15
Ich widme dieses Kapitel meinem Bruder. Obwohl er dies wahrscheinlich niemals lesen wird, ist er doch einer der Menschen, der mich immer unterstützt und mich ermutigt weiterzuschreiben.
New Orleans
Als ich aufwache, bin ich für einen kurzen Moment leicht desorientiert. Es muss früh am Morgen sein, denn der Raum ist in ein schwaches Licht von Morgendämmerung getaucht.
Die ganze Nacht hatte Jay mich in seinen Armen gehalten, seine Hand war in einem tröstenden, sanften Rhythmus durch mein Haar gestrichen, beinahe wie die sanfte Melodie eines Wiegenliedes, das ein kleines Kind in den Schlaf wiegt. Der letzte Mensch, der mir auf eine derartige Weise durchs Haar gestrichen hatte, war meine Mutter gewesen. Dass es in diesem Moment Jay war, fühlte sich bittersüß an.
Irgendwann war ich schließlich eingeschlafen, unsere Körper dabei dicht aneinandergepresst, so als ob wir eins waren. So als wir zusammengehörten. Es war ein völlig fremdes und zugleich verwirrendes Gefühl.
Jays leise Stimme dringt durch den dunklen Raum zu mir, ich kann die Worte aber nicht erfassen, weil seine Stimme zu leise ist. Ich richte mich im Bett auf, die Bettdecke rutscht dabei meinen Körper herunter und legt meinen nackten Oberkörper frei. Sie entblößt Jays Trunks, die das Einzige sind, was ich anhabe.
Sein leicht herber Geruch dringt mir von dem Stoff der Bettwäsche in die Nase, als ich sie komplett von meinem Körper ziehe und nun aus dem Bett steige. Meine nackten Füße landen auf dem Boden.
Im schwach illuminierten Raum kann ich die Silhouette von Jay sehen, der am Fenster, mit dem Rücken zu mir gedreht, steht und sein Handy an sein Ohr gepresst hält. Lautlos mache ich mich auf den Weg durch das Zimmer und suche im Licht der Morgendämmerung nach seinem Hoodie. Nachdem ich ihn gefunden habe, stülpe ich ihn mir über den Kopf. Sofort steigt mir Jays Geruch in die Nase, doch ich versuche mich nicht dadurch beirren zu lassen.
Plötzlich fällt mir ein, dass Jay meine Handtasche noch im Safe gelassen hat. Auf Zehenspitzen laufe ich durch die Dunkelheit auf den Weg zu ihm. Jays Rücken ist immer noch zu mir gedreht, während er am Fenster verharrt.
Plötzlich höre ich einen einzelnen, geflüsterten Satz an mein Ohr dringen.
Das dauert zu lange.
Was dauert zu lange?
Kurz halte ich inne und versuche dem Gespräch von Jay weiter zuzuhören, doch ich kann nichts mehr verstehen. Unmittelbar werden seine Worte fremd, dringen nun in einer mir unbekannten Sprache an meine Ohren. Sie klingen hart und als ob er sich mit dem Menschen am anderen Ende des Telefons streiten würde.
Am Safe endlich angekommen, halte ich kurz inne.
Mist!
Jay hatte ihn mit einer Zahlenkombination verschlossen. Fieberhaft überlege ich, welche Kombination ich eingeben soll. Doch es gibt so viele Nummern. Es kann alles sein.
„311193", erschrocken zucke ich zusammen, als ich Jays tiefe, erdige Stimme plötzlich an meinem Ohr wahrnehme. Er ist mir so nah, dass sein warmer Atem meinen Hals streift. Wann hatte er das Telefonat beendet?
Mit schwerem Atem, tippe ich die Nummer ein. Der Safe springt sofort auf und legt meine Handtasche frei. Ich greife nach ihr und hänge sie mir um die Schulter.
„Soll ich dich fahren?", fragt Jay mich urplötzlich.
Ich hebe meinen Kopf und drehe mich zu ihm um. Sein Gesicht liegt halb in der Dunkelheit. Ich schüttele meinen Kopf und blicke, durch den schwach illuminierten Raum, in sein Gesicht. Ich kann nur die Umrisse von ihm sehen, seine Augen sind komplett in Dunkelheit gelegt.
„Nein, ist schon in Ordnung. Ich bestell mir einen Uber", lehne ich dankend ab, und greife nach meiner Handtasche, um mein Handy hervorzuziehen.
Im selben Moment leuchtet es auf, erhellt den Raum für einen kurzen Moment mit einem grellen Lichtstrahl. Mein Blick landet auf dem Display. Ich erkenne, dass es Blake ist, der mir eine Nachricht geschickt hat. Ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus und ich öffne die Nachricht sofort.
Ich kichere, als ich das Foto sehe, welches er mir geschickt hat. Er liegt im Bett und guckt leicht mürrisch in die Kamera.
Wie können Menschen, um fucking sechs Uhr morgens die Motivation finden joggen zu gehen?
Meine Finger fahren sofort flink über das Display und verfassen eine passende Antwort.
Weil sie Psychopathen sind, cupcake."
„Was machst du da?", dringt auf einmal Jays Stimme ungläubig an mein Ohr.
Verwirrt hebe ich kurz meinen Kopf. Die Sonne geht inzwischen auf und taucht das Zimmer nun in einen hellen Schein, welches es mir ermöglicht Jay besser zu sehen.
„Einem Freund schreiben", antworte ich ihm, wende mich meinem Handy wieder zu und schicke die Nachricht ab.
Dann öffne ich meine Uberapp, um mir ein Auto zu bestellen. Während die App nach einem Fahrer in der Nähe sucht, dringt Jays Stimme erneut an meine Ohren.
„Woher kennst du meinen Bruder?", fragt er mich auf einmal, seine Worte sind belegt.
Ich hebe meinen Kopf und schaue in seine eisblauen Augen, die mich nun eindringlich anschauen. In ihnen schwimmt ein Pool von Emotionen. Auf seinem Gesicht liegt ein merkwürdiger Ausdruck.
„Deinen Bruder?", frage ich ihn sichtlich verwirrt.
„Ja, meinen Bruder. Blake", antwortet er mir knapp.
Sichtlicher Schock breitet sich auf meinem Gesicht aus, bei der Erwähnung von Blakes Namen. Mein Mund klappt leicht auf.
„Dein Bruder? Blake ist dein Bruder?", meine Stimme ist leicht aufgebracht. „ Aber ich.. ich dachte..." ich schlucke kurz, bevor ich die nächsten Worte über meine Lippen bringe. „Ich dachte sein Bruder wäre tot"
Es ist, als ob ich Jay mit meiner Faust ins Gesicht geschlagen hätte. Ich beobachte, wie sich sein komplettes Gesicht bei meinen Worten voller Schmerz zusammen zieht.
„Wieso? Hat... Hat er das gesagt?", krächzt er, seine Augen dabei weit aufgerissen.
Ich schüttele meinen Kopf und beiße mir dabei auf die Lippe. Mein Uber vollkommen vergessen. „Gott, nein!", antworte ich ihm aufrichtig. „Es war nur eine Vermutung von mir", sage ich leise, leicht beschämt.
„Ich hab ein Bild von euch beiden in seinem Zimmer im Studentenheim gesehen und..."
„Er hat ein Bild von uns beiden in seinem Studentenheim?", unterbricht Jay meine Worte mit nun schmerzerfüllter, fassungsloser Stimme. Seine eisblauen Augen, die voller Emotionen sind, scheinen nun an jedem einzelnen Wort von mir zu hängen.
Ich nicke, während sich ein kleines Lächeln bei dem Gedanken an das Bild, auf meine Lippen legt. „Ja, ein ziemlich Süßes. Cupcake ist vielleicht gerade mal zwei auf dem Bild und du ...", ich überlege kurz, wie alt er auf dem Bild wohl sein könnte
„Cupcake?", unterbricht mich Jay mit belegter Stimme. „Wie gut kennst du meinen Bruder, Sweetheart?", fordert er nun dringlich.
„Gut genug, um zu wissen, dass es sein größter Traum ist, ein zweiter Babe Ruth zu werden. Eure Mutter euch bei seiner Geburt verlassen hat und dass Mary Jane seine beste Freundin ist", gebe ich leise aufrichtig von mir.
„Fuck!", flucht Jay und fährt sich,mit einer seiner Hände, durchs dunkle Haar. Seine Augen sind dabei leicht geweitet.
„Wie.. wie geht es ihm?", fleht er mich schließlich an, seine Stimme zittert dabei leicht.
„Warum fragst du ihn das nicht selbst Jay?", entgegne ich und halte ihm mein Handy entgegen.
„Ich kann nicht", schüttelt er abrupt mit dem Kopf, seine Stimme ist dabei schmerzerfüllt.
„Natürlich kannst du! Du bist sein Bruder! Er würde sich freuen! Er hat es momentan nicht wirklich einfach und fühlt sich verdammt einsam, Jay"
„Ich kann trotzdem nicht", sagt er erneut mit erstickter Stimme, ein quälender Ausdruck liegt dabei auf seinem Gesicht.
„Warum?! Warum kannst du nicht?!", meine Stimmlage schraubt sich eine Tonlage höher, als ich an Blake denke, der alleine in Alabama war. Der nur noch Jay als Bruder hatte. Ich würde alles dafür geben, wenn ich noch eine Schwester oder einen Bruder hätte. Es würde den Schmerz, des Todes meiner Mutter, erträglicher machen. Zumindest ein bisschen
Plötzlich taucht ein Gedanke in meinen Kopf auf, der mich innehalten lässt. „Moment mal! Weiß Blake, dass du eine Waffe bei dir hast? Weiß er, dass du in irgendwelche gefährlichen Dinge involviert bist? Ist es deshalb, warum du dich von Blake fernhältst? Weil wenn das so ist Jay, dann ist das ziemlich egoistisch von dir!", ein ungezügelter Wortschwall dringt aus meinem Mund, während ich nun auf Jay zugelaufen komme. „Hast du überhaupt irgendeine Ahnung, wie schlecht es ihm geht?"
„Verdammt, natürlich weiß ich das!", brüllt Jay nun mit schmerzerfüllter Stimme, seine eisblauen Augen sind dabei leicht geweitet. „Er ist der Hauptgrund dafür, warum...", er bricht seinen Satz ab, presst seine Lippen sofort wieder aufeinander. Seine Brust hebt und senkt sich schwer, während seine eisblauen Augen meine durchdringen.
„Warum du was?", harke ich weiter nach, meine Stimme ist belegt mit Emotionen.
„Ich kann nicht, Ariel", er schüttelt verneinend seinen Kopf.
„Schön!", rufe ich wütend aus und drehe mich um. „Vergiss es! Du musst mir nichts erzählen! Wenn du dich einen Dreck um deinen Bruder scherrst, dann kümmere ich mich eben selbst....", meine Worte werden sofort im Keim erstickt, als Jays große Hand plötzlich nach vorne schießt, er mich ruckartig zu sich zieht und mir stürmisch seine Lippen auf den Mund presst.
Seine Lippen bewegen sich beinahe schon wütend auf meinen. Ich küsse ihn ebenso hitzig zurück und beiße ihm schließlich wütend auf die Unterlippe.
„Er ist mir nicht egal!", höre ich Jay an meinen Lippen knurren. „Er ist verdammt noch mal mein kleiner Bruder!"
Unsere keuchenden Atem vermischen sich miteinander. „Warum Jay?", frage ich ihn flehend. In meinem Inneren wütet ein Orkan voller Emotionen.
Jay schüttelt seinen Kopf. „Nicht hier", flüstert er auf einmal und löst sich sanft von mir.
„Wieso?, will ich leise wissen.
„Weil sie überall ihre Ohren haben", raunt Jay mir zu und blickt dann auf mein Handy.
„Du wirst abgehört?", forme ich stimmlos mit meinen Lippen. Leichte Angst durchflutet meinen Körper bei dem Gedanken.
Jay scheint problemlos meine Lippen lesen zu können, denn er nickt nur und zieht sein Handy anschließend aus seiner Hosentasche. Rasch schmeißt er es aufs Bett, greift nach meiner Hand und führt mich barfuß bis zur Tür des Motelzimmers. Er öffnet sie, späht einmal über den Flur vorm Zimmer und zieht mich, als die Luft rein ist, durch die Tür auf den Flur heraus.
Mit mir an der Hand läuft er durch den noch dunklen Gang und biegt einmal rechts ab, bis wir an einer Tür angekommen sind. Der Teppich des Flurbodens kratzt unter meinen nackten Füßen, als Jay eine seiner Hände ausstreckt und ein paar Mal am Türknopf rüttelt. Die Tür springt schließlich auf und bringt einen kleinen Raum zum Vorschein. Rasch zieht mich Jay hinter sich durch die Tür hindurch. Sie fällt hinter uns ins Schloss und lässt uns beide in der Putzkammer, der Putzfrau zurück. Um uns herum befindet sich nichts anderes, als Regale mit Putzuntensilien.
Ich lasse abrupt Jays Hand los, mache einen Schritt zurück und lege meinen Kopf leicht in den Nacken. Mein Blick hält seinem Eisblauen stand, während ich darauf warte, dass er spricht. Ein Kribbeln durchfährt, wie so oft in seiner Gegenwart, meinen Körper.
„Versprich mir, du rennst nicht weg", bittet er mich leise mit rauer Stimme, seine Augen blicken mich dabei flehentlich an.
Ich beiße mir auf die Unterlippe und nicke, obwohl ich nicht mal weiß, ob ich wegrennen würde oder nicht. Innerlich wappne ich mich auf alles. Obwohl ich noch nicht mal eine Idee habe, was alles sein könnte.
Bei meiner Antwort hebt Jay sofort seine linke Hand, die zu einer Faust geschlossen ist, und streckt sie mir entgegen.
„Siehst du das Tattoo?", fragt er mich ernst.
Ich nicke. „Ja. C17. Was bedeutet das?", frage ich ihn, als ich die geschwungenen, schwarzen Linien, der Buchstaben und Zahlen auf seinen Fingerknöcheln in mich aufnehme. Ich hatte sie bereits bei einem unserer ersten Treffen gesehen.
„Calico 17."
„Calico, wie in Calico, den Waffenhersteller?", frage ich ihn nun verwirrt. Jay bewegt seinen Kopf nur minimal auf und ab.
„Aber was hat das mit Blake zu tun?", will ich wissen.
„Calico 17 ist eine kriminelle Gang", erwidert Jay auf meine Frage. Seine Antwort macht keinen Sinn und verwirrt mich nur noch mehr.
Jays eisblaue Augen blicken nun direkt in meine, als er weiterspricht. Sie halten meine mit einer derartigen Intensität fest, dass ich das Gefühl habe, ich würde in die Eismassen eines Gletschers gesogen werden.
Sein intensiver Blick, der für keine Sekunde von meinem weicht, gibt mir keinerlei Zweifel, dass er die Wahrheit spricht. „Ich bin ein Mitglied"
Mein Mund öffnet sich leicht fassungslos und ich mache einen Schritt bei seinen Worten zurück. Jay ist in einer Gang? Mein Unterbewusstsein hatte zwar bereits lange gewusst, dass er irgendetwas im Schilde führt, aber die Tatsache, dass ich es nun schwarz auf weiß habe, ist trotzdem ein Schock.
„Ariel, hör mir zu", sagt er bestimmend und macht dabei einen Schritt auf mich zu.
Ich bleibe stehen, denn bei einer Sache bin ich mir sicher: Jay würde mir nie weh tun.
„Der Grund warum ich bei den Calicos bin, ist Blake", spricht er flehend weiter.
Bei seinen Worten schießt mir ein Gedanke in den Kopf. Worte, die Blake mir, vor nicht allzu langer Zeit, gesagt hatte. Ich reiße alle Menschen mit mir in den Abgrund. Ich schlucke hart und blicke, mit 10.000 Fragen im Kopf, in Jays Gesicht.
„Hat dir Blake alles von sich erzählt, Sweetheart?", fragt Jay mich jetzt komplett ruhig, obwohl meine Antwort bereits auf meinem Gesicht geschrieben sein muss.
„Ecstasy", presse ich das einzelne Wort nur hervor.
Jay bejaht meine Feststellung mit einem leichten Nicken, über sein Gesicht huscht eine Spur Trauer. Er holt schließlich kurz Luft, bereitet sich dafür vor, weiterzusprechen.
„Seit ich 15 bin, pass ich auf meinen kleinen Bruder auf", beginnt er, seine Stimme dabei voller Emotionen.
„Seit euer Vater gestorben ist?", frage ich leise. Jay nickt nur und blickt mir dabei weiterhin fest in die Augen. Ein warmer Schauer läuft meinen Rücken herunter.
„Aber du warst doch gerade mal 15. Sie konnten dich unmöglich zum Vormund von Blake machen", stelle ich leise fest.
„Haben sie auch nicht", antwortet Jay mir knapp, seine erdige Stimme dringt durch die kleine Putzkammer. „Meine Tante war unser Vormund."
„Aber warum hat sie nicht auf euch aufgepasst? Warum hat sie Blake nicht geholfen?", frage ich, meine Stimme fassungslos, als meine Gedanken zu Blake wandern.
„Weil sie Alkoholikerin ist und sich lieber in Bars rumgetrieben hat, statt sich um mich und meinen kleinen Bruder zu kümmern", erwidert er kühl ohne jegliche Emotionen in der Stimme.
„Oh, Jay", stoße ich mitfühlend aus, mache einen Schritt nach vorn und will nach seiner Hand greifen, doch er schüttelt nur mit dem Kopf und spricht weiter.
„Mit 16 ist Blake das erste Mal in den Drogenkonsum abgerutscht", erzählt er. „Ich verübele es ihm nicht, denn ich war kaum zuhause. Irgendwer musste ja das Geld verdienen", seine Stimme klingt leicht heiser, während er sich mit einer Hand durch das fast schwarze Haar fährt.
Es ist so viel dunkler als das von Blake. Auch Jays eisblaue Augen, sind ein Kontrast zu Blakes grünen. Doch trotzdem scheinen die beiden ein paar Gemeinsamkeiten zu haben. Ihr großes Herz, ist eins davon, stelle ich in diesem Moment fest.
„Irgendwann konnte Blake seinen Drogenkonsum nicht mehr bezahlen. Er hat Schulden bei den Calicos gemacht", sagt er leise. Es folgt für einen Moment Stille, so als ob Jay sich für die nächsten Worte wappnen müsste.
„Sie hätten ihn umgebracht, wenn er die Schulden nicht bezahlt hätte", krächzt er schließlich hervor. „Sie hätten meinen kleinen Bruder umgebracht!", wiederholt er verzweifelt.
Ein eiskalter Schauer rinnt meinen Rücken herunter und mir wird schlecht bei dem Gedanken an einen leblosen, toten Blake.
„Ich bezahl seine Schulden dadurch, dass ich für eine Weile in ihrer Gang bleibe und Aufträge für sie erledige. Es war das Einzige, was sie akzeptiert haben."
Ein Schwall voller Emotionen durchflutet bei seinen Worten meinen Körper. Blanke Wut, Trauer und Schmerz. Aber allen voran Dankbarkeit. Unermessliche, unbeschreibliche Dankbarkeit, die mich voran treibt, bis ich schließlich vor ihm zum Stehen komme. Ich stelle mich auf Zehenspitzen, greife nach Jays Wangen und presse meine Lippen sanft auf seine. Ich lege alle meine Emotionen in den Kuss. All die Dankbarkeit, die ich nicht in Worte fassen kann. Denn manche Gefühle sind einfach zu komplex, um sie in Worte zu fassen.
Schließlich löse ich mich von ihm und schaue in seine Augen, die nun eine schiefergraue Farbe angenommen haben.
„Wofür war das, Sweetheart?", fragt mich Jay mit sichtlicher Verwirrung auf dem Gesicht, seine Stimme leicht heiser dabei.
„Für Blake."
Er sagt nichts, dennoch sehe ich es in seinen Augen, in denen sich nun ein weicher Ausdruck befindet. Seine Mundwinkel ziehen sich ganz minimal hoch. Mit seiner Hand greift er nach einer meiner Haarsträhnen und streicht sie mir sanft aus dem Gesicht.
„Was für Aufträge, Jay?", flüstere ich, während mir alles Mögliche von Drogenhandel bis Auftragsmord in den Kopf schießt.
„Ich bin ihr Lieferant."
„Für..?", meine Stimme kommt kaum hörbar von meinen Lippen, mein Puls pocht laut in meinen Ohren, während ich in seine Augen blicke.
„Waffen", gibt Jay mir schließlich als Antwort, sein Atem streift dabei mein Gesicht.
Ich schlucke, meine Gedanken rasen beinahe in Lichtgeschwindigkeit durch meinen Kopf. Wirre, verrückte, ängstliche, in keine Worte zu fassende Gedanken. Und in Mitten von ihnen, einer so laut, dass er Gläser zum Zerbersten bringen könnte.
„Wie lange bleibst du noch in New Orleans?", will ich dringlich wissen.
„Ein paar Tage", antwortet er mir leise und macht dabei einen Schritt zurück, sein hochgewachsener Körper thront dabei über meinem. „In drei Tagen reise ich wieder ab.
„Und dann?", frage ich weiter. „Wo willst du dann hin?
„Nach San Antonio", sagt er knapp und verstummt dann.
Mein Herz pocht laut in meinen Ohren, als ich meinen Mund erneut öffne. Ich weiß, dass es eine impulsive Entscheidung ist, aber ich weiß auch, dass es das Richtige ist. Denn er war der Einzige, den Blake nur noch hatte.
„Ich komm mit", dringen die Worte plötzlich über meine Lippen.
„Auf garkeinen Fall!", ruft Jay sofort aus.
„Doch Jay. Du bist die einzige Familie, die Blake nur noch hat. Ich lass dich nicht alleine. Wenn dir was passiert..."
„Du kommst nicht mit", unterbricht er mich, seine Worte endgültig.
Aber ich würde ihm nicht das letzte Wort lassen. Dafür ist mir Blake viel zu wichtig. Ich stemme meine Hand in meine Hüfte und baue mich vor ihm auf. Ich bin zwar fast zwei Köpfe kleiner als er, aber das ist mir in diesem Moment egal.
„Wenn du denkst, dass ich dich alleine lasse Jay, dann hast du dich geschnitten! Du bist nicht der Einzige, der Blake liebt. Wenn du glaubst, dass...", meine Worte werden sofort von Jay abgeschnitten.
„Es ist zu gefährlich", sagt er erneut, seine Stimme dabei dringlich.
„Ich hab eine Waffe, Jay", erwidere ich. „Du hast sie mir gegeben, schon vergessen?".
Das bringt ihn zum Schweigen. Sein Blick liegt nun unergründlich auf meinem. Verweilt dort für ein paar Minuten. Nach einer Weile fängt er wieder an zu sprechen.
„Wann hast du das letzte Mal eine Waffe benutzt?", fragt er mich schließlich, seine erdige, tiefe Stimme dringt durch jede einzelne, meiner Körperzellen dabei.
„Mit 19", antworte ich ihm. Aufrichtig. „Ich weiß, wie man sie benutzt, Jay. Meine Mama hat es mir beigebracht", füge ich noch hinzu und schaue ihm selbstbewusst in die Augen
Jay greift bei meiner Antwort plötzlich nach hinten zu seiner Hose und zieht schließlich eine Pistole aus seinem Hosenbund. Er löst die Sicherung, streckt seinen Arm aus und hält mir die Waffe entgegen.
„Okay, beweis es", fordert er mich nun mit dunkler Stimme auf.
Ich lasse es mir nicht zweimal sagen, greife nach dem Griff der Pistole und umschließe ihn mit meinen beiden Händen, mein Finger schwebt dabei über dem Abzug. Ich ziehe meine Augenbraue hoch und feixe Jay an.
Ein kleines Lächeln umspielt seine Mundwinkel, als sein Blick auf meinen trifft. Er hebt seine rechte Hand und krümmt seinen Zeigefinger, um mir zu verdeutlichen, dass ich näher kommen soll.
Ich mache, mit der Waffe in der Hand, einen Schritt auf Jay zu und bleibe einen halben Meter entfernt vor ihm stehen.
„Näher", raunt er mir zu.
Ich mache zwei weitere Schritte nach vorn, bis ich nun gefährlich nah mit der Waffe an ihm stehe. Auf einmal wird mir schrecklich bewusst, dass die Sicherung der Pistole gelöst ist.
„Zeig sie mir, Sweetheart", fordert er mich schließlich mit dunkler Stimme auf.
„Was?", hauche ich, während sich Verwirrung auf meinem Gesicht ausbreitet.
„Die Todespunkte eines Menschen", antwortet er mir knapp, im selben Moment greift er mit seiner Hand nach dem Schlitten der Pistole und richtet diesen auf seine linke Brust. Das schwarze Metall kommt auf seinem dunklen Shirt auf.
Mein Finger zittert leicht am Abzug. Ich versuche mich innerlich zu beruhigen.
„Das Herz", sein warmer Atem dringt an mein Ohr, verursacht eine Gänsehaut auf meinem Körper. „Ein richtiger Schuss und dein Gegenüber ist tot."
Seine Hand lässt den Schlitten der Waffe los, während sich seine eisblauen Augen erwartungsvoll in meine bohren. Der Lauf der Waffe ist immer noch an seine Brust gepresst. Ich schlucke, bevor ich den Lauf von seiner Brust nehme und nun mit der Waffe nach oben zu seinem Hals wandere. Vorsichtig schiebe ich das Metall gegen seinen Hals, an dem Punkt, wo ich glaube, dass sich die Lunge befindet.
„Lunge", presse ich das Wort hervor.
Jays Blick liegt weiterhin auf meinem. Er nickt und bedeutet mir damit weiterzumachen. Ich mache einen Schritt zurück und richte meine Waffe schließlich auf seinen Kopf.
„Das Gehirn", presse ich hervor. Jay nickt erneut.
Leider weiß ich keine weiteren Punkte mehr, weshalb ich einen Schritt zurückmachen will. Doch Jays Hand schießt sofort nach vorn und umgreift den Schlitten der Pistole.
„Ist das alles?", fragt er mich sanft mit rauer Stimme. Ich nicke nur, während mein Atem holprig von meinen Lippen dringt.
Er senkt die Pistole ein Stück nach unten, bis sie schließlich zwischen seinen Augenbrauen liegt.
Er sagt nichts, sondern schaut mir einfach nur in die Augen. Ich nicke stumm, woraufhin seine Hand langsam meine Hände von der Waffe löst und sie mir entwendet.
Er sichert die Pistole flink wieder und steckt sie sich in den Hosenbund.
„Okay", sagt er schließlich mit tiefer Stimme. „Aber du weichst mir nicht von der Seite."
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Ich schreib das hier mit klopfendem Herzen, denn ich bin verdammt nervös, dieses Kapitel zu posten.
Und ich hab verdammt Angst, dass es für jemanden die Geschichte ruiniert.
Falls es das tut, dann ist das so, schätze ich. Denn es ist mein Herz, was in jeder einzelnen Zeile dieses Kapitels spricht.
Eigentlich war dieses Kapitel für viel viel später im Geschichtenverlauf vorgesehen, aber am Freitagmorgen bin ich mit einer so lebhaften Szene von Jay in meinem Kopf aufgewacht und konnte nicht mehr schlafen. Es hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Mein Bauchgefühl hat so laut geschrien, dass ich das jetzt aufschreiben muss.
Und das ist es, was ich getan hab.
Ich hoffe ihr bleibt noch weiterhin bei der Geschichte und sie gefällt euch immer noch.
Denn mein Herz hängt wirklich extrem dran.
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