5- Der Stripper
Erst nach einige Minuten wagte David es, aufzustehen und sich in dem Spiegel an der linken Wand anzusehen. Ein völlig anderes Gesicht blickte ihm entgegen, aber irgendwie lag etwas Vertrautes in den Zügen. Vielleicht lag das aber auch an den verheulten Augen. Er schniefte.
Seine Haare waren dunkel und an den Seiten rasiert. War das ein Piercing in seiner Augenbraue? Und sein Gesicht war markant. Victor war größer als David, und muskulös, aber nicht so sehr, dass es nach viel Training aussah; er hatte kein Sixpack, aber den Ansatz von einem Solchen. Alles in einem musste David zugeben, dass Victor ausgesprochen attraktiv war.
Während seines Nervenzusammenbruchs war ihm klar geworden, dass nichts und niemand ihn dazu zwang, mit diesem Victor zusammenzusein. Vielleicht waren sie Seelenverwandte, vielleicht war alles nur ein großes Missverständnis. Wie auch immer- David wollte nur noch eins: zurücktauschen.
Doch dazu musste er zunächst den Raum verlassen.
Viel Auswahl bei der Klamottensuche hatte David nicht. Victor schien nicht sonderlich viel zu besitzen, nicht mal ein Smartphone oder ein paar Bücher konnte er entdecken. Zumindest war die Wäsche auf dem Stuhl sauber. David zog sich zögernd an und näherte sich dann der Tür. Draußen waren Schritte auf knarrenden Dielen zu hören. Alice, die Schwester. Gerade wollte David all seinen Mut zusammennehmen und das Zimmer verlassen, als ihm ein Gedanke kam:
Was, wenn hier noch mehr Leute wohnten?
War es eine Wohnung oder ein Haus? Eine WG oder eine Familiensituation? David zögerte. Für einen kurzen Augenblick dachte er an sein Zuhause, und was den Anderen dort erwarten würde. Mit einem Mal empfand er eine Spur von Mitleid, doch im nächsten Moment verbot er sich das. Wenn er jetzt mit Gefühlsduseleien anfangen würde, würde er niemals den Mut finden, Alice gegenüberzutreten.
Sie schien eine aufbrausende, einnehmende Persönlichkeit zu besitzen und strahlte eine gefährliche Ruhe aus, während sie einen Knoten in ihren Haaren entwirrte. David sah ihr einige Minuten lang zu, dann räusperte er sich.
Sie zuckte zusammen. "Mein Gott, Vic! Seit wann schleicht du dich so an?" David versuchte, sie attraktiv zu finden. Seine Augen suchten ihren Körper ab, doch sein Gehirn hing noch an seinem neuen Spiegelbild.
"Entschuldigung." Es war ein seltsames Gefühl, mit einer fremden Stimme zu sprechen. "Ähm, ich wollte fragen ob wir das mit B- äh, Baine's nicht vielleicht verschieben könnten...?", fragte er und ärgerte sich über sein Stottern. Sie warf ihm nur einen kurzen Seitenblick zu. "Geschwisterdates kann man nicht verschieben, das weißt du. Egal, wie seltsam du mich darum bittest." David fühlte sich ertappt, obwohl er nichts getan hatte. Er atmete langsam aus. Alice hatte den Knoten gelöst und band den Dutt neu.
"Ich hab Kaffee gemacht.", sagte sie dann und warf ihm einen erneuten Blick zu, als erwarte sie eine Reaktion. Als er ihr nicht das zu liefern schien, was sie erwartet hatte, rümpfte sie die Nase und schob eher aggressiv eine Haarnadel in das Haarknäul. "Ob es dir passt oder nicht, wir gehen da hin. Du hast es mir verdammt nochmal versprochen, und wenn du deine scheiß Versprechen nicht hältst, kannst du auch zurück zu Mum und Dad gehen."
David hatte das Gefühl, dass ihn diese Aussage mehr treffen sollte und er verzog das Gesicht zu einer harten, abweisenden Maske. Trotzdem beobachtete er sie genau. Sie fluchte eine Menge. Vielleicht sollte er das auch tun, um authentisch zu wirken. "Sag so eine Scheiße nicht." Sie stieß die Luft aus und sah sich einen Moment lang selbst im Spiegel an. David schmeckte wieder die Galle in seinem Rachen. "Ach fick dich einfach. Lass uns gehen." Sie brauste an ihm vorbei in den Flur und David entspannte sein Gesicht.
Alles um ihn herum schien unter Strom zu stehen, es herrschte irgendeine Spannung, die er nicht verstand, und seine eigene Nervosität machte es nicht besser. Er folgte Alice nur langsam, die schon bei der Tür wartete, den zweiten Schuh über die Ferse ziehend. Er sah den Schuhschrank und tippte blind auf ein größeres, schwarzes Paar Sneaker. Alice schien nichts einzuwenden zu haben.
Als sie die Wohnung verließen, fiel David das eher dunkle Treppenhaus auf, und, dass er noch keinen Blick aus dem Fenster geworfen hatte. War er überhaupt noch in derselben Stadt? Da Alice die gleiche Aussprache besaß, wie er (wenn auch etwas städtischer), war die Region wenigstens eingegrenzt. Schnell wurde ihm mit großer Erleichterung bewusst, dass er lediglich eine Zugfahrt von Zuhause entfernt war. Vielleicht 40, 50 Minuten?
Alice lotste David durch die Stadt. Sie hatte ein schnelles Schrittempo, aber David hatte keine Mühe, mitzuhalten. Der Körper des Anderen war viel ausdauernder als sein eigener, es war ein leichtes, die Treppen zu der Einkaufsmeile hinauf zu steigen und mit der schnellen Alice mitzuhalten. Beinahe überkam ihn das Bedürfnis, die Grenzen des Körpers auszutesten und loszurennen, so lange er es aushielt. Aber dann erinnerte ihn ein Ziehen in der Aftergegend daran, dass er das nicht tun sollte.
Natürlich hatte David darüber nachgedacht, was Alice ihm über Victor erzählt hatte. Und jetzt, wo er in der Geräuschkulisse der Innenstadt zu verschwinden schien, kamen ihm seine Gedanken noch klarer vor. Mal von der Tatsache abgesehen, dass Victor offensichtlich männlich war und David ziemlich überzeugt davon war, nicht schwul zu sein, gab es noch andere Dinge, die ihn abschreckten. Klar konnte die Weise, wie Alice sein Liebesleben beschrieben hatte, emotionsgesteuert und demnach übertrieben gewesen sein, aber in David hatte sich ein deutliches Bild davon gezeichnet, wie sein Seelenverwandter jede Nacht irgendwelche Typen vögelte. Woher die Schmerzen kamen war damit wohl auch klar. Und dazu der Zigarettengeruch seiner Haut und Kleidung, der eigentlich abstoßend auf David wirken müsste, aber irgendwie-
Aber was war das für ein Mensch, der als Stripper arbeitete? Victor schien ihm keine Person zu sein, die es so dringend nötig hätte, sich zu verkaufen, dass seine Existenz davon abhängig wäre. Er schien es aus Spaß zu machen. Weil er wollte. Und vielleicht, weil Alice kein Geld verdiente.
"Wann musst'n du heute im Club sein?" Alice war vor einem Café stehengeblieben. Sie schulterte ihre Tasche neu. David verstand erst nicht, dass er angesprochen war. "Äh, keine Ahnung.", antwortete er etwas verspätet. "Es ist Sonntag.", fügte er dann hinzu, davon ausgehend, dass auch Stripper irgendwann frei haben müssten. Alice musterte ihn mit einem verwirrten Blick. "Und? Letzten Sonntag hast du die Frühschicht gehabt." David machte sich selbst dafür verantwortlich. Nichts war so, wie er sich das dachte. Das müsste er inzwischen gelernt haben.
Alice ging zuerst hinein und setzte sich dort an einen Tisch. David sah sich möglichst unauffällig um. Es war schön eingerichtet, frisch, fast modern. Dafür, dass es so kalt war, schien hier drin immer Sommeranfang zu herrschen. Die Kellnerin brachte die Menükarten und David versuchte, in ihr Dekolleté zu schauen.
Da hast du mehr gespürt, als du Victor im Spiegel angeschaut hast.
Dumme innere Stimme. Die würde ich poppen. , sagte er sich selbst und schlug dann die Karte auf, um auf andere Gedanken zu kommen. "Jetzt sag mal.", begann Alice und legte ihre Karte nieder. "Irgendwas ist doch los mit dir! Du bist so... komisch." Sehr witzig. David vertiefte sich in das Menü und suchte nach einer Antwort. "Hallo? Vic?" Sein Magen rumorte. Das alles musste ein Alptraum sein. Er wollte zurück in sein Haus, zu seiner Familie, in sein Studium, zu seinen Comics, auch wenn das weitere Konflikte mit George bedeuten würde. Er wollte nur aus diesem Körper, diesem Leben heraus, das ihn so völlig unter Stress setze. "Victor!" Alice nahm ihm die Karte weg, die ihm wie das letzte Schutzschild in einem verlorenen Krieg unter vollem Beschuss vorkam. "Was soll der Mist?!" David schlug die Hände über seinem Kopf zusammen und vermisste seine Locken.
"Ich bin nicht Victor."
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"Ja, mache ich... Ja, tut mit leid... Er holt das nach, versprochen!... Bestimmt bald. Ja... Danke, Joe!" Sie legte auf und starrte auf das Telefon. David wartete außerhalb der Telefonzelle. Er war nervös und fröstelte. Es war Abend geworden, und Alice hatte ihn soeben von Victors Pflichten in dem Stripclub befreit. Alice kam wieder zu ihm und zog die Jacke enger um sich. "Okay.", sagte sie dann. Sie traute sich nicht mehr, David anzusehen. Es war ihm gleich heute Morgen aufgefallen, als er die ganze Sachen mit den Seelenverwandten und dem Körpertausch erklärt hatte. Sie hatte ihm sofort geglaubt, aber war sehr still geworden.
"Also, für heute bist du von der Schicht befreit, aber morgen kommst du nicht drumrum. Also, falls ihr bis dahin nicht zurückgetauscht habt." Sie streckte die Hand aus und gab David etwas Kleingeld in die Hand. "Viel Glück."
Als David die Nummer von seinem Haus wählte, wurde ihm mulmig zumute. Seltsamerweise hatte er Angst, dass George ihn erkennen könnte, falls dieser den Anruf entgegennahm. Er sah auf die Uhr. Kurz vor 9. Vielleicht war er schon im Bett.
Es wählte und David legte die Stirn gegen die Scheibe. Was sollte er bloß sagen?
"Hallo?"
Luke. Gott sei Dank.
"Hi, ähm, ich möchte bitte zu David. Ich bin... ein Freund aus der Uni."
Sein Herz schlug ihm bis an den Hals.
"Ähm, ich weiß nicht, ob das jetzt so gut ist... kannst du nicht morgen mit ihm reden?"
Was war passiert? War es George? Sicher war es George! Wo hatte er Victor nur rein gezogen?
"Nein, ähm, es ist wirklich wichtig. Sag ihm, dass Victor dran ist. Er wird mit mir reden wollen, okay?"
Auch wenn Luke es nicht wusste, tat es David ungemein gut, seine Stimme zu hören. Ihre Vergangenheit hatte die Brüder zusammengeschweißt.
"Na schön. Einen Moment."
David hörte, wie Luke die Treppe rauf ging. Eine Stimme war zu hören, die leise fluchte. David gefror fast das Blut in den Adern. War das George, der sich über den Anderen aufregte? Wieder einmal wurde David schlecht. Luke klopfte.
"David? Da ruft jemand für dich an. Ein Victor, aus der Uni."
David hörte Schritte näherkommen und wie jemand den Hörer an sich nahm. Dann schloss sich die Tür. Es wurde still. Er räusperte sich.
"Hi."
"Ich verstehe, warum du weg wolltest, aber das war nicht cool."
Überrumpelt verschluckte David sich beinahe an seinem Atem.
"Ich, ähm... was?"
"Diese Scheiße hier. Kannst du nicht weglaufen oder so? Wie normale Kinder?"
"Und dann was? Stripper werden?"
David bereute es in der Sekunde, in der er es gesagt hatte.
"Fick dich."
Es raschelte, als würde Victor das Telefon vom Ohr nehmen und David bekam Panik.
"Warte! Tut mir leid! Tut mir leid!"
Einige Sekunden lang wurde es wieder still.
"Ich hab es Alice erzählt.", sagte er dann und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. "Sie hat viele Selbstgespräche geführt heute Morgen."
Victor lachte. Es war seltsam, jemand anderen mit der eigenen Stimme lachen zu hören.
"Ich hab deine Oma besucht."
"Oh, das hab ich total vergessen."
Wieder Stille.
"Ich hab nicht erwartet, dass es funktioniert, okay? Es war eine dumme Idee. Ich bin nicht abergläubisch, also dachte ich nicht, dass wir wirklich..."
"Mhm, is klar. Was ist dann mit der Nachricht? Übrigens, sehr witzig, das mit dem 'finde mich'. Als ob ich nicht wüsste, wo ich wohne."
David wurde wieder mulmig, aber diesmal war es nicht sein Magen, der ihm Sorgen bereitete, sondern sein Brustkorb. Es war, als spannte sich ein Band darum, das ihm die Luft auspresste und verhinderte, dass er neu einatmen konnte.
"Welcher... was?", sagte er leise mit immer noch gezwungen angehaltener Luft.
"Dein Ernst?" Er seufzte. Ein Rascheln. "Hier: 'Tut mir leid, dass ich dich da mit rein gezogen habe. Finde mich.' Sehr hilfreich, wirklich."
David erinnerte sich vage.
"Das muss ich während dem Körpertausch geschrieben haben..."
"Is mir egal, Sherlock. Ich will zurücktauschen, klar? "
"Was? Ich meine- ja, klar, ich auch. Ähm, ich glaube, wir müssen uns nur berühren, dann tauschen wir automatisch zurück."
"Dann komm her. Ich muss morgen zur Arbeit."
David verzog das Gesicht. Er hatte Vorlesungen, das war auch nicht gerade unwichtig. Aber dieser Victor hatte anscheinend auch keine Ahnung.
"Ich weiß nicht, wann ich das morgen schaffe. Und außerdem musst du mich in der Uni vertreten."
"Bitte was? Nein, kannst du voll vergessen! Ich täusche ne Grippe vor oder so."
"Das geht nicht. Hast du... hast du George schon kennengelernt?"
Es wurde erneut still, und David sah zu Boden.
"Er lässt dich nicht Zuhause bleiben."
Auf der Anzeige vom Münztelefon standen nur noch 30 Sekunden und David musste sich beeilen.
"Ähm, ich muss gleich auflegen. Wir treffen uns morgen um 5 an der Uni, okay? Ich komm da hin, wir tauschen zurück und fertig."
"Wehe du kostet mich meinen Job."
"Das ist kein Job. Das ist beschissen."
David legte auf, bevor die letzten Sekunden abgelaufen waren. Er knallte seine Stirn ein paar mal gegen die Scheibe, aber weil es nicht sein Körper war, war es ihm egal. Dann hängte er seine Hände an seinen Nacken und schloss die Augen. Was ein Idiot. Und der sollte...?
Nein. David würde morgen zurücktauschen und dann einfach mit seinem Leben fortfahren. Das Semester beenden, vor George flüchten, die Comics zeichnen... bis er irgendwann ausziehen würde und seine Zukünftige treffen und-
Er seufzte. Wie war auf einmal alles so kompliziert geworden?
Und in einem Haus, etwa 60 Minuten Autofahrt entfernt, saß der Andere auf dem fremden Bett in dem fremden Haus, mit brennenden Wangen, schmerzendem Herzen und Tränen in den Augen. Und dem Geschrei von George und Luke im Ohr.
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THANK YOU FOR READING SO MUCH!!
Wir sind schon bei 37 reads, nach einem Tag :) das ist wirklich krass für so ne neugestartete Story. HELLO TO EVERY NEW READER I LOVE YOU :)
Ich setze die Update Zahl jetzt mal auf 40 hoch, damit es nicht zu schnell wird:)
Meinungen, Gedanken, Kritik, Anregungen und Vorhersagen wie immer in die Kommentare :)
AOF
PS: Was ein Telefonat... puuuh
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