3- Die Großmutter
Anscheinend konnte der Andere Autofahren.
Die mittelalte Frau wollte sich die Strecke mit David teilen, doch Victor wand sich mit einer geschickten Lüge heraus. Die Autofahrt verlief still. Luke sah sich eine Serie auf dem Tablet an, die Frau und der Mann saßen vorne und hörten dem Radio zu und Victor sah aus dem Fenster um irgendwie herauszufinden, wo er sich befand. War das hier überhaupt noch seine Stadt? Sein Land? Erleichtert konnte er feststellen, dass er im Vorort gelandet war und dass man mit der Bahn nur 40 Minuten bis zu seinem Club, und damit 50 Minuten bis zu Alice' und seiner Wohnung brauchte. Er hatte sogar noch mehr Glück: Die Familie schien genau in diese Richtung unterwegs zu sein.
Er hatte kein Zeitgefühl mehr, aber die Uhr auf dem Smartphone des Anderen, das er auf dem Nachttisch gefunden hatte, zeigte 11:36 an. Natürlich kannte Victor den Pin nicht, aber das Handy hatte einen Fingerabdrucksensor. Bisher hielt er seine Nerugierde jedoch zurück. Das war nicht seines, es war das Handy eines Fremden und er würde nicht darin herumschnüffeln.
Zumindest noch nicht.
In weniger als 7 Stunden würde er im Club sein müssen, in seinem eigenen Körper. Er fragte sich, ob David jetzt in seinem Körper steckte, und falls ja, was er tun würde. Würde er zurecht kommen? Mit Alice zusammenzuleben war nicht einfach, das wusste Victor. Sie würde den Anderen aus dem Bett scheuchen, zu einem Spaziergang zwingen, vielleicht mit ihm reden wollen wegen dem, was am Abend vorgefallen war.
""Ich weiß nicht, wer du bist, aber es tut mit leid, dass ich dich da mit rein gezogen habe.""
Ob David schuld war, dass Victor jetzt in seinem Körper steckte? Zumindest klang die Nachricht ganz danach. Aber wie war das möglich? Das war eine Frage, die Victor ganz bewusst umging. Vielleicht war es besser, die Antwort nicht zu wissen, wenn sie seine Vorstellungskraft mit hoher Wahrscheinlichkeit überstieg. Für eine Weile schloss er die Augen. Vielleicht war es ein Traum. Aber irgendwie glaubte er nicht daran. Für einen Traum fühlte es sich nämlich beängstigend real an.
Als er die Augen wieder öffnete, rüttelte jemand an seiner Schulter. "David, wir sind da!" Es war Luke. Für einen Moment sah er sich um, ohne sich zu bewegen. Durch das Fenster konnte er ein hohes, weißes Gebäude erkennen, und davor einige weitere Parkplätze. Er kannte das Gelände von irgendwo her, erinnerte sich aber im Moment nicht daran. "Wo sind wir?", fragte er und schnallte sich ab. "Bei Oma.", antwortete der jüngere und betrachtete Victor einen Moment lang nachdenklich. Dann schien er seine Gedanken zu verwerfen und öffnete seine Türe.
Als Victor im Freien stand und gegen die für März untypisch helle Sonne blinzelte, erkannte er das Gebäude endlich. Es war das städtische Krankenhaus.
Sofort fühlte er ein beklemmendes Ziehen in seiner Magengegend. Krankenhäuser waren nicht seine Lieblingsorte. Das weiße Licht und die Reinheit vorspielenden hellen Wände und Böden machten ihn immer nervös. Hier war Davids Großmutter? Dann machte diese Begegnung ihm noch mehr Angst.
Er ging langsam hinter der Familir her, in der Hoffnung, er könne unbemerkt verschwinden, doch die Mutter ließ das nicht zu. Alle paar Meter drehte sie sich um und spornte Victor dazu an, sich zu beeilen. Dieser aber vergrub seine Hände in der Bauchtasche des Hoodies und sah sich befremdlich um. Eine Gänsehaut breitete sich auf dem Körper aus, in dem er sich befand. Krankenhäuser waren keine schönen, Gesundheit bringenden Institutionen. Für Victor waren es Tore zur allumfassenden Hölle auf Erden, und schließlich zum Tod. Hier hatte sein großer Bruder den Kampf gegen den Krebs verloren. Das war zwar schon Jahre her, aber der bittere Nachgeschmack war geblieben.
Das Zimmer der Großmutter lag in der untersten Etage in unmittelbarer Nähe zur Intensivstation. Die Übelkeit war wieder da und drückte gegen seinen Gaumen. Er atmete langsam und kontrolliert, um sich selbst zu beruhigen. Vor der Zimmertüre machte die ganze Familie Halt. "Benehmt euch, ja?" Beschwur die Frau Luke und Victor und öffnete dann die Tür. Es roch nach alter Dame, Desinfektionsmittel und Blumen, die Rolläden waren halb heruntergelassen und tauchten das kleine Zimmer in ein dämmeriges Licht. Victor wurde regelrecht hineingeschoben. Beinahe hätte er sich an dem Türrahmen festgekrallt, doch in letzter Sekunde hatte er den Impuls unterdrücken können. Er wünschte sich einige Shots Vodka oder eine Schachtel Zigaretten herbei, zwang sich aber trotzdem ein Lächeln auf die fremden Lippen, als er sah, wie sehr sich die alte Frau freute, die in dem Bett saß. Sie war augenscheinlich eher klein und pummelig, ihre Haut sah zerknittert aus, sodass man sofort das Bedürfnis bekam, sie glatt zu ziehen oder gar zu bügeln. An den Armen, die sie nach ihrer Familie nun ausstreckte, hingen große Hautlappen herunter, die nahelegten, dass sie zwar auf den ersten Blick pummelig aussah, aber eigentlich sehr dünn war und einen Haufen an überschüssiger Haut besaß.
Victors Magen krampfte sich zusammen, als er das Piepen der Monitore hörte. Die Oma war vollständig verkabelt; an ihrem Hals war frontal ein Schlauch angebracht, der zu einer großen Maschine mit offenem Blasebalg führte. Lungenkrebs, schoss es Victor durch den Kopf, obwohl die Beatmung viele Ursachen haben hätte können. Zu gerne hätte er jemanden gefragt. Aber die Tatsache, dass er gerade als ein gewisser David vor dessen Großmutter stand, machte eine Nachfrage unmöglich.
"Hallo, Mama.", sagte die mittelalte Frau und umarmte ihre kranke Mutter. Victor schloss für eine Sekunde die Augen und zwang sich dazu, erneut tief durchzuatmen.
Er war in Sicherheit, rief er sich ins Gedächtnis.
Ihm würde nichts geschehen.
Eine Hand legte sich mit einem festen Griff auf seine Schulter und drückte zu, bis es schmerzte. Erschrocken versuchte er, sich umzudrehen, doch sofort hinderte ein ruckartiges Zupacken der Hand ihn daran. "Wir sprechen uns noch wegen gestern.", raunte eine tiefe Stimme ihm zu. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus. Dann schaltete sein Hirn auf defensive Wut um. "Nimm' deine Finger von mir.", knurtte er zurück und drehte sich zu dem blonden Freund der Mutter um. Diesem war die Überraschung ins Gesicht geschrieben, doch er brach den Blickkontakt nicht und legte mit Wut in den Augen nach. Bevor sie ihr Blickduell allerdings vertiefen konnten, durchbrach die Stimme von Davids Mutter die Spannung.
"David, Luke, wollt ihr eure Oma nicht begrüßen?" Mit einem Ruck löste Victor seine Schulter aus dem Griff des Mannes und ging, von der brodelnden Wut in ihm beflügelt, auf die kranke Frau zu. "Hallo... Oma.", sagte er mit steifer Stimme, küsste ihre Wange und ließ sich über das Gesicht streichen. Hinter ihm führten Luke und seine Mutter eine geflüsterte Diskussion, ob er dazu verpflichtet war, seine "gruselige" Großmutter zu begrüßen. Seine Mutter siegte letztendlich und so schlurfte auch Luke zu dem Krankenbett. Victor platzierte sich nun am Fenster, weit weg von dem Mann, der ihn mit durchdringenden Blicken strafte, die sagten: "Das wirst du bereuen!" Victor zog seine Augenbrauen zusammen und verschränkte die Hände vor der Brust. In diesem Körper war er nicht so stark oder groß wie in seinem eigenen, doch seine Mentalität hatte er behalten. Und die beinhaltete einen ausgeprägten Sinn, wann man sich etwas gefallen zu lassen hatte, und wann nicht.
"Mama, erinnerst du dich an George?" Die alte Dame sah verwirrt aus, deplatziert und ein wenig traurig als hätte sie etwas Wichtiges verlegt, wisse aber nicht mehr, was es war, sodass sie nicht mal danach fragen konnte. "Jede Woche das selbe Spiel...", murmelte die Mutter und zeigte dann auf George, den blondhaarigen Kotzbrocken. "Das ist mein Freund, Mama.", erklärte sie dann.
"Jeanette, mach dir keine Umstände. Sie wird mich wieder vergessen.", wandte George mit weicher Stimme ein und legte ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht. Victor wusste nicht so richtig, was er von ihm halten sollte. Er schien grob zu sein, und hielt etwas auf seiner Autorität. Aber in der Nähe von der mittelalten Frau- Jeanette - schien er wie ein völlig anderer Mensch.
Auch egal, entschied Victor.
Das waren nicht seine Probleme, nicht seine Familie. Er musste einen Weg aus diesem Krankenhaus und zu Alice finden.
Dann würde alles wieder gut werden.
Naja.
So gut es eben sein konnte.
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