Kapitel 25
Ein lautes Krachen ertönte hinter mir, gerade als Selena mit Deborah und einem sehr, sehr wütenden Rudel den Raum betrat. Ich drehte mich um und wich gerade noch rechtzeitig einen Stuhl aus, der quer über meinen Kopf durch den Raum flog.
James stand gegenüber von mir, die Hände wütend zur Faust geballt. Die Zeit schien plötzlich still zu stehen. Keiner bewegte sich oder sagte etwas. Jeder war zu überrascht von dem Auftauchen meines Rudels.
Erleichterung floss durch meinen Körper. Das Deborah und Selena mit den anderen aufgetauch sind, hieß, dass wir eine Chance hatten, zu entkommen. Ich starrte auf das Buch vor mir. Bis jetzt hatte niemand einen Blick hineingeworfen. Der Einband war immer noch so staubig wie an dem Tag, an dem ich das Buch fand, obwohl es inzwischen durch viele Hände gegangen sein muss. Nichts wies darauf hin, dass vor nicht mal einer Minute mein Blut auf den Stoff getropft hatte und sich zu diesem Zeichen zusammengeschlossen hatte. Einige Momente stand ich nur blinzelnd da. Genau wie bei den anderen schienen meine Beine in den Boden verankert zu sein. Jeder wartete darauf, dass das gegnerische Rudel angriff.
"Ascarda, komm her.", sagte Beck so leise, dass ich ihn kaum verstand. Ich drehte meinen Kopf unauffällig nach rechts. Oliver, Nathan, Silas und Alec gingen bereits mit langsamen Schritten auf ihn zu.
Ich wusste nicht was ich tun sollte. Sollte ich das Buch nehmen und abhauen? Dann würden sie uns sicher angreifen. Nicht, dass sie es nicht so auch tun würden. Oder sollte ich ohne dem Buch abhauen und die Chance nutzen, bevor sie weg ist?
Oder sollte ich mich ins Getümmel werfen und somit den ersten Schritt in den Kampf machen? Ich könnte James töten.
James.
Die Erinnerungen tauchten wieder vor meinen Augen auf. Wie er meinen Dad getötet hat, bei dem Versuch meine Mum zu töten. Der Wald und das Feuer. Den Schmerz, den Dad damals empfunden hat. Wie die Flammen über seine Haut leckte, und er versuchte, die Schreie zu unterdrücken, die sich wie ein Faustschlag aus seiner Kehle rammten, um meiner Mum ein wenig den Schmerz zu nehmen. Er wollte nicht, dass sie ihn leiden sah. Wie das letzte bisschen Leben aus seinen Körper verschwand.
Und der Moment, wo dank James auch den letzten Tropfen Blut aus dem Körper meiner Mum rann. Sie wollte mich damals beschützen, und hatte mit ihrem Leben bezahlt.
Das alles staute sich in mir schon seit Jahren, und jetzt war es an der Zeit meinen Frust rauszulassen. Ich fletschte die Zähne. Alle anderen Werwölfe schienen ebenfalls aus ihrer Starre befreit zu sein, den plötzlich kämpfte jeder.
Ich machte ich bereits auf den Weg zu James, als mir einfiel, dass ich gar keine Kräfte hatte. Ich konnte mich nicht verwandeln, aber bis auf Oliver, Silas, Nathan, Alec und mir schien keiner diese Probleme zu haben.
Mein Blick wanderte zu Silas. Er stand mit den anderen in einer Ecke, sie mussten wieder zurückgewichen sein, als der Kampf begann. An ihrer Körperhaltung konnte man erkennen, dass sie kämpfen wollten, aber sie hielten sich trotzdem zurück. Sie wussten genauso gut wie ich, dass wir als Menschen keine Chance gegen einen Werwolf hatten. Mit schnellen Schritten war ich bei ihnen, als Oliver sagte: "Was sollen wir jetzt tun? Ich will nicht einfach tatenlos herumstehen und die anderen die Drecksarbeit machne lassen."
"Das kleine Mädchen.", sagte ich, bevor jemand anderes es konnte. "Ich denke, sie hat etwas damit zu tun, dass wir uns nicht verwandeln können. Wo ist sie?" Suchend schaute ich mich um.
Nathan packte mich am Arm. "Du willst, dass wir eine höchstens achtjährige töten? Nur weil du glaubst, das sie was mit unserer Situation zu tun hat? Bist du wahnsinnig?"
"Keiner hat was von töten gesagt!", zischte ich. Schweiß rann mir über den Rücken, als ich mich weiter im Raum umsah. Die Möbel waren längst kaputt, Bücher lagen auf den Boden. Der Teppich war völlig zerkratzt. Kampfgeschrei drang aus den Zimmern und Gängen, Schreie wurden ausgetauscht und überall konnte man Blutflecken an den Wänden oder Böden sehen. Das Buch lag unberührt auf den Boden. Ich musste es holen, bevor wir hier verschwanden.
"Nur bewusstlos, also?", fragte Silas, als wäre er sich nicht ganz sicher. Zur Antwort nickte ich nur, ohne ihn anzusehen.
"Da ist sie!", rief Oliver und zeigte nach vorn. Sie versuchte sich gerade mit Auroa aus dem zertrümmerten Raum zu schleichen.
Oliver drängte sich aus der Ecke hervor und rammte dabei mich und Alec an der Schulter. Seine Augen waren starr auf das Mädchen gerichtet, und Silas Warnruf kam bereits zuspät.
Ein brauner Werwolf rammte ihn, sodass er gegen die Wand flog.
"Oliver!", rief ich panisch, doch als Antwort bekam ich nur ein schmerzerfülltes Stöhnen. Ich machte einige Schritte nach vorn, bereit, Oliver vor dem knurrenden Werwolf zu beschützen, der vor ihm stand, als Nathans Worte mich zurückhielten.
"Warte. Lass uns das machen, schnapp dir das Mädchen."
Der Wolf schlich sich mit gesenkten Kopf auf Oliver zu, doch mir blieb nichts anderes über, als zu nicken, denn jemand musste das Mädchen aufhalten. Ich war bereits einige Schritte nach vorne gelaufen, als Nate mir noch etwas nachrief: "Ach und, Ascarda? Beeil dich."
Das alles lief anders als geplant. Innerhalb von wenigen Sekunden stand ich vor Auroa. Sobald sie mich entdeckte, schob sie das Mädchen schützend hinter sich. Es holte erschrocken Luft und schaute zuerst zu mir, dann panisch zur Tür, die nur noch zwei Schritte entfernt lagen.
Auroa knurrte, doch ich ließ mir meine Angst nicht anmerken. Ich musste verhindern, dass sie sich verwandelte, solange ich noch keine Kontrolle über meine Kräfte hatte. Und ich musste irgendwie an das Mädchen kommen, dass sich an ihre Beine klammerte. Sie hatte ihre Hände immer noch zu Fäusten geballt und sagte etwas vor sich hin.
Auroa kam einen Schritt auf uns zu. "Geh mir, aus dem Weg." Ihre Stimme war eiskalt, doch in ihren Augen glänzte Angst, dass ihrem kleinen Sprössling hier auf dem Schlachtfeld etwas passieren würde.
Abgesehen von meinem Kinn, dass ich nach vor streckte bewegte ich keinen Muskel. Ich öffnete meinen Mund, noch nicht ganz sicher, was genau ich sagen wollte, als plötzlich ein schwarzer Wolf auf mich und Auroa zugetaumelt kam und uns gegen die Wand drückte. Ein stechender Schmerz fuhr durch meinen Knöchel, als ich auf den Boden fiel, der Wolf auf meinen Füßen. Ich starrte nach vorn, wo Silas, Nathan und Alec, bewaffnet mit einem Eisenstab, standen und grimmig auf den Wolf vor meinen Füßen warteten. Oliver lag, nur halb bei Bewusstsein, hinter ihnen.
Er schüttelte kurz den Kopf, bevor er knurrend aufstand und wieder auf sie zurannte, ohne Auroa oder mich zu beachten. Fast hätte ich es nicht gemerkt, als das Mädchen vor meinen Augen an mir vorbeirannte, so überrascht war ich von Nate, Alec und Silas, dass sie sich so gut gegen den Wolf wehren konnten. Doch im letzten Moment packte ich sie am Fuß und sie flog mit dem Kopf vorraus auf den Boden zu. Gerade noch rechtzeitig fing sie sich mit den Händen auf, ließ dabei aber die Kräuter los, die sie die ganze Zeit in ihren Händen hielt. Sie waren alle ganz geknickt und bröselig und sahen aus, als wären sie tagelang in der prahlen Sonne gelegen. Kurz bevor die Handflächen des Mädchens den Boden berührten, konnte ich sehen wie sie glühten. Wer, zum Teufel, war das?
"Izzy!", schrie Auroa panisch und stürzte sich auf sie. Doch zu spät merkte sie, dass ich auf noch da war. Ich schnappte mir die Kräuter und zerrte Izzy am Arm hoch. Auroa schlang ihre Arme um Izzys Bauch und entriss mir das kleine Mädchen. Doch es war mir egal.
Izzys Mund war geschlossen. Sie redete nichts mehr, sondern starrte nur entsetzt durch den Raum. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich. Im nächsten Moment war ich bereits ein Wolf und schaute zu Auroa, die Izzy gerade etwas ins Ohr flüsterte und sie dann aus dem Raum schickte. Ich machte mich für den Angriff bereit, aber Auroa wich mir geschickt aus und verschwand.
Verdutzt schaute ich ihr nach. Als sie mich gefesselt hatte, hätte ich schwören können, Mordlust in ihrem Gesicht zu sehen.
Ein Schrei riss mich aus den Gedanken. Drei Wölfe, Nate, Silas und Alec, standen dem schwarzen gegenüber. Blut rann von seinem Rücken und tropfte auf den Boden, während er knurrend einige Schritte zurückwich. Ich duckte mich und rannte nach einigen Sekunden auf ihn zu, die Zähne gefletscht.
Ich merkte zu spät, dass ich den falschen Wolf angriff. Meine Zähne bohrten sich in Olivers Fleisch, meine Krallen in seine Brust. Innerhalb von wenigen Sekunden brach er kraftlos unter mir zusammen und verwandelte sich zurück. Blut tränkte sein Shirt und bedeckte den Boden.
Er hatte im selben Moment wie ich den Wolf angeriffen und ihn dabei mit seinem Kopf gegen die Wand geschleudert. Die Wand hatte einen Riss und der Wolf lag bewusstlos darunter.
Zitternd sank ich auf die Knie. Wann habe ich mich zurückverwandelt? Was habe ich getan? Oliver lag regungslos und mit geschlossenen Augen vor mir auf den Boden. Sein Blut sickerte durch meine Hose; inzwischen waren nur noch wir fünf und der Bewusstlose im Raum. Ich wollte meine Hände nach ihm ausstecken, um ich irgendwie zu helfen, doch ich war wie eingefroren.
"Ascarda...", flüsterte Nathan und drückte sein Shirt auf Olivers Wunden.
Ich hatte Heilkräfte. Ich könnte sie einsetzen, um Oliver zu retten, dachte ich. Ick konnte mich nicht bewegen. Wenn ich Oliver heilte, hieß das, dass ich seine Verletzungen auf mich übertrug. Was, wenn ich sterben würde? Vielleicht würde ich rechtzeitig aufhören können, sodass ich Oliver außer Lebensgefahr bringe und mich nicht gefährde. Aber was wenn nicht? Ich wollte noch nicht sterben. Ich hatte Oliver das angetan, aber ich konnte es nicht rückgängig machen.
Ich hatte zu viel Angst.
Ich starrte hoch zu Silas und Alec. Tränen rannten ihnen übers Gesicht, als sie zu ihrem Freund starrten. Alec bemerkte meinen Blick. Trauer starrte mir entgegen. Trauer und Verzweiflung. Alec wollte etwas sagen, doch ich konnte seine Wut jetzt nicht ertragen. Ich wandte mein Gesicht ab. Ich wollte nicht hören, was sie mir sagen wollten. Ich hatte ihren Freund getötet. Ich hatte Oliver getötet. Ich, ich, ich. Ich bin schuld an seinem Tod.
Tränen rannten mir über die Wangen.
"Es tut mir so leid."
Ich rollte mich zu einer Kugel zusammen, bevor ich mich dazu zwang, nochmals zu Oliver zu schauen. Jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Seine braunen Haare hingen ihm ins Gesicht. Doch was am schlimmsten war, war sein Oberkörper. An der Seite hatte er eine Bisswunde und an der Brust konnte man genau sehen, wo ich ihn gekratzt hatte.
"Oliver!" Selena stürzte in den Raum und schlitterte die letzten Paar Schritte auf den Knien zu ihren Zwillingsbruder zu.
"Was ist mit ihm? Was ist passiert?" Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie rüttelte Oliver an den Schultern und rief verzweifelt seinen Namen.
"Es tut mir so leid.", wiederholte ich. Meine Stimme zitterte und ich hatte die Augen geschlossen. Nach einigen Sekunden zwang ich mich, Selena anzusehen.
Entsetzten spiegelte sich in ihrem Blick, als sie realisierte, was ich gerade gesagt hatte. Langsam drehte sie ihren Kopf zu mir, schaute mich aber noch nicht an. Ihre Augen wanderten über den Boden und lagen auf jeden zerbrochenen Gegenstand, auf jeden noch so kleinen Fleck. Nur nicht auf mir. Sie drückte Olivers Hand, dann wanderten ihre Hände zu seinen Schultern und schüttelten ihn kurz. Schluchzer drangen aus ihrer Kehle.
Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis sie endlich etwas sagte. Wütend starrte sie mich an, Tränen rannten unaufhaltsam aus ihren Augen. Ich hatte sie noch nie so wütend gesehen. Aber ich habs verdient. Ich habe ihren Bruder getötet. Ich habe meinen besten Freund umgebracht.
Selena stieß mich plötzlich an den Schultern zurück und hinterließ dabei blutige Abdrücke auf meinem Shirt.
"Verschwinde!", kreischte sie, "Ich will dich nie wieder sehen! Verschwinde!"
Und ich gehorchte. Ich hatte nicht die Kraft, mit ihr zu reden. Sie würde mir sowieso nicht zuhören. Was sollte ich schon groß sagen? Ich stand auf und stolperte einige Schritte rückwärts. Glas knirschte unter meinen Schuhen. Mein Fuß tat weh, aber ich spürte es kaum. Ich konnte meinen Blick nicht von Oliver nehmen. Am Türrahmen schaute ich nochmal zu den anderen.
Selena versuchte weiterhin, ihren Bruder aufzuwecken. Nate drückte noch immer sein Shirt auf Olivers Brust. Und Alec starrte mich noch immer an. Er legte den Kopf schief - und lächelte. Es war ein trauriges Lächeln, als ob er mir keine Vorwürfe machen würde, doch ich erwiederte es nicht.
Deborah und Beck kamen in den Raum gestürzt, doch ich war schon längst draußen. Ich rannte und rannte und rannte. Irgendwann verwandelte ich mich in einen Wolf, rannte aus dem Haus, aus dem Luana Stamm.
Ich erreichte die Grenze, doch selbst als ich dann blieb ich nicht stehen. Es war bereits stockdunkel, aber ich blieb nicht stehen. Ich rannte die ganze Nacht.
Weg, von dem Haus.
Weg, von meinem Stamm.
Einfach nur weg, dachte ich mir, ich will einfach nur weg.
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