Zehn
Mein Hals kratzte, als hätte ich einen Kaktus gegessen. Ich öffnete meine Augen. Ich wollte schreien, aber das Kratzen unterdrückte es.
Hektisch sah ich mich um und bemerkte, dass ich im Krankenhaus war. Überall um mich herum standen Geräte, die mit dutzenden Kabeln und Schläuchen mit meinem Körper verbunden waren. Meine Ohren klirrten regelrecht durch das laute Fiepen darin. Das Adrenalin in meinen Körper brachte ihn zum Zittern.
Panisch sah ich mich um. Am Geländer des Kopfteils vom Bett war ein Knopf mit der Abbildung einer Klingel. Ich drückte ihn. Beim Versuch mich hinzusetzen, fühlten sich meine Knochen an, als würde sie jemand herausreißen wollen. Ich stöhnte vor Schmerzen.
In diesem Moment stürmten zwei Schwestern ins Zimmer. Eine von ihnen drückte mich wieder herunter und lächelte mich mitleidig an. Die Andere sagte etwas, was ich durch das Klirren in meinen Ohren kaum verstehen konnte.
Die liebevoll lächelnde Schwester über mir zog an Etwas, was ganz offensichtlich in meinem Mund steckte. Ich würgte heftig und schnappte sofort heftig nach Luft, als der Schlauch draußen war.
Endlich war das Kratzen weg. Die Schwester reichte mir einen Becher mit Wasser, welchen ich dankend entgegen nahm.
„Wo ist meine Mutter?", fragte ich leise und sah mich um.
Ganz offensichtlich hatte dieser Vollidiot einen Unfall gebaut und mich hatte es selbstverständlich wieder ordentlich erwischt. Meine Mom war bestimmt krank vor Sorge und wartete irgendwo im Krankenhaus auf mich.
Die andere Schwester nahm fürsorglich meine Hand. „Deine Tante wird gleich hier sein.", sagte sie leise, doch das beantworte meine Frage nicht.
„Wo ist meine Mutter?!", wiederholte ich meine Frage mit etwas mehr Nachdruck. Die beiden Schwestern sahen sich kurz an, bevor die Ältere von Beiden sanft an meinem Fuß rüttelte. „Alles wird gut, Schatz."
Ohne meine Frage in irgendeiner Form zu beantworten, gingen beide aus dem Zimmer.
Ich atmete tief durch und versuchte mich nochmal hinzusetzen. Es fühlte sich an, als hätte ich den Muskelkater meines Lebens gehabt. Jeder einzelne Millimeter tat mir weh. Als ich mich endlich hochgerafft hatte, sah ich mich vergeblich um, ob ich irgendwo mein Telefon finden konnte.
Nach ein paar Minuten stürmte meine Tante ins Zimmer und sie sah furchtbar aus. Ihre Haare zerzaust und das Make Up durch die Tränen komplett verlaufen. Ihre Augen waren blutrot.
„Wo ist Mama?!", fragte ich sie sofort. In den Augen meiner Tante gab es nichts zu sehen. Keine Freude darüber, dass es mir gut ging, kein "Hey-Anna-dein-tollpatschiges-Kind-ist-wach"-Blick. In ihren Augen war gar nichts.
Sarah brach vor meinem Bett zusammen und zwei Polizisten betraten den Raum.
„Nein!", sagte ich leise.
„Cara, schön, dass du wieder wach bist.", sagte einer der Polizisten und setzte sich auf mein Bett.
„Nein!"
Mir schossen die Tränen in die Augen. „Es tut uns wirklich sehr leid, aber leider müssen wir dir mitteilen, dass deine Mutter und ihr Freund den Unfall nicht überlebt haben." In diesem Moment verstand ich die Deutsche Sprache nicht mehr.
Er hatte gesagt, dass meine Mutter nicht überlebt hatte. Was sollte das bedeuten?
Ich sah ihn fragend an, während die Tränen wie von selbst über mein Gesicht liefen. Irgendjemand hatte mir in diesem Moment einen Strick um den Hals gelegt, und zog wie ein Wahnsinniger daran.
Ich bekam keine Luft.
„Cara, deine Mutter ist tot. Es tut uns sehr leid.", sagte der andere Polizist und blickte nach unten.
„Nein!", schrie ich und wieder blieb mir die Luft weg.
In diesem Moment kam Sarah zu mir und umarmte mich fest. Ich schrie vor Schmerzen. Die körperlichen waren mir dabei völlig egal. Ich schrie als würde mir jemand das Herz rausreißen, denn genau so fühlte es sich an. Sarah versuchte immer wieder, mich zu beruhigen, doch ich konnte nichts anderes tun als vor Schmerzen zu schreien.
Der Strick um meinen Hals schnürrte sich immer fester zu. Das Stechen in meiner Brust ließ mich ausbluten wie ein Schwein bei der Schlachtung. Genauso musste ich mich angehört haben. Genauso fühlte ich mich.
Ich schrie so lange, bis ich vor Erschöpfung umfiel.
Ich bekam gar nicht mit, als mich die Ärzte untersuchten. Ich lag auf der rechten Seite und starrte gegen das Fenster. Die Tränen liefen immer weiter. Ich konnte sie nicht unterdrücken.
Nach einer Weile legte sich Sarah zu mir ins Bett und umarmte mich. Wir weinten beide. Still rollten die Tränen über unsere Gesichter. Ich wollte nichts sagen und ihr schien es die Sprache verschlagen zu haben.
Das Gefühl für Zeit und Raum hatte ich verloren. Ich starrte einfach nur gegen das Fenster.
Erst als Sarah's Telefon klingelte, wurde mein Starren kurz unterbrochen. Ohne mich zu fragen, stellte sie das Telefon vor meinem Gesicht ab und umarmte mich wieder. Ich sah in den Bildschirm und schaute auf das komplett verheulte Gesicht meines Vaters. Mit den Händen vor dem Mund starrte auch er wortlos in die Kamera und beobachtete mich.
Als er anfing zu weinen, fing auch ich wieder an zu schluchzen. Sarah legte ihre Hand auf meine Wange und streichelte sie sanft. Keiner von uns sagte auch nur einen Ton. Wir sahen uns einfach nur an und weinten.
Nach einer ganzen Weile fragte mein Vater, ob ich Naomi und Kyle sehen wollte. Ich nickte zaghaft und beobachtete, wie er sein Arbeitszimmer verließ und in die Küche ging. Er stellte seinen Laptop auf die Küchenanrichte, wo die Beiden bereits warteten.
Das Starren ging nun von vorn los. Stumm und ausdruckslos. Leblos und traurig.
Nach vier Tagen wurde ich entlassen. Wie durch ein Wunder hatte ich lediglich heftige Prellungen und eine bösartige Gehirnerschütterung. Trotzdem glich mein ganzer Körper der Farbe einer reifenden Pflaume und schmerzte bei jeder Bewegung. Mein ganzer Rumpf war übersäht mit riesigen Hämatomen und meine Stirn war blutunterlaufen. Ich sah furchtbar aus.
Als wir zuhause ankamen, legte ich mich sofort ins Bett und verließ es in den kommenden Tagen nur, um auf die Toilette zu gehen. Sarah war die ganze Zeit über bei mir. Ab und an kam Mila vorbei und löste sie ab, doch wirklich interessiert, hatte es mich nicht. Das Einzige woran ich denken konnte war, dass ich ab sofort in einer Welt leben musste, in der meine Mutter nicht mehr existierte. Jede Sekunde die verging, machte meinen Schmerz nur noch schlimmer.
Ich lag in meinem Bett und starrte aus dem Fenster.
Mein Vater hatte direkt nach dem Unfall einen Flug gebucht, allerdings schneite es in Tennessee so heftig, dass er immer wieder verschoben wurde. Mich interessierte es nicht.
Mich interessierte nicht, ob er kommen würde. Mich interessierte nicht, ob Sarah nachts neben mir lag. Mich interessierte es nicht, wenn Mila vorbeikam und mir einen Kopfhörer in mein Ohr steckte. Regungslos und gebrochen lag ich in meinem Bett und starrte aus dem Fenster, in der Hoffnung, meine Mutter würde in mein Zimmer kommen und mir sagen, ich solle gefälligst den Abwasch erledigen.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, anscheinend jedoch genug, dass sich etwas in meinem Kopf bilden konnte, das dort vorher nicht existierte. Etwas, das mir Dinge zuflüsterte, die nicht gut waren. Ich nannte ihn meinen Gedankentumor und er wurde Tag für Tag größer.
Ich hätte diejenige sein sollen, die tot war.
"Hey Süße." Sarah's Stimme unterbrach mein Starren für eine Sekunde. Ich antwortete ihr mit einem kurzen "Mh." und sah zu ihr. In ihren Händen hielt sie den Laptop meiner Mutter und stellte ihn wortlos auf mein Bett.
Ausdruckslos sah ich auf den Bildschirm.
Naomi saß vor dem Gegenstück in über fünftausend Meilen Entfernung und lächelte mir gezwungen zu.
"Hallo Süße.", sagte sie leise. "Hi.", murmelte ich und hob zaghaft meine Hand. "Kyle fährt deinen Dad jetzt zum Flughafen. Sie haben angerufen, der Flug heute klappt. Dein Dad kommt, um dich abzuholen.", flüsterte sie leise.
Fragend verzog ich mein Gesicht. "Was meinst du mit abholen?", fragte ich verwundert. "Dein Dad hat bereits die Formalitäten beantragt. Ihr müsst in Deutschland nur nochmal auf die Botschaft und dann...und dann wirst du bei uns wohnen, Schatz." Ihre Stimme stockte. Natürlich tat sie das. Naomi wusste, dass ich das ganz und gar nicht gut finden würde.
Wild schüttelte ich meinen Kopf. "Wie kommt ihr auf die Idee, das einfach zu entscheiden?!", fuhr ich sie an und zum ersten Mal seit Tagen schossen wir die Tränen wieder in die Augen.
"Cara, du bist minderjährig und..." - "Ich bin siebzehn Jahre alt! Ich werde im Februar achtzehn. Ich werde ganz bestimmt nicht in die gottverdammten Staaten ziehen. Warum sollte ich?! Hier ist mein Leben. Hier sind meine Freunde, meine Schule, Mom ist...Fick dich Nam!", schrie ich und klappte den Laptop zu.
Ich wurde wütend. Nicht dieses "Thor-bekommt-seinen-Willen-nicht"-wütend, sondern richtig wütend. Mein ganzer Körper zitterte vor Adrenalin. Mit schwitzigen Händen stand ich auf und blickte zuckend in das Gesicht meiner total aufgelösten Tante.
"Wusstest du das?!", fragte ich sie unter Tränen. "Cara, ich..." - "Wusstest du das?!", wiederholte ich meine Frage. "Cara, ich...Cara, es tut mir so leid." - "Hör auf meinen verdammten Namen zu sagen! Ich weiß, wie ich heiße! Wusstest du das?!", schrie ich so laut, dass ich zusammenbrach.
"Es ist das Beste für dich.", schluchzte sie unter Tränen. Ich rümpfte die Nase.
Was sagte sie da bitte?! Das Beste für mich?! Wollte mich hier eigentlich jeder verarschen?!
"Geh einfach.", schniefte ich leise und würdigte sie keines Blickes. "Bitte sei nicht sauer.", bettelte sie und machte mich damit nur noch trauriger. Wieder rümpfte ich die Nase. "Sarah, hau einfach ab!", brüllte ich und legte mich wie ein Embryo auf den Fußboden meines Zimmers.
Als ich hörte, wie Sarah die Wohnung verließ, setzte ich mich hin. Mit meiner Hand griff ich auf meinen Nachttisch, um mich hochzuziehen und rutschte ab. In diesem Moment fiel mir Coby's Brief in den Schoß.
Er. Er wäre da gewesen. Er hatte es versprochen.
Geistesgegenwärtig griff ich nach dem Laptop meiner Mutter und meldete mich bei Facebook an. Mein Telefon wurde bei dem Unfall komplett geschrottet. Mir blieb nur dieser Weg. In Amerika war es mitten in der Nacht, doch ich versuchte mein Glück.
Ich ignorierte die hunderten Nachrichten auf meinem Profil und schrieb ihn an.
Ich, 10:26 Uhr
Kann ich dich anrufen?
Bitte.
Ich, 10:32 Uhr
Du hast gesagt, du wärst für mich da. Ich brauche dich. Bitte.
Im nächsten Moment rief er an.
"Cara.", murmelte er leise. Der Bildschirm war komplett schwarz und ich hörte, dass er außer Puste war. "Wo bist du?", fragte ich weinerlich und versteckte mich in meinem Kopfkissen.
"Was ist los?", fragte er, ohne meine vorherige Frage zu beantworten. "Ich hatte einen Unfall.", antwortete ich und brach sofort in Tränen aus. "Ich weiß...wie geht es dir?", stammelte er leise. Es tat so unfassbar gut seine Stimme zu hören. Ich wollte mit ihm reden und ihm beim Schlafen zuhören, ihm erzählen, was passiert war und wie ich mich fühlte, doch gerade als ich anfangen wollte, hörte ich sie.
"Baby was machst du da? Komm wieder ins Bett." Das Fiepsen von Ashley Thomas brach mich endgültig. Ohne auch nur irgendeine Sekunde abzuwarten, klappte ich den Laptop zu.
War ich doch tatsächlich so dämlich zu glauben, dass er ernst gemeint hatte, was er geschrieben hatte. Ich dumme Gans. Mein Hals schnürrte sich ab und ich bekam kaum Luft. Nichts auf dieser Welt hatte ich verdient. Ich war allein.
Meine Mutter, der Grund für Alles, war tot. Coby hatte eine neue Liebe. Nichts was ich begehrte oder wollte, begehrte oder wollte mich ebenso. Ich war ein Nichts. Ich hätte tot sein sollen.
Mein Gedankentumor sprudelte. Er schrie mich innerlich an. Wie ein Insekt bohrte er sich durch meine Seele und legte seine widerwertigen Eier in mir ab. Er infiltrierte mich mit garstigen und dunklen Gedanken. Normalerweise hätte ich nicht einmal im Traum daran gedacht, diese in die Tat umzusetzen, doch in diesem Moment war ich so gebrochen, dass ich alles geglaubt hatte, was er mir sagte.
Zitternd hob ich meinen verheulten und geschundenen Körper von meinem Bett. Es fühlte sich an, als würde ich eine leere Hülle durch das Wohnzimmer schleifen.
Ich lief in die Küche und klaute eine Zigarette meiner Tante. Das Feuerzeug nahm ich in die linke Hand. Das Messer in die Rechte.
Ich zündete die Zigarette an und sah ein letztes Mal auf das Aquarell meiner Mutter. An jenen Tagen hatten wir auf Wolken getanzt. "Ich komme zu dir und wir tanzen wieder.", schluchzte ich unter Tränen.
Wie ferngesteuert schlürfte ich ins Badezimmer. Ich zog meine Sachen nicht aus. Wofür auch? Mit meiner Zigarette und dem Messer legte ich mich in die Wanne und stellte das Wasser an. Noch zwei Mal zog ich am Glimmstängel, bevor ich ihn ins Wasser fallen ließ.
Ich hörte, dass der Laptop meiner Mutter klingelte. Welch traurige Ironie.
Mit einem Lächeln im Gesicht fuhr ich die Stelle an meinem linken Arm ab, welche ich gleich aufschneiden wollte. Ein Test. Eine Generalprobe.
Wieder atmete ich tief durch.
Ich sah nach oben an die Decke. Wie oft hatte ich das schon getan und vor mich hin geträumt.
Ich umklammerte das große Küchenmesser mit meiner linken Hand und genoss den Schmerz. Ich war high von meinen Gedanken.
So fest ich konnte, drückte ich die Klinge in meinen Handballen und zog das Messer mit voller Kraft bis zu meiner Armbeuge. Es fühlte sich an, als würde ich ein rohes Steak schneiden.
Der Schmerz berauschte mich. Ich sah nicht hin. Langsam fingen die kleinen Krümel der Raufasertapete an zu tanzen. Sie tanzten und ich hörte ihre Stimme. Sanft und klar. Tief atmete ich durch und schloss meine Augen.
"Mama..."
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro