eine Schwerverbrecherin?
Das war nicht fair. Nichts von all dem hier war fair. Und ich hatte es satt!
Fearghas musterte mich abschätzend und fuhr sich dann mit einer Hand durch sein kurzes Haar. Er wirkte müde. So wie immer, wenn ich hier her kam. "Ich weiß nicht mehr, was ich mit Ihnen tun soll, Revanna", seufzte er und wandte sich langsam von mir ab. "Sie sind nicht dumm. Das ganz gewiss nicht. Doch Ihr Charakter ist ebenso anstrengend wie er einzigartig ist. Sie widersetzen sich den Regeln unserer Art, verhalten sich wie ein rebellierender Teenager und manchmal denke ich, dass man Sie absichtlich übersehen haben muss, damit niemand Übernatürliches, nicht einmal Luzifer sich nicht mit Ihnen abgeben muss." Ouch! Das saß.
"Aber Sie haben recht. Sie haben selbstlos gehandelt und haben Jackson gerettet. Sie haben das erste Mal, seit ich sie kenne, Ihren Job gemacht."
Überrascht sah ich auf. Damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet.
"Sie hätten den jungen Mann nur auf diese Art retten können. Und das Jackson Graham... lebt ist doch das Wichtigste. Nicht wahr?", fragte er und lächelte leicht gezwungen in meine Richtung. Irgendwas stimmte nicht. Nur wusste ich nicht was. Es war die Art und Weise, wie er mit mir sprach, wie er all diese Dinge sagte, die mir Sorgen machte...
"Als wir Sie her brachten, kam nur wenige Stunden später ein Engel persönlich mit einer Nachricht von den Zuständigen in der Silver City. Zwar scheint man mit Ihrer Vorgehensweise gegenüber den Angreifern unzufrieden, doch lobt man unser, nein, Ihr Vorgehen generell. Sie können sich glücklich schätzen."
Meine Augen weiteten sich. Ich war wohl doch nicht so sehr am Arsch, wie angenommen. Nein, man war sogar zufrieden mit dem, was ich getan hatte. Ein breites Lächeln legte sich auf meine Lippen. Stolz. So musste es sich anfühlen, stolz auf sich selbst zu sein. Ein schönes, wenn auch unbekanntes Gefühl.
"Der Engel wünscht Ihnen übrigens gute Besserung", mein Chef rümpfte leicht die Nase. "Wie war sein Name doch gleich? Logan? Ja, ich glaube so etwas in der Art... Kennen Sie ihn?" Fearghas sah mich forschend an und augenblicklich verschwand mein Lächeln wieder. Wenn es eine Sache gab, die man hier im Institut nicht sehen wollte, dann waren es Animus Perditus, die gute Kontakte zu anderen übernatürlichen Kreaturen aus Himmel oder Hölle hatten.
"Nein, Sir. Ich kenne keinen Engel namens Logan", log ich ohne zu zögern, woraufhin Fearghas zufrieden nickte, dann aber plötzlich nach meinem linken Arm griff und mich nach vorne zog.
Erschrocken fuhr ich zurück, während er nur die Augen verdrehte und meinen Arm fest mit seiner kalten Hand umgriff. Wusste er, dass ich log?!
"Was haben Sie nur angestellt?", fragte er und musterte mich mit einer plötzlichen Kühle.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich verstand, was er meinte. Sein Blick ruhte auf meinem immer noch beschädigten Armreif, den ich versucht hatte unter meinem T-Shirt Ärmel zu verstecken. Na klasse!
"Es war einer der Angreifer, Sir. Ich weiß nicht wie, aber er hat es geschafft, meinen Armreif mit einem gewöhnlichen Messer zu beschädigen. Aber da war etwas. Eine seltsame Dunkelheit, die an dem Messer und ihm klebte und...", ich unterbrach mich selbst, als ich verstand, wie dämlich ich mich anhören musste. "Ich-Ich kann es nicht beschreiben."
Fearghas schien kurz nachzudenken, doch dann schüttelte er mit einem leisen Lachen den Kopf und zog lächelnd die Augenbrauen hoch.
"Das ist absurd, Revanna!", lachte er halbherzig und noch bevor ich die Chance hatte, zu antworten, entfernte er mir mit einer schnellen Handbewegung den Armreif vom Oberarm.
Und ich schrie. Laut und voller Schmerz. Stolperte von ihm weg, nach Luft ringend.
Was um alles in der Welt hatte er getan?!
Mein Schrei wurde von Sekunde zu Sekunde leiser, bis er schließlich stumm und kraftlos wurde. Ich konnte Nichts mehr spüren. Jegliche Energie verließ abrupt meinen Körper, mein Kopf wurde von unglaublichen Schmerzen durchzogen und mein Sichtfeld verschwamm. Es dauerte keine Sekunde, da gaben meine Beine unter meinem Körper nach. Nicht schon wieder...
Fearghas hatte sich meinem Armreif zugewandt, drehte ihn kritisch zwischen seinen Fingern und wandte sich seinem Schreibtisch zu. Scheinbar war ihm mein plötzlicher Schmerz völlig egal. Umso schlimmer war er für mich.
Meine Augenlider wurden schwer und jegliches Gefühl wich aus meinen Gliedern. Der Armreif ließ mich auch noch als Tote auf der Erde wandeln, gab mir die benötigte Energie. Ohne ihn würde ich nicht lange hier bleiben können.
"Fear-fearghas...", japste ich atemlos, versuchte durch einen Tränenschleier nach oben zu sehen, wand mich vor Schmerzen vor ihm auf dem Boden. Luft. Ich brauchte Luft.
Ich konnte mich nicht mehr an den Tag erinnern, an dem ich gestorben war, doch das Gefühl, welches sich in dieser Sekunde in meiner Brust ausbreitete schien vertraut und rief Erinnerungen hervor, von dessen Existenz ich bis jetzt nichts gewusst hatte.
"Revanna!" "Revanna!" "Revanna!" "Du musst laufen, Re. Hast du verstanden!? Du musst laufen!" "Rev, lauf!" Woher kannte ich diese Stimme? Sie war weiblich, hoch und sehr angenehm klar. Doch war sie auch voller Angst und Sorge. Verzerrt von purer Panik und Entsetzen. Wer war diese Person? Warum rief sie meinen Namen?
Es regnete und es war kalt. Da waren Stimmen. Viele, laute Stimmen und lautes Reifenquietschen. Meine Kleidung triefte, Wasser tropfte aus meinen Haaren. Ich zitterte. Was suchte ich hier? "Revanna?", fragte eine männliche, raue Stimme plötzlich hinter mir. Angst durchströmte mich. Ich kannte diese Stimme. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte...
Luft drang abrupt wieder in meine Lungen zurück, zerstörte die verschwommene Erinnerung vor meinem inneren Auge. Ich japste laut auf, als Energie durch meinen Körper strömte und meine Sicht klarer wurde. Was war gerade passiert?!
"Willkommen zurück, Revanna", hörte ich, wie durch ein dickes Tuch hindurch Fearghas murmeln. Er kniete neben mir auf dem Marmorboden, hatte seine Hand an meinem Oberarm. Fearghas hatte mir meinen Armreif wieder gegeben. Er hatte ihn repariert.
"Was-was ist gerade passiert?! Was haben Sie getan?! Was waren das für... Stimmen und Bilder?", haspelte ich, als ich unbeholfen versuchte, mich wieder aufzusetzen. Jeder Knochen meines Körpers schmerzte, aber ich ignorierte jeglichen Schmerz und stand auf. Kurz hatte ich das Gefühl mein Gleichgewicht zu verlieren, doch so schnell wie der Schwindel gekommen war, war er auch wieder verschwunden. Dafür dröhnte mein Kopf unglaublich stark.
Mein Chef sah mich skeptisch an, bevor er antwortete: "Ich musste Ihnen Ihren Armreif entfernen, um diesen reparieren zu können. In der Zeit, in der Sie nicht mehr in Kontakt mit diesem standen, hatten Sie, theoretisch betrachtet, keine Befugnis mehr auf der Erde zu wandeln. Ihre Seele wurde, so wie ich befürchte, langsam wieder in Richtung der Zwischendimension gezogen."
"Ich war wieder..."
"Nein. Ich habe Ihnen den Armreif wieder angelegt, bevor Sie wieder zurückgezogen wurden." Na, vielen Dank auch!
"Und die Stimmen? Diese Bilder, dieser Ort, an dem ich mich befunden habe..."
"Sie sollten wieder zu Mister Graham", unterbrach mein Vorgesetzter mich und machte dann eine abweisende Handbewegung. Ich sollte gehen. Er wollte mich einfach so weg schicken. Nach all dem, was gerade erst passiert war.
"Fearghas", versuchte ich es erneut, meine Neugier eindeutig dominanter als mein Verstand, doch mein Boss ignorierte mich. Aber natürlich tat er das. Gerade eben hatte er mich noch fast getötet und jetzt tat er so, als gäbe es mich nicht mehr. Das war ja so typisch. Was ich, wenn ich gerade so darüber nachdachte, als etwas beunruhigend empfinden sollte...
"Mister Graham liegt im Krankenhaus...Also los!" Verwirrt sah ich meinen Chef an. "Gehen Sie an die Arbeit, Revanna!"
"Aber ich..."
"Revanna!"
...............
Wie konnte jemand nur so tief schlafen? Ich hatte ihm jetzt schon mehrmals gegen sein Ohr geschnipst, aber der Schwachkopf rührte sich nicht. Und mir war langweilig. So, so langweilig. Und das stetige Piepsen der Geräte fing an, mich wahnsinnig zu machen.
"Wach auf", knirschte ich und stupste Jackson in die Seite.
"Wach auf!", wiederholte ich etwas lauter und stupste ihm an die Wange, die über und über mit Pflastern und Cremes bedeckt war. Der Desinfektionsmittelgeruch brannte in meiner Nase und die Schritte der hektischen Ärzte und Krankenschwestern hallten laut in meinen Ohren. Dieser Ort machte mich irre.
Trotz all der Verbände und Pflaster in Jacksons Gesicht sah er zugegebener Weise nicht unattraktiv aus. Ganz im Gegenteil. Er wirkte so... friedlich und entspannt und sah schon fast glücklich aus. Gott, das machte mich krank!
"Wach auf!" Doch der Blödmann rührte sich nicht. Klasse. Ich würde hier entweder wegen Langweile oder zu viel Sauberkeit sterben.
Das helle und warme Sonnenlicht, welches durch die blauen Vorhänge fiel, ließ den hell eingerichteten Raum grell erscheinen. Meine Augen taten schon weh. Ich hasste Krankenhäuser. Ich wusste nicht genau wieso, aber sie störten mich auf eine Art und Weise, die sich nicht in Worte fassen ließ.
Jackson war ein Schwachkopf. Keine Frage. Doch er hatte all das hier nicht verdient. Verdammt, er hatte mich als Beschützerin nicht verdient. Mit einem leisen und erschöpften Seufzen ließ ich mich auf der Bettkante nieder und schob seinen Arm leicht zur Seite, sodass mich an das Kopfteil des Bettes lehnen konnte. Seine Haut war im Gegensatz zu meiner eigenen unglaublich warm. Das Sonnenlicht ließ die Haare des Jungen golden glänzen. Sie sahen so flauschig und weich aus. Unbewusst und immer noch in meine Gedanken vertieft, streckte ich meine Hand nach ihm aus und fuhr im langsam durch das kurze Haar. Es war wirklich unglaublich weich. Mein Blick fiel erneut auf seine Schürfwunden. Es war meine Schuld. Ich hätte früher da sein sollen. Aber wem machte ich Vorwürfe?! Er wäre jetzt tot, wenn ich nicht da gewesen wäre, also schätzte ich mal, dass ich meinen Job nicht komplett verkackt hatte. Ja, ich sollte stolz auf mich sein und nicht in Selbstmitleid ertrinken.
"Du Trottel kannst froh sein mich haben", murmelte ich leise und konnte nicht verhindern, dass sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen legte.
...............
Oh, wie sehr ich ihn doch hasste! Diesen beschränkten, testosterongesteuerten, blonden Schwachkopf! Er war noch keinen Tag aus dem Krankenhaus draußen und schon fing er an davon zu reden, dass er Rugby spielen wollte und dazu in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen.
"Ich brauche keinen Aufpasser!" Pah! Dass ich nicht lachte! Ohne mich wäre er jetzt so platt wie ein platt getretener Kaugummi auf dem Gehweg! Ohne mich wäre er jetzt tot!
Und dann seine Paranoia. Immer sah er sich um, als wäre sonst wer hinter ihm her. Immer wieder drehte er sich nach jemandem um, der gar nicht da war. Und es nervte mich! Jetzt noch mehr als jemals zuvor.
In dieser Sekunde lief er unruhig in seinem Zimmer auf und ab, was meine Vorstellung von ihm, ohne Kopf und auf dem Boden liegend, nur noch attraktiver machte. Er sollte endlich schlafen gehen und mir damit meinen wohlverdienten Feierabend ermöglichen. Aber nein. Nein, er musste nervös durch die Gegend wandern und mir mein Leben nur noch schwerer machen.
Genervt lehnte ich also an einer der Wände und sah dabei zu, wie er nach und nach dem Wahnsinn verfiel. Das Ganze war so lange amüsant, bis er sich plötzlich seine Jacke schnappte und aus dem Haus schlich. Wollte er mich fertig machen?!
"Jackson!", fauchte ich, als ich ihm hinterher rannte. "Jackson. Hast du sie nicht mehr alle?!"
Er hörte mich nicht. Dessen war ich mir bewusst, dennoch war es zu einer Angewohnheit geworden mit den Menschen zu sprechen, auch wenn mir klar war, dass sie mich niemals hören würden.
Eilig folgte ich dem Jungen durch die Straßen des menschenleeren Viertels. Meine Blicke sprangen unsicher durch unsere Umgebung. Noch vor wenigen Tagen lag er im Krankenhaus, weil er von einer Gruppe von Kriminellen fast getötet worden war und nun schlich er bei Nacht und Nebel durch die Straßen, als hätte er trotz seiner Paranoia nichts zu befürchten. Herr lass Gehirne vom Himmel regnen!
"Jackson! Verdammt, ich werde dich nicht nochmal retten, hast du gehört?! Ich werde dich abkratzen lassen, solltest du wegen deiner eigenen Dummheit nochmal fast getötet werden! Denn du bist alt genug um auf dich selbst aufzu... ach verdammt!"
Ich knurrte, als ich anfangen musste zu joggen, um erneut zu ihm aufzuholen. Auf Horst-John aufzupassen, hatte mich zwar vor Schwierigkeiten gestellt, das stand außer Frage, doch stellte mich Jacksons Schutz vor Herausforderungen, die mir bis jetzt unbekannt waren. Er war jung, bewegte sich viel, war voller Energie und Lebenslust. Es gab keinen Tag, an dessen Ende ich nicht das Gefühl hatte, tausende von Kilometer gelaufen zu sein. Und es machte mich so langsam fertig! Physisch und mental.
Vor mir her fluchend, bemerkte ich erst viel zu spät, dass der Junge abrupt stehen geblieben war, sodass ich ungebremst gegen seinen Rücken rannte und mit einem leisen "Uff" nach hinten stolperte. Sein Rücken war verdammt massiv.
"Hast du sie nicht mehr alle?!", fluchte ich wütend, als ich neben ihn trat und ihn böse anblitzte. Jackson war vor einem Haus mit bodentiefen Fenstern stehen geblieben. Es lag nah an der Straße. Kein Licht brannte mehr hinter den Fensterscheiben, kein Auto stand in der Einfahrt. Das Haus schien verlassen.
Ich runzelte die Stirn. Warum hatte Jackson angehalten? Und warum hier?
Sein Blick lag auf der Fensterscheibe, in der sich das Licht der wenigen Straßenlaternen brach. Sah er gerade tatsächlich sein eigenes Spielbild an?!
Neugierig trat ich noch etwas näher an ihn heran und bemerkte etwas Erstaunliches. Jackson sah nicht sich selbst in der Spieglung an. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf etwas rechts von ihm. Meine Stirn legte sich in Falten, als ich mich mehrmals drehte und unsere Umgebung erneut genau beobachtete. Aber da war nichts Ungewöhnliches. Außer uns stand niemand auf dem Gehweg. Und außer mir, befand sich auch nichts unmittelbar rechts von ihm. Was war sein Problem?
Der Freak sah sich nun fast schon panisch um, drehte sich um die eigene Achse, die Augen so groß wie Autoräder. Als würde er nach jemandem oder etwas suchen. Nach wenigen Sekunden drehte er sich plötzlich um und rannte wieder in Richtung seines Zuhauses. Komisch? Ganz sicher nicht...
Wen oder was hatte er gesehen? Und warum hatte ich nichts gesehen?
Ob er nun endgültig den Verstand verloren hatte?!
.......
Während Jackson sich die Mühe machte und durch das Haus schlich, nahm ich einfach etwas Anlauf und flog durch seine Balkontür wieder in sein Zimmer.
Wenn es eine Sache gab, die ich an Jacksons Zimmer liebte, dann waren es die kleinen, gerahmten Bilder auf seinem Regal. Bilder von ihm und seiner Mutter, Bilder von ihm als kleiner Junge mit seiner restlichen Familie, Bilder von ihm beim Sport und Bilder von Freunden. Ich liebte seine kleine Sammlung und verbrachte zugegebener Weise viel Zeit damit, sie zu betrachten, wenn Jackson abends ins Bett ging. Ich selber besaß immerhin keine Bilder von mir selbst, oder irgendwem aus meinem vergangenen Leben...
Auf einem der Bilder, hatte Jackson mehr als nur verstrubbelte Haare und war über und über mit Schlamm bedeckt. Ich schmunzelte.
"Oh Jackson. Du sahst damals scheiße aus", lachte ich leise vor mich hin, wohl wissend, dass ich mich selbst damit anlog. Jackson, so leid wie es mir auch tat, sah nun wirklich nicht schlecht aus. Aber es laut zuzugeben kam nicht in Frage! Im Augenwinkel konnte ich sehen, wie Jackson aus seinem Badezimmer trat und im Türrahmen stehen blieb. Ich selbst störte mich aber nicht weiter an ihm, sondern ließ meine Blicke weiter über die Fotos schweifen. Ob meine Familie auch so viele Fotos von mir besessen hatte?
"Hey. Wer bist du?! Wie zum Teufel bist du hier rein gekommen?!" Jacksons Stimme machte mich hellhörig. Verwirrt zog ich die Augenbrauen zusammen und ließ meine Blicke durch sein Zimmer wandern. Außer uns war niemand da. Genervt verdrehte ich die Augen. Das mit den Wahnvorstellungen wurde ja immer schlimmer.
"Seit wann führst du denn auch noch Selbstgespräche? Als wäre deine Paranoia nicht schon genug", murmelte ich und wandte mich gelangweilt wieder von ihm ab. Der hatte sie doch nicht mehr alle!
"Ich kenne dich doch! Du bist das Mädchen aus dem Park. Du hast mich gerettet", hauchte er entsetzt. Ich erstarrte in meiner Bewegung. Unmöglich.
"Hör zu, wenn du es wirklich bist, bin ich dir zwar sehr dankbar, dass du mir geholfen hast, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, mich zu verfolgen, einfach in mein Zimmer zu kommen, so zu tun als würde ich nicht mit dir reden und mich zu beleidigen!"
Nein. Nein, nein, nein. Das war nicht möglich. Völlig ausgeschlossen.
"Moment mal?!", murmelte ich verwirrt, während ich noch immer versuchte zu realisieren, was hier gerade passierte. Langsam hob ich meine rechte Hand, woraufhin der Blick des Jungen, augenblicklich meiner Geste folgte. Er sah mich an. Er sah nicht durch mich hindurch, oder an mir vorbei... Nein, er sah mich tatsächlich an.
Mein Atem beschleunigte sich. Das durfte nicht sein. Das konnte nicht sein. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn. Vor meinem inneren Auge liefen alle möglichen Szenarien ab, die eintreten könnten, sollte Fearghas hier von erfahren. Szenarien, in denen mich die Erzengel für meine Tat in die Hölle, oder wieder in die Zwischendimension steckten, Szenarien in denen ich, als Strafe wieder Horst-Johns Beschützer sein musste oder verbannt wurde. Doch egal wie viele Szenarien ich mir ausmalte, in keinem einzigen Szenario ging es dabei für mich gut aus.
Mein Blick fiel auf meinen Armreif. Nicht sichtbar, hörbar und berührbar. Warum um alles in der Welt konnte er mich sehen?!
"Du-du sprichst mit mir", hauchte ich erstickt. "Du kannst mich sehen... und hören." Nur selten hatte meine Stimme so hilflos und entsetzt geklungen.
"Äh ja... Warum sollte ich nicht?" Trotz der tiefen Schatten, die in Jacksons Zimmer geworfen wurden, konnte ich spüren, wie sein Blick sich auffordernd in meine Augen bohrte. Ich schluckte schwer.
Noch stand ich so weit vom Bad entfernt, dass kein direktes Licht auf meinen gesamten Körper fiel. Er konnte mich also noch nicht vollständig sehen.
Was sollte ich jetzt tun? Ihm etwas Schweres an den Kopf werfen, sodass er ohnmächtig wurde und dann verschwinden? Mich verstecken? Anfangen zu schreien und mich aus dem Fenster schmeißen? Oh, Mist! Ich war geliefert! Meine Hände zitterten leicht. Improvisieren. Lügen. Ja, so könnte ich mich retten...
Ich räusperte mich: "Nun, ich hätte nie gedacht, dass ich mal in diese Situation kommen würde, also...", begann ich vorsichtig, trat dabei aus dem Schatten heraus und hielt ihm dabei meine ausgestreckte Hand hin. "Hi. Ich bin Revanna und es ist meine Aufgabe dich zu verfolgen und zu beschützen, denn ich bin dein ganz persönlicher Animabus Perditus. Freut mich sehr, dich persönlich kennen zu lernen."
Ich hatte vergessen, wie schlecht ich in Stresssituationen improvisieren konnte. Hilflos versuchte ich die Situation noch mit einem angestrengten Lächeln abzutun, doch Jackson starrte nur hinter mich auf meine Flügel, die mehr als die Hälfte des Raums ausfüllten. Oh, richtig. Das hatte ich vergessen.
"Jackson...?", fragte ich vorsichtig, doch da hatten sich die Augen des Jungen auch schon nach hinten gedreht.
Da stand ich also, als mein Schützling vor meinen Augen wie tot zu Boden fiel. Oh verdammt...
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