9.Zuflucht
»Ich habe Kätzchen gefunden!«, verkündete er in einem fröhlichen Ton.
Was sollte ich nun tun?
Lauf!
Ich konnte mich aber nicht bewegen!
Lauf!
Ich hatte solche Angst!
Lauf!
Gunji kam plötzlich mit leichten Schritten auf mich zu. Ich wollte in diesen Moment einfach nur unsichtbar werden. Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich formte meine Hände zu Fäusten.
Lauf!
»Hey Kätzchen, komm doch zu mir!«
Lauf! Lauf doch!
Ich wollte mich nicht brechen lassen.
Lauf! Bitte lauf!
Ich wollte nicht zurück zu diesem Haus, in dem er mich am Ende nur zerstören würde.
»Neee~ Lass uns nach Hause gehen, Kätzchen!«
Ich wollte nicht! Ich wollte ihn nicht mehr sehen und auch seine Stimme nicht mehr hören! Ich wollte weg, ganz weit weg von ihm!
Nun war Gunji nur noch wenige Meter von mir entfernt, woraufhin ich schluckte.
Lauf doch endlich!
Und das tat ich auch.
Ich konnte endlich meiner Starre entfliehen und sprang auf die Beine. Adrenalin machte sich in meinem ganzen Körper breit und gab mir die Stärke die Gasse entlang zu sprinten.
»Kätzchen, lauf nicht weg!«, hörte ich Gunji nach mir rufen, aber ich hörte nicht auf ihn. Nur das interessierte mich, dass ich ihn abschütteln und weiterhin meine Freiheit genießen konnte. Ich riskierte während meiner Flucht einen kurzen Blick nach Hinten um zu werfen, um zu sehen wie weit die Entfernung zwischen uns war, was ich jedoch lieber hätte lassen sollen. Der blonde Scharfrichter war mir dicht auf den Fersen. Natürlich fiel es ihm aber auch nicht sonderlich schwer, nachdem er viel größer als ich war und somit längere Beine besaß.
Wie konnte ich ihm damals überhaupt entkommen, als ich fast keine Kraft gehabt und nicht einmal wirklich aufstehen gekonnt hatte? Panisch versuchte ich meine Geschwindigkeit zu erhöhen, aber innerlich hatte ich keine Hoffnung mehr darauf ihn abschütteln zu können. Ich wollte aber nicht aufgeben! Ich wollte noch kämpfen! Auch, wenn es mir am Ende nichts bringen würde. Bevor ich meinen Kopf wieder nach vorne drehte und meinen Blick auf die Straße vor mir richtete, hatte ich noch kurz zu Kiriwar geblickt, der in diesen Moment das Opfer von Gunji auf seine Schulter gehoben hatte. Er hatte mir ein sadistisches Grinsen geschenkt, bevor er in die gegengesetzte Richtung marschiert war.
Immerhin wurde ich diesmal nur von einer einzigen Person verfolgt.
»Kätzchen, Kätzchen, Kätchen!«, hörte ich Gunji hinter mir singen. Ich spürte, wie meine Beine langsam schlapp machten. Ich konnte nicht für immer laufen, also nutzte ich die vielen Gassen aus um beim Slalom den blonden Scharfrichter irgendwie abzuschütteln. Energisch bog ich bei jeder Straßenkreuzung ab und hoffte darauf, dass Gunji bald aufhören würde mich zu verfolgen. Und tatsächlich, ich schaffte es letztendlich den Blonden loszuwerden. Trotzdem wechselte ich noch die Gassen, um sicher zu gehen, dass Gunji wirklich die Fährte nach mir verloren hatte. Zu meinem Gunsten wurde es zusätzlich dunkler, da die Nacht anbrach. In der Dunkelheit hatte ich es deutlich einfacher mich vor dem blonden Scharfrichter zu verstecken.
Nach einiger Zeit fing es sogar an zu regnen und ein dicker Nebel stieg auf, sodass ich selbst fast nichts mehr vor meiner Nase sehen konnte. Ich musste schnell einen Zuflucht finden, falls ich nicht auch noch eine Erkältung einholen wollte. Ich hatte ja immer noch nur ein dünnes graues T-Shirt an, welches ich aus Gunji's Schrank geklaut hatte.
Nicht lange musste ich gehen, als ich endlich auf ein Gebäude traf, an dem es eine offene hölzerne Tür als Eingang gab. Natürlich eilte ich ohne groß nachzudenken in dem dunklen Raum und setzte mich auf den Boden in der Nähe des Ausgangs, um mich auszuruhen. Eine Weile horchte ich noch nach irgendwelchen Geräuschen, um sicher zu gehen, dass sich Gunji wirklich nicht mehr in meiner Nähe befand. Anscheinend war ich ihm aber wirklich entkommen. So viel Glück durfte man doch gar nicht haben!
Erleichtert lehnte ich meinen Kopf gegen die kühle Wand und versuchte wieder normal zu atmen. Ich war wegen meiner Flucht ganz verschwitzt und außer Puste. Außerdem zitterte ich am ganzen Leibe. Der Grund war aber nicht, dass es mir kalt war. Oh nein, es war wegen der Furcht. Ich hatte höllische Angst davor gehabt, dass mich Gunji wieder in die Hände kriegen würde. Am Liebsten wollte ich gar nicht mehr raus und wie ein Feigling die restlichen zwei Tage in diesem Gebäude verbringen. Jedoch brauchte ich Nahrung und Wasser zum Überleben, also konnte ich das leider nicht tun. Meine Motorsäge, die ich immer noch bei mir hatte, legte ich auf dem Boden neben mich. Ich fing danach an meine immer noch etwas verkrampfte Hand zu massieren, in der ich sie noch vorhin ganz fest im Griff hatte. Ob der blonde Scharfrichter wohl immer noch nach mir suchte? Ich hoffte vom ganzen Herzen, dass es nicht der Fall war, aber tief in mir wusste ich, dass er lange nicht aufgeben würde mich zu finden.
Ich seufzte kurz, bevor ich meine müden Augen schloss und versuchte einzuschlafen. In Toshima war es wirklich schwer solchen Menschen aus dem Weg zu gehen, die man überhaupt nicht mehr treffen wollte.
Ich konnte schon fast in meine Traumwelt flüchten, als ich plötzlich ein Schleifgeräusch in meiner Nähe wahrnahm. Als würde jemand auf dem Boden kriechen.
Warte. Kriechen?
Kau!
Ich riss meine Augen auf und wollte gerade nach dem weißhaarigen Jungen schauen, da ich dachte, dass er in meiner Nähe sein musste. Doch noch bevor ich nur weiterhin nach ihm hätte suchen können, spürte ich eine große starke Hand um meinem Fußgelenk greifen. Mit einer ruckartigen Bewegung wurde ich von meiner Sitzposition gezogen. Reflexartig hatte ich noch nach meiner Waffe greifen wollen, aber da schlug schon mein Kopf auf dem Holzboden auf und ein schmerzerfüllter Schrei entwich meiner Kehle. Plötzlich legte sich eine andere Hand über meinem Mund, wobei ich keinen weiteren Mucks von mir geben konnte. Mein Kopf dröhnte von dem schrecklichen Schmerz und ich schluckte schwer. Erst jetzt bemerkte ich, dass der Unbekannte einen kalten Gegenstand gegen meiner Kehle drückte. Ich vermutete, dass es sich damit um einem Messer handelte. Also hatte ich doch nicht Kau kriechen gehört, sondern eine unbekannte Person, die einen hinterhältigen Angriff auf mich abgesehen hatte.
Einige Zeit machte er nichts und wir starrten uns gegenseitig in der Dunkelheit schweigend an. Ich konnte sein Gesicht nicht wirklich erkennen, aber seine Haare mussten eine helle Farbe besitzen.
Auf einmal ließ er von mir ab, weswegen ich ihn völlig verwirrt anstarrte. Wieso tötete er mich nicht? Ohne etwas zu sagen ging er zum hinteren Bereich des Raumes, während ich immer noch erstarrt auf dem Boden lag.
Ich verstand in diesen Moment überhaupt nichts.
Vorsichtig setzte auch ich mich auf und schaute immer noch die Richtung meines Angreifers. Hatte er etwa seine Meinung geändert und wollte mich doch nicht töten? Aber wenn ja, wieso sagte er dann gar nichts? Mein Kopf dröhnte immer noch und ich begann meine Stirn zu massieren.
Er hatte sich nicht einmal entschuldigt. Manieren besaß er anscheinend auch nicht. Aber wieso regte ich mich wegen so einer Kleinigkeit auf? War es mir nicht egal? Doch, es war mir tatsächlich egal, aber ich war einfach sauer. Sauer auf mich selbst. Wieso musste ich nur so schwach sein? Wieso konnte ich mich nicht verteidigen? Wieso hatte ich immer noch solche Angst?
Gunji war nicht mehr hier. Er konnte mich nicht mehr kriegen und trotzdem fürchtete ich mich.
Ich hasste es. Ich hasste Gunji. Aber am meisten hasste ich mich selber. Ich war so erbärmlich. Einfach widerlich. Tränen kamen hoch und mir war es wieder zum Heulen zumute. Eine Heulsuse, das war ich. Nichts mehr und nichts weniger. Ich war doch selbst Schuld daran, dass ich vergewaltigt wurde. Ja, alles war meine Schuld. Wenn ich doch nur nicht so schwach gewesen wäre, hätte ich ihn davon abhalten können. Ich trug die Schuld daran, dass ich so hilflos und machtlos war. Nur ich und niemand anderes.
Nur ich.
»Wieso heulst du?« Die Stimme des unbekannten Mannes riss mich aus meinen tiefen Gedanken.
Heulen? Ich berührte mit meiner Hand meine Wange und tatsächlich, ich weinte. Eine große Menge von Tränen hatten ihren Weg aus meinen Augen gefunden. Ich fing an leise zu schluchzen. Nein, hör auf zu heulen! Hör auf anderen deine Schwäche zu zeigen! Hör einfach auf eine schwache Person zu sein! Schnell wusch ich meine Tränen weg, die aber schnell wieder von neuen ersetzt wurden. Einfach nur erbärmlich! Plötzlich wurde mir etwas gegen mein Gesicht geworfen. Es war eine Jacke. Ich schaute zu der einzigen Person, die sich mit mir in einem Raum befand. Ich verstand ihn nicht. Was sollte das? Er saß nun nur noch in einem T-Shirt an der Wand angelehnt. War es ihm denn so nicht kalt?
Er sagte nichts weiteres und ich richtete meine Aufmerksamkeit auf seine Jacke. Sie hatte eine Fellkapuze und wirkte ganz weich und warm. Aber wieso gab mir der Unbekannte seine Jacke? Wir kannten uns doch gar nicht. Ich brauchte niemanden um mich zu trösten! Ich schmiss die Jacke zum Besitzer und stellte mich wieder auf die Beine. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf mich, aber sagte immer noch nichts. Ich fühlte mich komischerweise besser.
Ich durfte mir nicht die Schuld geben, denn das führte auch nur dazu, dass ich brechen würde. Ich war nicht schwach und auch nicht hilflos. Ich war so wie jeder andere ein einfacher Mensch. Ein Mensch, der Gefühle hatte und sie manchmal auch zeigen musste. Ich durfte mich nicht hassen, nur weil ich Traurigkeit und Hilflosigkeit verspürte. Das waren doch genau solche normalen Gefühle wie Liebe und Hass. Erneut wusch ich meine Tränen mit meinem Handrücken weg. Mein Schluchzen hatte sich auch schon eingestellt. Ob der Fremde mich wirklich trösten wollte?
»Danke«, flüsterte ich und auch, obwohl es Dunkel war, als hätte ich ein kurzes Nicken seinerseits erkennen können. »Wie heißt du?« Ich wusste gar nicht, wieso ich seinen Namen erfahren wollte.
»Akira«, antwortete er, aber er fragte nicht nach meinem Namen, welchen ich ihm jedoch trotzdem verriet.
»Ich bin Hotaru.«
Er sagte auch diesmal nichts, aber es störte mich nicht mehr.
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