18.Verloren
Auf einmal wurde die Eisentür, die in dem Raum führte, aufgemacht.
Es war totenstill danach.
Mein Herz drohte aus meinem Brustkorb zu springen, so schnell klopfte es. Für eine Weile passierte überhaupt nichts. Es schien so, als wäre eigentlich niemand außer mir da. Ich nahm all meinen Mut zusammen und lugte unter der dünnen Wolldecke hervor.
Es war nicht Shiki, der im Türrahmen stand, sondern der mysteriöser Mann.
Dieser musterte mich ohne jegliche Emotionen, bevor er aus dem Raum tritt. Er wollte gerade seinen Weg auf dem Flur fortsetzen, als ich mich plötzlich aufsetzte und meine Stimme unaufhaltbar erklang.
»Zu versuchen zu sehen ohne hinzusehen. Es gibt Dinge, die man einfach nicht sehen kann, selbst wenn man alles versucht, um sie zu sehen«, imitierte ich leise seine Worte von damals. Ich setzte mich vorsichtig auf und wickelte die Wolldecke um meinen abgekühlten Körper.
»Ich will es verstehen, aber kann es einfach nicht«, murmelte ich. »Ist es aber manchmal nicht besser einfach nicht zu verstehen, auch wenn man alles versucht es trotzdem zu tun?«, fragte ich ihn.
Ich wusste gar nicht, wieso ich das so sehr mit dem mysteriösen Mann besprechen wollte. Seine klaren blauen Augen schauten tief in meine.
»Wie lautet dein Name?«, fragte mich der mysteriöse Mann auf einmal. Ich zögerte etwas, da ich diese Frage nicht erwartet hatte.
»Hotaru.«
Er nickte wissend.
»Hotaru, es liegt an dir, ob du dich von anderen Farben durchtränken lässt oder nicht.« Nach diesen gesprochenen Worten setzte er seinen Weg fort und verschwand aus meiner Sicht. Die Eisentür hatte er aufgelassen.
Von anderen Farben durchtränken lassen?
Ich zuckte automatisch zusammen, als eine große Gestalt vor dem Türrahmen vorbeihuschte.
Wurde der mysteriöse Mann etwa verfolgt?
Ich hielt die Wolldecke fest um meinem Körper und humpelte leise auf die eiserne Tür zu.
Ein leises Summen ertönte in meinem Kopf.
Gunji.
Mein ganzer Körper verharrte auf der Stelle.
Es war nicht real. Ich bildete mir alles nur ein.
Auf einmal fing mein Kopf an höllisch zu schmerzen.
Ich konnte an nichts anderes als an dem blondhaarigen Scharfrichter zu denken. Ich hörte seine Stimme, sein Summen. Ich spürte seine schmerzenden Berührungen auf meinem ganzen Körper. Und obwohl ich wusste, dass ich mir das alles nur eingebildet hatte und er nicht in der Nähe war, hatte ich das Gefühl zu ersticken.
Wie auf Knopfdruck flüchtete ich mit der Wolldecke immer noch um meinem Körper humpelnd auf das Badezimmer zu. Meine Knie gaben jedoch kurz davor nach und ich fiel auf dem harten Holzboden.
Mein ganzer Körper zitterte und zuckte. Unzählige Tränen rollten über mein Gesicht und ich fing an heftig zu schluchzen.
Shiki hat es nicht geschafft mich zu töten, mich vollständig zu zerstören.
Ich hatte solche Angst.
Ich musste endlich Liebe fühlen!
Ich musste endlich von meinem ganzen Leid befreit werden!
Ich musste endlich sterben!
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und krabbelte auf allen Vieren ins Badezimmer. Darin angekommen, rollte ich mich in der großen kalten Badewanne zusammen und wickelte die dünne Wolldecke um meinem zitternden Körper.
Immer noch konnte ich nicht richtig zur Atem kommen, weshalb ich nur panisch versuchte nach Luft zu schnappen. Es schmerzte mir so sehr in meinem Brustkorb.
Ich fühlte mich so verdammt leer.
Erschöpft schloss ich meine Augen und döste in die Kälte.
Das Kinderheim. Akira. Keisuke.
Ich konnte mich wieder erinnern. Wir drei waren gute Freunde gewesen. Die beiden Jungs waren die einzigen Menschen auf diesem Planeten, die mir was bedeutet hatten, die mich nicht zurückgelassen hatten.
Ja.
Sie haben mich nie zurückgelassen.
Das war ich.
Nachdem Akira und Keisuke adoptiert wurden, hatte ich den Kontakt abgebrochen. Wie kindisch ich damals war, hatte ich tief geglaubt, dass es sie waren, die mich verratet und mich in meiner Leere sitzen gelassen hatten.
Aber das war ich gewesen.
Ich hatte die beiden verraten und doch hatte Akira versucht mich bei unserem ersten Treffen in Toshima zu trösten. Ich hatte sie mit so vielen schrecklichen Beleidigungen verletzt und doch war Keisuke um mich besorgt gewesen.
Wieso haben sie aber dann nichts gesagt?
Weil ich diejenige war, die sie verraten hatte, sie verstoßen hatte.
Ich hatte es nicht verdient von den beiden angesprochen zu werden. Ich hatte es nicht verdient von ihnen überhaupt wahrgenommen zu werden. Ich hatte keine Vergebung verdient.
Nach einer Weile setzte ich mich wieder vorsichtig auf und stieg aus der Badewanne. Meine nackten Füße waren schon ganz blau vor Kälte, weshalb ich nicht mal die genau so frostige Temperatur der grauen Fließen unter mir wahrnehmen konnte. Die dünne Wolldecke immer noch um meinem ganzen Körper gewickelt, humpelte ich leise auf die hölzerne Tür zu, die aus dem Badezimmer führte.
Wieder einmal legte ich mich auf dem Bett und schloss meine Augen. Ich hörte stumm dem Regen zu, wie er gegen dem einzigen Fenster im Raum prasselte. Ein paar mal nahm ich noch das Donnern in der Ferne wahr, bevor ich einschlief.
Es war mir so kalt. Ich war so durstig. Mein Kopf pochte vor Schmerz und fühlte sich ganz heiß an. Ich verspürte Übelkeit in mir hochsteigen.
Schnell machte ich meine Augen auf. Ich vernahm ich einen plötzlichen Würgreiz, weshalb ich mich blitzschnell aufsetzte und so schnell wie ich konnte in den nebenliegenden Raum humpelte. Ohne lange abzuwarten, öffnete ich mit einer schnellen Bewegung die Tür und übergab mich noch rechtzeitig in der Toilette. Nur gab es fast nichts zum Übergeben. Ich hatte schon seit einer Weile nichts richtiges mehr gegessen und auch nicht wirklich viel getrunken. Als ich fertig war damit mein Magen maximal zu entleeren, spülte ich meinen Mund beim Waschbecken aus. Trinken jedoch traute ich mich nicht, da ich sehr befürchtete, dass das wahrscheinlich unreine Wasser meiner Gesundheit nur noch mehr schaden würde. Ich drückte meine ausgekühlte Hand gegen meine viel zu warme Stirn.
Ob ich einen Fieber hatte?
Mein Blick schweifte zum Spiegel vor dem Waschbecken. Ich konnte mich als erstes gar nicht richtig erkennen. Trübe leblose gläsernen grüne Augen schauten mir entgegen. Meine Wangenknochen stachen mehr als sonst vor und ich hatte dunkle Augenringe. Dazu war ich auch noch so blass wie eine Leiche.
Ich sah im allgemeinen ganz anders aus wie früher.
Damals hatte ich lange braune welligen Haare, die mir bis zu meiner Hüfte gereicht hatten. Meine grünen Augen hatten immer geleuchtet und meine Augenringe waren nie wirklich sichtbar gewesen. Außerdem war es schon richtig angsteinfüllend wie viel ich nur in einer Woche abgenommen hatte.
War es überhaupt nur eine Woche gewesen? Vielleicht hatte ich noch die sieben Tage nicht abgeschlossen. Vielleicht aber hatte ich sie schon überschritten.
Ich hatte keine Ahnung.
Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl mehr.
Und das machte mir nur noch mehr Angst.
Wieder machte ich mich auf dem Weg zum hölzernen Bett und hüllte meinen ganzen Körper mit der dünnen Wolldecke ein. Das Pochen meines Kopfes war unerträglich, weshalb ich nur meine Augen schloss.
Und da kam mir ein Gedanke. Ein Gedanke, welcher mir Angst bereitete, aber irgendwie auch zur inneren Ruhe brachte. Ein Gedanke, welchen ich auch damals manchmal vor dem Einschlafen hatte.
Vielleicht werde ich nie wieder aufwachen.
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