Kapitel 10
Revanna
Ich hasste diesen Jungen! Ich hasste, hasste, HASSTE diesen verdammten Jungen! Noch viel mehr als Aiden, noch viel mehr als Horst, noch mehr als Fearghas und noch viel mehr als die Stimme in meinem Kopf, die mich zu liebevollen Taten anstiften wollte!
Er war ein eingebildeter, überheblicher, egoistischer, paranoider, verwöhnter Mistkerl, ein Möchtegern-Badboy, ein Arschloch wie es im Buche stand. Vor diesem Hintergrundwissen stellte ich mir nun folgende Frage: Wie um alles in der Welt, konnte er so Gott verdammt beliebt sein?!
Ich hatte keine Ahnung, wieso oder warum, aber alle liebten Jackson Graham. Nahezu ausnahmslos alle. Von den Typen, die ihn umbringen wollten und dem Ex seiner Angebeteten mal abgesehen. Alle Mädchen vergötterten ihn. Alle Jungen wollten so sein wie er, wollten sein Aussehen, seinen Status, sein Leben. Und ich? Ich wollte ihn in dieser Sekunde einfach nur am Boden sehen. Umgeben von viel Blut und vorzugsweise ohne Kopf.
Wieso, fragt ihr euch? Nun, nach den oben genannten Tatsachen, war es mir bereits schwer gefallen eine Art von Sympathie für ihn zu entwickeln und jetzt stand er vor mir, mitten auf der Tanzfläche, eng umschlungen mit einem unbekannten Mädchen tanzend. Nicht mit Chestity, die er noch vor wenigen Tagen umworben hatte, wie ein notgeiler Idiot. Nein, dieses Mädchen war mir unbekannt. Vielleicht war sie auch ihm unbekannt, aber das störte den feinen Herrn ja nicht. Wieso auch?!
Fakt war, dass er noch nicht mal annäherungsweise mit Chestity zusammen war und sich jetzt schon an eine Andere ranmachte. Und, auch wenn ich Chestity nicht leiden konnte, war dies selbst aus meiner Sicht eine Unverschämtheit!
Horst hatte ein halbes Jahr gebraucht, bis er mich an diesem Punkt hatte, wo ich einfach nur seinen Tod wollte. Jackson hatte dazu nur knapp eine Woche gebraucht.
Ein Keuchen entwich meiner Kehle, als ein weiterer mehr als nur angetrunkener Teenager durch mich hindurch torkelte. Dabei hatte ich mich in weiser Voraussicht bereits zu Anfang der Party an ein Fenster weiter weg von der kleinen Bar und der Tanzfläche gestellt. Von hier aus hatte ich einen wundervollen Blick auf die hormongesteuerten Freaks, die sich auf der Tanzfläche zum Affen machten.
Müsste ich einen Award für den schlimmsten Tänzer der Welt vergeben, würde dieser zweifelsfrei an den Enten-Typen gehen, der seit mehr als zehn Minuten mit seinen Armen herumfuchtelte, als würde er gegen das Ertrinken ankämpfen und gleichzeitig mit seinen imaginären Flügeln schlagen. Ganz ehrlich, so etwas Schlimmes und zugleich Beängstigendes hatte ich bisher nur selten gesehen.
Ich schnaubte genervt. Zwei weitere Menschen, die durch mich hindurch liefen. Großartig. Automatisch umklammerte ich das Glas, welches ich mir von der Bar geschnappt und mit unter mein Cover geschlossen hatte, noch etwas fester. Der Bourbon der sich im Inneren befand, hatte kaum Geschmack, schmeckte für mich mehr wie Wasser als Alkohol.
Alkohol war bei mir wirkungslos und daher eigentlich unnütz, doch er lenkte ab. Zumindest ein wenig. Ich hatte schon seit Ewigkeiten nichts mehr vollständig und intensiv geschmeckt. Nicht falsch verstehen, ich konnte durchaus Dingen schmecken. Nur eben nicht mehr so intensiv wie Menschen. Und Alkohol? Alkohol hatte keinen Einfluss mehr auf mich. Warum verstand ich selbst nicht so genau. Es musste etwas mit der Veränderung meiner physischen Gestalt, während meiner Zeit in der Zwischendimension zu tun haben.
Ein Schauer lief meinen Rücken herunter, als ich kurz meine Augen schloss und mich zurück erinnerte. Die Zwischendimension..
Ein Nichts ohne Boden und ohne Wände. Ohne Ton und ohne Luft.
Tiefste Schwärze.
Der metallartige Geruch des eigenen Blutes.
Schmerzen. Unendliche Schmerzen.
Das kalte Eisen um Hand- und Fußgelenke.
Und dann diese Stimmen, die aus dem Nichts kamen und wieder verschwanden. Wie sie schrien und weinten, bis mein Kopf zu explodieren drohte.
Mein eigener Atem, mein eigener Herzschlag, tot und leise. Wie abgewürgt und stumm gestellt.
Das Stechen der Flügel, die sich aus der Haut stießen, die Knochen brachen, Qualen bereiteten...
Erschrocken riss ich meine Augen wieder auf. Das Glas in meiner Hand war gesplittert, mein Atem schnell und unregelmäßig. Nein. Nein, ich würde nie wieder zu diesem Ort zurückkehren. Nie wieder!
„Lass die Finger von ihr!" Überrascht sah ich zu einer kleinen Ansammlung Menschen, nicht weit von der Tanzfläche entfernt. War das nicht Sylvesters Stimme?! Er schien ja mehr als nur wütend zu sein. Ich fragte mich...
„Also wenn ich mich richtig erinnere, hat sie mit dir Schluss gemacht und somit hast du leider keinerlei Ansprüche mehr auf sie." Jackson. Das hätte ich mir denken können.
Eilig bahnte ich mir meinen Weg durch die Massen aus Teenagern und versuchte ihnen dabei auszuweichen, sodass sie nicht durch mich hindurch liefen. Konnte Jackson denn nicht nur ein einziges Mal die Klappe halten?! Noch einen Streit wegen der Quasselstrippe und ich würde durchdrehen.
"Außerdem mag sie mich offensichtlich mehr als dich. Der beste Lover bist du wohl nicht gewesen."
Wieso?!
Noch bevor ich vollständig bei den beiden Idioten angekommen war, ging Sylvester auch schon auf Jackson los. Na klasse...
Jackson war überraschend gut, wenn es darum ging, sich zu verteidigen. Das musste man ihm lassen. Offen gesagt, hatte ich angenommen, dass er nicht unbeschadet aus der ganzen Sache heraus kommen würde, aber scheinbar hatte ich mich geirrt.
Ich hatte trotzdem eingreifen müssen. Aber wäre es nicht meine Aufgabe, ihn gesund und am Leben zu erhalten, hätte ich keinen Muskel gerührt. Was machte denn eine kleine Schlägerei schon aus?! Ein gebrochenes Nasenbein hätte ihn schon nicht umgebracht und verdient wäre es definitiv gewesen.
Chestity hatte dies anscheinend ganz anders gesehen, als sie sich im Anschluss übertrieben fürsorglich um Jackson gekümmert hatte. Wenn er mich kennen würde und ich noch am Leben wäre, wäre ich die Letzte gewesen, die ihn bedauert oder ihm geholfen hätte. Oh nein! Ich hätte, hätte er am Boden gelegen, sogar noch mal nachgetreten. Dieser Idiot hatte die Situation provoziert und angeheizt und hatte dafür einstecken müssen. So war das Leben nun mal.
Von der ganzen Situation mal wieder gereizt und mehr als nur genervt, stapfte ich nun also hinter ihm her, von der Hausparty weg und durch den nahe gelegenen Park.In regelmäßigen Abständen kickte ich kleinere Kieselsteine vor mir her und machte mir einen Spaß daraus, sie immer genau dann gegen Jacksons Füße flitschen zu lassen, wenn er diese absetze. Doch ihm schien dies gar nicht aufzufallen. Stattdessen zog er ein langes Gesicht, hatte seine Hände in die Jackentaschen gesteckt und grummelte vor sich hin.
Wie weit waren wir noch von Jacksons Zuhause entfernt? Kannte er den Weg überhaupt?!
Natürlich hatte ich nachts nichts Besseres zu tun, als auf diesen Idioten aufzupassen. Doch als wir noch ein paar Meter weiter gegangen waren, wünschte ich mir plötzlich nichts sehnlicher, als ihn sicher Zuhause zu wissen.
Die Luft schien mit einem mal dick und kalt und die sonst so angenehme Stille sorgte plötzlich für eine unbeschreibliche Spannung in meiner Brust. Es stimmte etwas nicht. Jedes noch so kleine Geräusch ließ mich zusammen fahren und mit jedem Rascheln in den Baumkronen wurde meine Anspannung größer. Ich konnte es fühlen. Es waberte unheilvoll durch die Luft, nahm mir den Atem. Gefahr und Tod. Doch das war nicht das Einzige. Da lag noch etwas in der Luft. Ein Geruch, der mir vertraut vorkam, doch den ich nicht zuordnen konnte. Hier war etwas. Ganz in unserer Nähe und es gehörte nicht hier her.
Die Laternen im Park spendeten nur wenig Licht, ließen die Schatten verkrümmt und groß wirken. Waren da Schritte auf dem Kies, die nicht zu Jackson gehörten? Meine Blicke sprangen unruhig von Jackson zu unserer Umgebung und wieder zurück. Sein Herzschlag schien laut durch die Stille zu hallen, als meine Sinne sich auf ihn verschärften. Sein Blut rauschte laut durch seine Venen. Er hatte Angst. Er spürte es auch. Blicke, die auf uns gerichtet waren. Die Blicke von Fremden, die er nicht sehen konnte.
Er musste hier weg. Er musste sich beeilen.
Hier stimmte etwas nicht. Hier stimmte etwas ganz gewaltig nicht.
"Hallo?! Ist da wer?", hörte ich seine Stimme laut fragen, doch ich achtete nicht auf hin. Schatten. Da waren Schatten, die nicht hierher gehörten. Und sie kamen näher.
"Jackson", murmelte ich panisch und wollte die knappen zwei Meter, die ich bis gerade zu ihm Abstand gehalten hatte, aufholen, als ein Schmerz meinen Körper durchzog.
Ich keuchte voller Schmerz laut auf und sah für wenige Sekunden schwarze Punkte in meinem Sichtfeld tanzen. Jemand war seitlich durch mich hindurch gelaufen. Unmöglich. Ich reagierte sonst nie auf diese Art. Nicht solange normale Menschen durch mich liefen.
Die Person hatte etwas bei sich. Anderes konnte ich es mir nicht erklären. Irgendetwas, das mich augenblicklich schwächte. Etwas Böses, etwas Unbekanntes, etwas Dunkles. Aber das war unmöglich.
"Jackson!", atmete ich schwer und stolperte nach vorne, immer weiter auf ihn zu.
Die Männer hatten ihn bereits erreicht, als ich noch circa einen Meter von ihnen entfernt war, schienen ihn anzuschreien. Ich musste etwas machen. Ich musste eingreifen. Nur wusste ich nicht wie. Würde ich unsichtbar bleiben, nur physischen Kontakt zulassen wäre ich, trotz meiner Kraft, nicht stark genug und alles andere wäre sinnlos.
Immer wieder lief dasselbe Szenario in meinem Verstand ab. Diese Männer würden ihn, gerade wegen seines Zustandes schwer zu richten, vielleicht sogar töten. Sie waren zu viele, als das er sich wehren könnte. Und würde er hier und jetzt sterben, würde meine Existenz mit ihm enden. Ich würde wieder zurück müssen...
Die Stille. Plötzlich zerrissen von tausenden von Stimmen, die auf mich einbrachen, wie ein Orkan.
"Hilf mir! Bitte, bitte hilf mir!"
"Das ist alles deine schuld!"
"Man hat dich vergessen!"
"Wie konntest du mir das nur antun!"
"Holt mich hier raus!"
"Du bist eine Schande!"
"Bitte! Hol mich hier raus!"
Kreischende Stimmen von Kindern und von Erwachsenen, so laut, dass man den Verstand verlor.
Sie wurden lauter. Immer und immer lauter, zerrissen die Trommelfelder, ließen mich vor Schmerz schreien.
"Es ist alles deine Schuld!"
Erschrocken japste ich auf. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn, als die Erinnerungen so plötzlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Ich konnte nicht zurück. Ich konnte nicht mehr zurück!
Die Männer fingen an auf Jackson loszugehen und ich? Ich sah und hörte nichts mehr, spürte nur seinen rasenden Herzschlag in meiner Brust, spürte seine Angst. Mein Atem war schnell und unkontrolliert, meine Nerven am Ende und in eben diesem Stadium traf ich eine Entscheidung, die niemand sonst guten Gewissens getroffen hätte.
Eilig fuhr ich mit meinem Finger über meinen Armreif und realisierte erst, was ich getan hatte, als ein unglaublicher Schmerz erneut meinen Körper durchzog. Urplötzlich war es, als würde mein Körper in Flammen stehen, als würden Messer in mein Fleisch schneiden und sich langsam in den Wunden drehen.
Mein Körper materialisierte sich. Vollständig. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Ein Stadium, in dem unser Körper wieder sichtbar und berührbar, in dem unsere Stimme wieder hörbar wurde, raubte uns Energie. Unglaublich viel Energie. Dies war auch der Grund, warum wir in diesem Stadium nicht länger als zehn Minuten bei Bewusstsein sein, bei konstanter Energie bleiben konnten. Wir waren nicht mehr lebendig und selbst wenige Sekunden, in denen wir als Tote wieder "menschlich" wurden, waren ein Vergehen gegen die Natur, ein Vergehen gegen die Regeln aller irdischen Existenz.
Kurz um, es war uns im Grunde genommen strengstens verboten und auch in apokalyptischen Szenarien unangebracht. Diese Art der Energieverwendung durfte nur, mit Einverständnis der Erzengel geschehen und diese hatte ich sicherlich nicht.
Doch es war mir egal. Alles, außer Jacksons Wohlergehen, war mir in dieser Sekunde egal, auch wenn der Schmerz unbeschreiblich war.
Meine Flügel, die ich sonst als selbstverständlich wahrnahm, die mich nicht störten, schienen mit einem Mal Tonnen zu wiegen, wirkten fremd und ungewohnt. Ich betete zu wem auch immer, dass ich noch laufen, mich noch bewegen konnte.
"Hey!" Meine Stimme war leicht kratzig, doch überraschend stark und selbstbewusst.
Bitte lass nicht alles um sonst gewesen sein! Bitte lass sie mich hören.
Tatsächlich fuhren vier der Typen herum und sahen mich überrascht an. Sie sahen mich an. Sie sahen nicht durch mich hindurch, nicht an mir vorbei oder suchten nach der Quelle einer mysteriösen Stimme. Nein, nein sie sahen mir direkt in die Augen. Ich schluckte.
"Lasst den Jungen in Ruhe! Oder ich schwöre euch, dass ihr es bereuen werdet!" Soweit so gut. Mit strengen Schritten lief ich weiter auf sie zu, sodass ich nur wenige Meter von ihnen entfernt stand und spürte wie meine Flügel sich hinter mir entfalteten.
Doch die Männer schienen keine Angst zu haben. Ganz im Gegenteil.
"Na sieh mal einer an. Das kleine Püppchen hier, versucht die Heldin zu spielen. Hey, Kleine, bist du einfach nur irre, oder gerade von einer Victorias Secret Fashion Show zurück gekommen?", lachte einer von ihnen und zeigte dabei höhnend auf meine dunklen Schwingen. Und ich sah rot.
Kleines Püppchen?! Irre?! Halt. Nein, dass mit dem irre könnte sogar sein.
Mein Blick fiel auf Jackson, welcher keuchend auf dem Boden lag und anscheinend kurz davor war sein Bewusstsein zu verlieren.
Großartig! Wirklich großartig!
"Na los, Jungs. Schnappt euch die Kleine und nehmt ihr diese künstlichen Flügel weg! Bringt sie zum Schweigen!" Ohne die Anweisungen ihres Bosses zu hinterfragen, kamen die drei Männer, mit gezückten Klappmessern auf mich zu. Wie niedlich. Ein Jammer, dass ich sie nicht töten durfte, sonst würde ich ihnen schon zeigen, was richtige Messer waren.
Ich wartete, bis der erste Mann etwa zwei Schritte von mir entfernt war, bevor ich ihm das Messer aus der Hand trat und ihm einen festen Schlag ins Gesicht verpasste. Ein widerliches Knacksen erfüllte die Nacht, als meine Hand auf seine Nase traf und er mehrere Meter nach hinten geschleudert wurde, wo er bewusstlos im Gras liegen blieb. Bis jetzt lief das alles hier besser als geplant.
Zwar wurde mir kurz schummerig, aber das hinderte mich nicht daran, auch dem zweiten Mann das Messer aus der Hand zu reißen, es zur Seite zu schmeißen und ihm mit einem festen Tritt die Beine unterm Körper weg zu ziehen. Mit einem schmerzvollen Stöhnen fiel er vor mir zu Boden, schlug auf den Kies auf, hielt sich das Schienbein, nicht mehr in der Lage dazu aufzustehen.
Erneut durchzog ein kurzer Schmerz meinen Körper. Meine Energie schwand und mein schlechtes Gewissen fing an, mich zu quälen.
Auch den letzten Mann entwaffnete ich in nur wenigen Sekunden, packte ihn am Kragen und warf ihn, fast schon achtlos meterweit zur Seite, den Blick immer nur auf Jackson gerichtet. Ihm durfte nichts geschehen. Jackson musste leben. Ihm sollte nicht dasselbe widerfahren wie mir.
Ich hatte ihn schon fast erreicht, als mir erneut schwindelig wurde. Schwarze Punkte tauchten in meinem Blickfeld auf, ein Summen legte sich auf meine Ohren. Ich konnte meinen Atem hören, Jacksons rasenden Herzschlag, sein schmerzerfülltes Keuchen. Stolpernd lief ich weiter, als plötzlich ein stechender Schmerz durch meinen linken Arm fuhr. Mit einem Mal war meine Sicht wieder klar. Die schwarzen Punkte verschwanden, wenn auch nur für wenige Sekunden und ich sah zu meiner Linken.
Der letzte Mann, der noch vor wenigen Minuten als erster durch mich hindurch gelaufen war, stand neben mir. Seine Augen panisch geweitet, seine Lippen zu einem stummen Schrei verzogen, zitternd, voller Angst. Langsam folgte ich seinem Blick, welcher auf meinen linken Arm gerichtete war. Sein Messer war tief in meinen Oberarm gebohrt, schnitt zur Hälfte in meinen Armreif. Verwirrt verzog ich mein Gesicht.
Der Schmerz war kaum wahrzunehmen, als ich das Messer langsam wieder aus meinem Arm zog. Eine dickflüssige, schwarze Substanz klebte an der Klinge, tropfte langsam von ihrer Spitze, während sich die Wunde von selbst verschloss.
"Ohhh...G-gott", wimmerte der Mann, doch ich schenkte ihm keine Beachtung.
Sein Messer war irdisch. Von Menschenhand auf der Erde geformt. Wie um alles in der Welt, hatte es mich verletzten können?! Wie hatte es meinen Armreif beschädigen können?!
"Was hast du getan?!", knurrte ich wütend und sah dabei zu meinem Armreif, das Messer immer noch in der Hand. Meine Stimme war dunkel und ich war mir sicher, dass ich in dieser Sekunde absolut wahnsinnig aussehen musste. Dies schien auch mein Angreifer so zu sehen, als er zitternd zurückwich, stolperte und versuchte über den Boden von mir weg zu robben.
"N-nein, n-nein. B-itte."
"Was.hast.du.getan?!", knurrte ich erneut und ging dabei immer weiter auf ihn zu. Meine Energie schien immer schneller zu verschwinden und die schwarzen Punkte in meinem Sichtfeld wurden wieder deutlich größer. Ich hatte keine Zeit mehr.
"W-was b-bist d-du?", wimmerte der Mann, weinend und mit den Nerven am Ende, doch sein Wohlergehen konnte mir in dieser Sekunde nicht weniger am Arsch vorbei gehen. Er sollte büßen, für das, was er meinem Schützling angetan hatte!
Als meine Beine aber plötzlich anfingen zu zitternd, stoppte ich mein Vorgehen und blieb abrupt stehen. Dafür war keine Zeit mehr...
Kühl sah ich auf ihn herab, bevor ich meine Flügel öffnete und ihm mit einer meiner Schwingen einen Schlag ins Gesicht verpasst, woraufhin auch er bewusstlos in sich zusammensackte.
"Niemand. Nur ein vergessenes Kind.", murmelte ich leise, drehte mich dann eilig von ihm weg und lief, mehr als nur geschwächt, zu Jackson zurück.
Das Adrenalin war verschwunden, die Angst wieder da und mein beschädigter Armreif sorgte dafür, dass meine Energie noch schneller schwand als sowieso schon. Mein Atem wurde schwach. Kurz bevor ich Jackson erreichte, war es zu spät. Mir knicken die Beine unterm Körper weg und das laute Summen in meinen Ohren brachte mich dazu, leise aufzuschreien. Ich konnte nicht mehr. Mein Blick fiel auf ihn. Den dummen, hormongesteuerten Jungen für den ich das alles hier getan hatte. Er lag keinen Meter mehr von mir entfernt, war dabei sein Bewusstsein zu verlieren. Ich hatte ihn beschützen können, doch meine Energie, die in dieser Sekunde nicht mal mehr stark genug war, um mich selbst heilen zu können, würde ihm nicht helfen. Einen Krankenwagen! Aber natürlich.
Keuchend zog ich mich bäuchlings vorwärts bis zu ihm hin. Seine Augen waren nur noch leicht geöffnet und mir war bewusst, dass es ihm gerade so beschissen, wie mir selbst gehen musste.
"Jackson! Jackson! Wag es jetzt ja nicht deine Augen zuzumachen.", murmelte ich panisch und hievte mich etwas hoch, sodass ich ihm genau ins Gesicht sehen konnte.
Eine aufgerissene Lippe, ein blaues Auge, Schürfwunden und eine Nase, die wahrscheinlich auch schon einmal besser ausgesehen hatte. Verdammt.
"Jackson?! Du musst einen Krankenwagen rufen. Na komm schon." Als der Junge nicht reagierte, wurde es mir zu viel.
"Jackson! Verdammt nochmal, wenn du jetzt hier abkratzt, verliere ich meinen Job, meine zweite und letzte Chance!" Jackson regte sich nicht, starrte mir nur müde in die Augen.
"Kacke!", fluchte ich leise und hastelte sein sündhaft teures Smartphone aus seiner Tasche. Das Display war gesplittert, doch ich hoffte, dass es dennoch funktionieren würde.
Ein erneuter stechender Schmerz durchfuhr mich, woraufhin ich mit einem qualvollen Laut weiter auf Jacksons Seite sackte. Atmen. Ich musste atmen. Eilig und durch einen immer stärker werdenden Schleier hindurch, wählte ich den Notruf.
"Hallo!? Hier ist ein Junge im Allan Park schwer verprügelt worden und ist dabei bewusstlos zu werden. Sie müssen ihm helfen! Beeilen Sie sich!", versuchte ich das Wichtigste herunter zu rattern. Alles um mich herum fing an, sich zu drehen.
"Ein Krankenwagen und die Polizei sind schon auf dem Weg zu Ihnen. Miss? Hören Sie mich noch?! Geht es Ihnen selber gut? Wie ist Ihr Name? Wir brauchen Ihren Namen."
"Revanna... Ich..." Das Handy fiel aus meiner Hand, als ich mich vor Schmerzen krümmend neben Jackson auf dem Boden wand.
"Miss? Hallo? Sind Sie noch da? Sagen Sie mir Ihren Namen!" Sie konnte mich nicht mehr hören. Meine Energie war aufgebraucht. Meine Augen schlossen sich und ich brach in mich zusammen. Direkt neben Jackson auf dem kalten Kiesweg.
Ich wollte nicht zurück...
Ich wollte doch nicht zurück... Aber er musste gerettet werden.
Er musste gerettet werden. Jackson musste gerettet werden. War mein letzter Gedanke bevor ich das Bewusstsein endgültig verlor.
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