Elf
"Möchtest du denn in die USA?" - "Nein."
Ehrlichkeit konnte ich.
"Hast noch diese Gedanken?" - "Nein."
Lügen auch.
"Ok, Cara, du warst jetzt fünf Tage hier. Dein Vater hat mit dem Chefarzt gesprochen und möchte später mit dir fliegen. Wenn du etwas brauchst, jemanden zum Reden, ruf mich an. Egal ob Tag oder Nacht."
Sie anscheinend auch.
Frau Dr. Schneider war nett. Wirklich. Sie war unglaublich nett und einfühlsam. Ihren Job hatte sie in Perfektion drauf, doch leider interessierte es mich nicht. Nichts von dem was sie in den letzten fünf Tagen erzählt hatte, interessierte mich.
Ich war niemand der einen jahrelangen Kampf gegen Depressionen gekämpft hatte und ich weigerte mich, mich selbst depressiv zu nennen. Meiner Meinung nach war das eine Beleidigung für die Menschen, die wirklich gegen diese Krankheit kämpften.
Ich war nicht depressiv. Ich war traurig. So traurig, dass ich nicht mehr atmen wollte und den Schmerz den ich empfand, konnten mir Gespräche nicht nehmen.
Vor fünf Tagen hatte ich mir nicht nur die Pulsadern, sondern direkt den gesamten Unterarm aufgeschnitten. Mit zwanzig Stichen hatten die Unfallchirurgen der Erfurter Uniklinik meinen Unterarm wieder zusammengeflickt.
Rund zwei Liter Blut hatte ich über den Fußboden unseres Badezimmer verteilt. Rund zwei Liter Blut hatte ich einer Person geklaut, die leben wollte.
Die letzten fünf Tage vergingen wie ein dumpfer Traum. Die grünen Augen meines Vaters beäugten mich seit dem Tag, an dem er angekommen war. Das Weinen meiner Tante wiegte mich in den Schlaf.
Mittlerweile hasste ich mich. Die emotionale und kreative Art der Erziehung, welche ich genossen hatte, forderte nun ihren Preis. In meinem Kopf spielte sich ein Drama ab und mein Gedankentomur war der Protagonist. Selbst Dr. Schneider konnte ihn nicht wegquatschen. Er war so präsent wie mein Arm, den ich mir aufgeschnitten hatte, als sei er ein Steak gewesen. Medium Raw.
Ich zuppelte an meinem schwarzen Kleid. "Danke. Schönen Feierabend dann", sagte ich und stand auf.
Vor dem Behandlungszimmer wartete mein Vater bereits auf mich. "Alles ok?", fragte er in seiner Muttersprache. Die amerikanische Freundlichkeit war manchmal sehr unangebracht. Mein Blick gab ihm das zu verstehen.
Ok war gar nichts. In einer halben Stunde würde ich die Asche meiner Mutter in einem Friedwald verstreuen, um danach mit meinem Vater zum Flughafen zu fahren. Ok war in dieser Zeit absolut gar nichts.
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in den Friedwald.
Mein Vater war ein Mensch der seine Gefühle lieber in Whiskey und Scotch ertränkte, anstatt sie zu offenbaren. Er war hart und oft sehr egoistisch. Diesen Charakterzug hatte ich wohl von ihm geerbt. Seit seiner Ankunft vor drei Tagen hatte er nicht einen Satz über meinen Selbstmordversuch verloren, stattdessen hatte er es hinbekommen, einen Notar ins Krankenhaus zu schleifen und mir die amerikanische Staatsbürgerschaft zu verschaffen.
Seine trüben Augen verrieten mir, dass er sich nachts in den Schlaf weinte, doch er war Soldat. Seine wahren Gefühlte kannte wahrscheinlich nur Naomi und sie dolmetschte so gut es ging. Während der Fahrt beobachtete ich das sanfte Zucken in seiner Wange.
Ich fragte mich über was er wohl nachdachte, doch fragen wollte ich ihn nicht. Vermutlich kannte ich die Antwort bereits. Seine Augen, die neuen, tiefen Falten in seinem Gesicht und die Art wie er mit mir sprach, verrieten mir, dass ich ihn gebrochen hatte.
"Hast du mich noch lieb?", murmelte ich leise und beobachtete seine Mimik. Er lachte kurz in sich hinein. Er schluckte hart, bevor er antwortete.
"Das Thema mit Kindern ist, dass sie immer denken, dass Eltern gegen sie sind aber die Wahrheit ist, ich werde nie etwas mehr lieben als dich, Cara und ich wünschte, du würdest mich so sehen, wie du deine Mutter gesehen hast.", sagte er so kühl, dass ich die Liebe spüren konnte.
Jetzt war ich diejenige, die in sich hineinlachte und starrte aus dem Fenster. Wir fuhren die lange Landstraße entlang und ich beobachtete, wie sich die Bäume am Straßenrand, in einen Mischmasch aus braunen Wellen verwandelten. Fast so wie auf den Aquarellen meiner Mutter, verschwammen die Bäume zu einem Traum, den ich niemals im Leben hätte greifen können. Ich verlor mich in diesem Gedanken und verbrachte den Rest der Fahrt damit zu starren.
Nach rund fünfzehn Minuten erreichten wir den Friedwald. Wortlos stieg mein Vater aus. Dass er den Mut hatte, bei der Beerdigung meiner Mutter anwesend zu sein, verwunderte mich. Meine Mutter und mein Vater hatten schon immer ein sehr merkwürdiges Verhältnis gehabt. Wirklichen Einblick hatte ich darin nie erhalten und dennoch gab es Etwas, was die Beiden miteinander verbunden hatte. Es war größer als ich. Vermutlich war es die verloren geblaubte Jugend, welcher die Beiden immer noch hinterher trauerten.
Mit dem Mount Everest in meiner Kehle stieg ich aus und wünschte, ich hätte ihn auskotzen können, als ich sie sah. Die komplette Gesellschaft hatte den Anstand gehabt, sich lässig zu kleiden, nur meine Großmutter musste sich widersetzen.
Meine Oma hatte sich entschieden, sich so richtig aufzuputzen. Sie war klein und schlank. Ihre schwarzgefärbten Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und ihre Augen musterten mich so, wie sie mich schon immer gemustert hatten.
"Mein armes Kind. Es tut mir ja so leid. Lass dich umarmen", rief sie, als sie mich entdeckte und erdrückte mich mit ihrer falschen Liebe. Starr stand ich da und ließ den Zirkus über mich ergehen.
In meinem Leben hatte ich sie vielleicht zehn Mal gesehen. Warum zur Hölle kam sie auf die Idee mich in den Arm nehmen zu müssen? Selbst mein Physiklehrer stand mir näher als sie.
Mein Großvater hatte nicht den Anstand zu erscheinen. Er hatte eine Operation die er unmöglich verschieben konnte. Nach Aussage meiner Oma war es wichtiger sich um die Lebenden zu kümmern. Die Toten würden warten. Indes hoffte ich herzlichst, dass sie nicht mehr allzu lange auf den ihren warten müsse.
Düster drückte ich mich wortlos aus ihrer Umarmung und lief gemeinsam mit meinem Vater in den Wald. Der Rest der Gesellschaft folgte uns.
Nach ein paar Metern spürte ich, wie sich eine Hand in meine schlich und sah zu der Person, die mich ganz offensichtlich gut genug kannte, um die Klappe zu halten. Die blauen Augen meines liebsten Rotschopfes sprachen mir Mut zu. "Danke", flüsterte ich wortlos und erwiderte ihren Griff.
Nach rund zehn Minuten erreichten wir eine alte Rotbuche. Vor ihr stand die Urne. Ein goldenes Gefäß mit den Initialien meiner Mutter.
A.W.
Ab diesem Moment an war ich gelähmt. Mila ließ meine Hand nicht los. Sie hielt mich mit ihren zarten Fingern so fest sie konnte. Als meine Tante neben mir stehen blieb, griff ich auch ihre Hand. Zu dritt standen wir vor der Buche. Dem Grab meiner Mutter und lauschten den Worten des Trauerredners.
Anstatt über die Lebensgeschichte meiner Mutter zu tratschen, las er ein Gedicht vor. So wie sie es gewollt hatte.
Das Leben ist ein seltsames Spiel,
oft erwarten wir viel.
Wir fliegen hoch und fallen tief,
so oft so unverdient.
Springen wir hoch, dann halten wir fest
an Dingen, die so schmerzlichst werden vermisst.
Wir jagen nach Triumph und feiern die Lust.
Wer hätte geahnt, dass so schön sein, der Verlust.
Wir lieben das Leben und hassen den Tod.
Doch wer ahnte, dass so schön wäre, die allergrößte Not.
Wir vermissen das Geliebte und halten uns fest,
an Dingen die uns oft haben verletzt.
Lasset sie gehen und lebt für das Neue,
ohne die Wut und ohne die Reue.
Möget ihr lieben und lachen so sehr,
keiner als ich liebte euch mehr.
Ich werde nun gehen und setz mich zur Ruh.
Denket dran, ich schaue euch von oben zu.
Wo immer oben sein mag.
Wiedersehen, ich ersehne den Tag.
Die Tränen liefen mir unkontrolliert über die Wangen. Rund eine Stunde stand ich einfach nur reglos da und starrte auf die Urne meiner Mutter.
Mein Atmen war schwer wie Blei und meine Beine fühlten sich an, als wären sie die eines fremden Menschen.
„Cara?"
Da lag sie nun. Verbrannt und schwarz. In diesem Moment wunderte ich mich, ob menschliche Asche überhaupt schwarz war.
„Cara!"
Sie war der Grund gewesen, warum ich lebte. Sie erzog mich und behandelte mich, wie einen Diamanten. Sie liebte mich so sehr und ich, ich liebte sie genauso sehr. Wie hätte ich in einer Welt ohne meine Löwenmutter überleben sollen?! Sie hätte leben sollen und nicht in Form eines staubigen Haufen Drecks in einer Urne vor mir stehen. Ich sollte...
„Cara! Komm, wir müssen los."
Die Stimme meines Vaters war endgültig. Er hatte entschieden. Widerwillig drehte ich mich um. Ich sah nach oben in den Himmel und versuchte ein Zeichen zu erkennen.
Der Wind war kalt und durchstreifte mein Haar. Es war ein Abschied. Ein Abschied von zuhause, ein Abschied vom Leben, ein Abschied von Cara Miller.
Ich brach in dem Moment, als ich Horst 2.0 festzog und das Flugzeug abhob. Zwölf Stunden lang heulte ich an der Schulter meines Vaters. Ich verfluchte ihn, entschuldigte mich wieder, um ihn ein paar Minuten später wieder zu verfluchen.
Als wir in Nashville landeten, war ich ein Jetlag geplagtes, rotäugiges Wrack.
Naomi stand in der Ankunfthalle, um uns zu begrüßen. Halbherzig erwiderte ich ihre Umarmung kurz und stürmte aus dem Flughafen. Ich wollte dieses dramaturgische Geschehen, so schnell wie möglich, hinter mich bringen und mich in mein Bett legen, mein Leben verfluchen und vor mich hinstarren.
Mit letzterem begann ich bereits im Auto. Mit meiner Playlist in den Ohren starrte ich aus dem Fenster und sah wie mein bisheriges Leben in Form eines amerikanischen Highways an mir vorbeizog. Sonst war ich euphorisch wieder nach Tennessee zu kommen, doch diesmal war alles anders. Ich war hier, weil mir keine Wahl gelassen wurde.
Ohne mich zu fragen, riss mich mein Vater aus meinem Leben, so wie meine Mutter von diesem Vollidioten Mike aus dem Leben gerissen wurde. Mir wurde keine Zeit gegeben mich zu verabschieden.
Wie dankbar ich sein durfte, wenigstens noch die Asche meiner Mutter unter die Erde bringen zu dürfen.
Bei Nina Nesbitt's The People fühlte ich etwas, was ich noch nie zuvor gespürt hatte. Eine gefährliche Mischung zwischen Drang nach Freiheit, Gleichgültigkeit und Selbstmitleid. Mein Gedankentumor war so fett gefüttert, dass er sämtliche Kreativität, Ideen und Gedanken für sich beanspruchte.
Er weigerte sich mir Raum zu geben, meinen Vater und seine Entscheidungen zu verstehen.
Mein Vater war in dieser Situation das Arschloch und während ich auf die unendlichen Felder Tennessee's starrte, schmiedete ich den Plan, ihm das Alles heimzuzahlen.
Der Gedankentumor erklärte mir sehr plausibel, dass mein Vater mich nicht aus Liebe aus Deutschland zu sich geholt hatte, sondern weil er meine Mutter schon immer gehasst hatte und mich absichtlich aus meinem Umfeld reißen wollte, damit ich dafür leiden musste, dass sie mich nie länger als für sechs Wochen zu ihm gelassen hatte.
Dieses Arschloch in meinem Kopf fraß Stück für Stück sämtliche rationale Gedanken auf und begann ein Netz zu spannen. Bereitwillig legte ich meine gebrochene, sensible Seele auf dieses Netz und ließ sie von ihm verpuppen, wie eine Spinne ihre Beute.
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