2- Der Morgen
Als Victor seine Augen öffnete, fühlte er sich wie gerädert. Der Schlaf war überhaupt nicht erholsam gewesen, er erinnerte sich an krampfartige Schmerzwellen, die durch seine Muskeln jagten, an zerreißende Sehnen und knarzende Knochen, an einen ungeheuren, unruhigen Traum, in dem das alles stattgefunden hatte.
Es war hell in seinem Zimmer, also vermutete er, dass es schon Mittag war. Heute hatte er Spätschicht, zum Glück, also schloss er die Augen nochmal. In seinen Ohren rauschte das Blut.
Nachwirkungen von dem Traum, dachte er sich. So auch das Herzrasen.
Sein Kissen kam ihm ungewöhnlich weich vor, seine Wange fühlte sich umarmt. Er hatte es gestern Nacht nicht bemerkt, vielleicht hatte Alice die Bezüge gewaschen. Aber das war ja auch egal. Er wollte seine Gedanken abstellen und nochmal einschlafen, ein wenig die Ruhe genießen, bevor es wieder in den Club ging.
Aber es war hell in seinem Zimmer. Und in seinem Blickfeld war etwas gewesen, was da nicht hingehörte. Ein Gefühl fuhr durch seinen Körper, das die müde, träge Ruhe vollkommen zerstörte. Er riss die Augen auf. War das... ein Schrank? Seine Klamotten stapelten sich immer über einem Stuhl; er besaß keinen Schrank. Und schon gar nicht so einen schönen. Er war dunkelbraun und glänzend lackiert, mit ockerfarbenen Messingknäufen und simpel verzierten Schubladen. Victor setzte sich auf, konnte den Blick aber nicht von dem Schrank wenden. Wie war er hier rein gekommen?
"Alice?", brummte er, doch irgendwas hörte sich anders an als sonst. War das seine Stimme? War er heiser? Krank? Nein, da war kein Kratzen in seinem Hals. Neben dem Schrank tauchte ein kleiner Fleck der Wand auf, und Victor wurde noch seltsamer zu mute- sie war gelb.
Entsetzt sah er sich um. Das war nicht sein Zimmer. Da stand ein Schreibtisch, auf dem irgendein Technik- Kram aufgebaut war, und Bilder hingen an der Wand, direkt neben einem Spiegel und dann war da der Schrank und- war das ein Zettel? Er hastete aus dem Bett und bemerkte, dass er eine rote Jogginghose trug. War er entführt worden?
Eilig ging er zu der gegenüberliegenden Wand und riss den Zettel von der Spiegelfläche. Dabei erhascht er einen kurzen Blick auf das Bild, das sich ihm darin bot. Wie erstarrt blieb er stehen und starrte sich an.
Nein, nicht sich. Ihn. Ein junger Mann, vielleicht 19, 20, mit Undercut und Locken. Schmächtig, schmal, aber nicht so, dass er knöchern aussah, sondern normal gebaut, aber nicht trainiert. Mit seiner freien Hand fasste Victor sich in sein fremdes Gesicht. "Scheiße...", murmelte er mit dieser anderen Stimme, diesem anderen Mund. Alles in ihm schien stillzustehen.
Er musste träumen.
Das musste ein Traum sein.
Dann fiel ihn der Zettel wieder ein.
"Ich weiß nicht, wer du bist, aber es tut mit leid, dass ich dich da mit rein gezogen habe."
Er runzelte die Stirn.
"Finde mich."
Finden? Mit rein gezogen? Jemand hatte das aus Absicht gemacht?
Er wankte und ging einige Schritte rückwärts, bis die Bettkante in seinen Kniekehlen ihn zum Sitzen zwang. Das war ein Traum, oder aber ein absolutes Desaster.
Da waren Schritte zu hören, das Knarzen einer Treppe. Verdammte Scheiße, er konnte eine Zigarette gebrauchen.
"David? Bist du wach?" Eine Frauenstimme, viel älter als die von Alice. Es klopfte an die Türe. "David Schätzchen?
Victor beeilte sich, wieder unter die Decke zu kriechen. Die Türe wurde geöffnet. "Hallo?" Es war eine mittelalte Frau mit rundem Gesicht und einer semi-moppeligen Figur im Bademantel, mit einer dampfenden Tasse in der Hand. "Ah, gut, du bist wach! Ich hab' das Frühstück gerichtet, Luke und George sind schon beinahe fertig! Beeil dich, wir wollen nicht zu spät kommen." Victor blinzelte einige Male. Auf einmal war ihm zum Heulen zumute. "Ähm,", er räusperte sich, doch natürlich änderte das seine Stimme nicht, "ja, ich bin gleich da." Die Frau runzelte die Stirn. "Ist alles in Ordnung, Liebling? Du bist ganz blass." Er zwang sich ein Lächeln auf die fremden, vollen Lippen. "Ja, ich hab' nur schlecht geträumt..."
Als sie verschwunden war, setzte Victor sich auf. Er musste einen klaren Gedanken fassen, denn in ihm ging alles drunter und drüber. Ihm war schlecht, sein Kopf drehte sich, sein Herz raste fast schon schmerzvoll, er zitterte und schwitzte und-
Alice. Natürlich, er musste nur nach Hause gehen. Da würde Alice sein und auf ihn warten und er könnte alles erklären. Ein Telefon hatten sie schon seit Monaten nicht mehr, aber seine Schwester würde früher oder später Zuhause auftauchen müssen, und dann würde er sie abfangen und um Hilfe bitten. Sie würde ihm doch helfen können, oder?
Er stand auf und ging zu dem Schrank. Die Kleidung war eher nicht das, was Victor gerne trug, auch wenn sein Repertoire an Klamotten genau zwei ausgewaschene, graue Jeans mit Löchern und drei identische schwarze Longsleeves beinhaltete, die er je nach Jahreszeit auch mal gegen dunkelgraue T-Shirts austauschte. Hier, in diesem fremden Zimmer, bot sich ihm eine weitaus größere Auswahl. Er entschied sich für eine schwarze Jeans und einen dunkelvioletten Pullover mit gelber Schrift, weil das weitgehend die dunkelsten Dinge waren, die er finden konnte. Und weil er keins der karierten und einfarbigen Hemden tragen wollte. Als er sich umgezogen hatte, steckte er den Zettel in seine Hosentasche und wagte sich dann aus dem Raum hinaus.
Der Flur dahinter war mit Wandlampen beleuchtet und führte geradeaus zu einer Türe, direkt links eine Treppe hinunter und etwas weiter vorne links in einen Raum. Victor atmete tief durch. Das hier war ein Haus, keine Wohnung. Hier lebte eine Familie, das erkannte er an den Bildern, die ihm gegenüber an der Wand neben der Treppe hingen. Neugierig hing er auf eines der Fotos zu. Da war der Andere, David, zu sehen, mit einem kleinen Jungen, der mittelalten Frau und einem Mann im Rollstuhl. Dieser David, in dessen Körper Victor nun war, sah viel jünger aus, als er es jetzt war, vielleicht 6 oder 7 Jahre jünger, und auch die Frau hatte einige Falten weniger. Sie alle sahen glücklich aus.
Victor wurde wieder schlecht. Glückliche Familien waren ihm zuwider.
Da er den Ausgang unten vermutete, nahm er den Weg die Treppe herunter. Auch links waren Bilder angebracht, und irgendwann, als dieser David vielleicht 15 war, fehlte der Mann im Rollstuhl plötzlich. Victors Übelkeit verdreifachte sich.
Tragische Familienereignisse waren ihm noch mehr zuwider.
Aber davon wollte er gar nichts wissen. Das war intim und privat, und nicht sein Leben, sondern das des Anderen. David. In dessen Körper er steckte. Gegenüber der Treppe war direkt eine breite Türe mit Glaseinsätzen, die nach einer Haustüre aussah. Erleichtert ging Victor darauf zu. Doch noch bevor er die Hand auf den Türgriff legen konnte, hielt ihn die Frau wieder auf. "David! Wo willst du hin?"
Victor drehte sich um. "Ich ähm, ich wollte nur-" Sie sah ihn streng an. "Du gehst nirgendwo hin!" Aus dem Raum in dem sie stand kam eine Stimme. "Wenn David nicht zu Oma muss, will ich auch nicht!" Es war die Stimme eines Jungen. Die Frau drehte sich einen kurzen Moment lang um, um "David und du, ihr geht beide mit!", zu sagen, allerdings nicht lange genug um die Möglichkeit zu bieten, sich rauszuschleichen. Er dachte nach. Es war Sonntag, soweit er wusste, also würde David nicht zur Arbeit müssen. "Ich wollte nur zu-" Doch die Frau kam auf ihn zu, packte ihn am Ärmel und zog ihn in die geräumige offene Küche mit Esstisch. "David, du bist bald 20 Jahre alt. Es ist mir egal, welcher deiner Kommilitonen was für eine Party schmeißt oder wo du dich mit irgendwelchen Freunden verabredet hast. In einer Familie nimmt man sich Zeit füreinander, und eure Großmutter..." Sie sprach noch eine ganze Weile lang weiter, doch zum Schluss hin mehr zu sich selbst, als führe sie dieses Gespräch wöchentlich mindestens drei Mal. An dem Tisch saß ein Teenie von etwa 13 Jahren, der die selben Locken wie David hatte, nur dass sie ihm ins Gesicht hingen, und ein Mann mit mürrischem Gesichtsausdruck und blondem, schütteren Haar. Ihn hatte Victor auf keinem Foto gesehen.
Er setzte sich an den Tisch und der Junge machte eine Grimasse, über die Victor grinsen musste. "Luke! Isst du jetzt fertig?", kam die ermahnende Stimme von der mittelalten Frau, die Victor im Verdacht hatte, die Mutter von David zu sein. Der Junge zog eine Schnute und stopfte die letzten Löffel seiner Cornflakes in sich hinein.
"Fertig!", rief er dann und sprang von dem Stuhl. Ohne lange zu Warten rannte er aus dem Küchenesszimmer und die Treppe hoch. "In 10 Minuten wollen wir fahren!", rief die Frau ihm entnervt hinterher. Sie legte eine Hand an ihre Schläfe, die andere auf die Schulter des Mannes. Vorsichtig griff Victor nach einem Apfel und biss hinein. Nach etwas anderem war ihm nicht zumute, er fühlte sich höchst unwohl, mitten in einer fremden Familie zu sitzen. "Also, ich finde wirklich, dass ich Zuhause bleiben sollte.", startete er dann einen Versuch, sich von diesem Vorhaben der Familie zu befreien. "Ich fühle mich heute einfach nicht wie ich selbst.", fügte er hinzu und musste fast lachen. Was eine Ironie.
"Kommt nicht in Frage! Du warst schon letzte Woche nicht da!" Das waren wöchentliche Besuche?
"David, du tust, was deine Mutter sagt.", schaltete sich der Mann ein. Es war, als wolle er noch weitersprechen, doch dann entschied er sich anscheinend dagegen. Es wurde still.
Victors Übelkeit stieg an. Er legte den Apfel auf die abwischbare Tischdecke. "Krieg' ich Kaffee?", fragte er dann. Doch die Gesichtsausdrücke der beiden verrieten ihm, dass David anscheinend keinen Kaffee trank.
Verdammt. Eine Zigarette klang wirklich immer besser.
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