19- Der Tag
Als Victor die Tasche vom Vorgarten des Hauses eingesammelt hatte, zogen er und David sich jeweils einen Hoodie von David über, die Luke eingepackt hatte, und machten sich dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Sie schwiegen eine Weile, und erst, als sie in eine andere Straße einzogen, wagte David es, Victors Hand zu nehmen. "Es tut mir so unendlich leid.", brach es aus ihm heraus und Victor verschränkte seine Finger mit Davids. "Das ist nicht deine Schuld. Es ist meine. Ich hätte nicht bleiben dürfen. Ich hab dich in Gefahr gebracht."
David blieb stehen und sah ihn an. "Bist du völlig bescheuert? Ich hab dich gebeten zu bleiben. Und ich bereue das nicht. Es tut mir nur leid, dass ich dich alleine mit ihm kämpfen lassen hab. Ich hätte dir helfen sollen oder irgendwie... dazwischengehen. So wie du es getan hast." Victor beugte sich vor, um David zu küssen, aber David drehte den Kopf weg. Eine Eiswand hatte sich plötzlich zwischen sie geschoben. Nur ihre miteinander verschränkten Hände hielten die Hoffnung aufrecht, dass alles wieder gut werden würde.
Mit ihren Selbstanschuldigungen und dem beklemmenden Gefühl des abgewehrten Kusses alleine, schwiegen sie, bis sie die Bushaltestelle erreicht hatten.
"Du kannst bei mir bleiben.", sagte Victor leise. Sein Schädel hatte angefangen zu brummen, und immer mal wieder hatte er das Gefühl, dass das Nasenbluten wieder anfing. Dann kramte er schnell eine ungenutzte Serviette aus seiner Hosentasche und fing das Blut auf. Inzwischen war sie ganz rot und verkrustet. David hatte seinen Arm immer noch um seinen Magen gewunden, doch Victor traute sich nicht, danach zu fragen. Beide fühlten sich elend. "Ich finde schon was. Vielleicht ist Maya Zuhause." Victor meinte sich zu erinnern, dass Maya gut eine Dreiviertelstunde weiter weg in einer anderen Stadt wohnte, und dass sie jeden Tag mit dem Zug zur Uni fuhr.
"David... bitte."
"Nein."
Er musste Tränen zurückhalten. Die Anweseheit von Victor machte ihn verrückt. Er wollte im Boden versinken, weil Victor das alles mit angesehen hatte, und ihm gleichzeitig um den Hals fallen, weil er ihn beschützt hatte. Und er wollte sich selbst schlagen, weil er beschützt werden musste. Und er wollte nach Hause, und ein richtiges Gespräch mit seiner Mutter führen. Endlich hatten sie miteinander gesprochen, und dann musste er von Zuhause weg, weil George ihn sonst womöglich umgebracht hätte.
David ließ Victors Hand los und setzte sich auf die hölzerne Bank neben dem Fahrplan. Er fuhr sich über sein Gesicht, betastete seine Wange und sein Auge, kämpfte gegen den Brechreiz, der von seinem geschundenen Magen ausging. Er fühlte sich zu überwältigt von der Welt, um bei jemandem zu sein. Auch wenn es Victor war. Er wollte allein sein.
"Ich will allein sein.", sagte er leise. Victor verstand ihn sehr gut. Auch er war nach diesem Morgen müde und aufgewühlt, er fühlte sich wund und irgendwie mürrisch, als würde ihm das bei seinen aufgewühlten Emotionen helfen. Als der Bus vorfuhr, ließ er David keine Wahl mehr. Er nahm die Tasche und hielt David seine Hand entgegen. "Du kannst auch bei mir allein sein."
Als er 20 Minuten später die Wohnungstür aufschloss, stürzte Alice aus dem Wohnzimmer in den Flur. "Scheiße, weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist? Ich hab mir Sorgen gemacht, du-" Sie verstummte, als sie sein geschwollenes Gesicht sah. "Was zur Hölle hast du angestellt?", fragte sie mit mehr Sorge als Vorwurf in der Stimme. Victor trat zur Seite und gab den Blick auf David frei, der inzwischen ganz bleich war und sich gekrümmt den Magen hielt.
Wortlos trat Alice beiseite und ließ die beiden in die Wohnung. Victor deutete David mit einem Nicken an, dass er ins Wohnzimmer gehen sollte und steuerte selbst die Küche an. Er suchte einen Eimer, Ibuprofen und ein paar Kühlakkus heraus.
David wusste nicht genau, wieso er sich übergeben musste, aber es war wohl eine Mischung aus Schmerzen von einem starken Magentritt, nach innen ablaufendem Blut aus seiner Nase und emotionalem Stress. Als Victor das Wohnzimmer betrat konnte er gerade noch rechtzeitig den Eimer in Davids Hände drücken, bevor der sein Abendessen wieder von sich gab. Victor legte seine Hand auf die Hand des jüngeren und sah Alice an. Sie spielte mit ihren Fingern. "Ich mach 'ne Suppe."
Victor ließ sich mit etwas Abstand neben David auf die Couch fallen und legte einen Kühlakku in seinen Nacken, um das Nasenbluten zu stoppen. Alice brachte zwei Gläser mit Wasser und er nahm die Schmerztablette, und fing mit einem Taschentuch das restliche Blut aus seiner Nase auf.
Nachdem er sich übergeben hatte fühlte David sich besser, aber immer noch elend. Er sah verstohlen zu Victor, dessen Auge langsam anschwoll und der aussah, als würd er jeden Moment umkippen, wenn er nicht etwas zu essen bekam, und David wäre gerne zu ihm gegangen und hätte ihn geküsst und ihm gesagt, dass alles wieder gut werden würde. Dass er da war. Und dass er ihm dankte, für alles, was er getan hatte.
Aber er schämte sich zu sehr.
Den Tag verbrachten die drei größtenteils schweigend. Alice versorgte die geräderten Jungs mit Essen und Getränken, suchte einen Film aus und setzte sich dann mit ihnen auf die Couch, um stillschweigend auf den Fernseher zu starren, aber trotzdem nicht aufzupassen.
Victor schlief irgendwann ein, und David nutzte die Chance, um näher zu ihm zu rücken und vorsichtig seine Stirn zu küssen. Victor würde niemals zugeben, dass er wach wurde und diese Geste mitbekommen hatte.
Als es dunkel wurde und bereits der 4. Film zuende war, schlief Alice ein und Victor machte den Fernseher aus. Er deckte sie zu und steckte das Handy ans Ladekabel. Dann drehte er sich zu seinem Freund um. Sie sahen sich an. "Willst du schlafen?" David zuckte mit den Schultern. Er war hundemüde, aber lieber würde er Zuhause anrufen und herausfinden, wie der Tag für Luke und seine Mutter verlaufen war.
Victor nickte und ging voraus, obwohl David natürlich wusste, wo sein Zimmer war. Dort angekommen ließ er den Jüngeren für einen Moment allein und kam dann mit der Matratze aus Alice' Bett zurück. David hatte derweilen seine Tasche geöffnet und festgestellt, dass Luke ihm nicht nur sein Handy, ein Ladekabel, ein paar Hosen und Pullis eingepackt hatte, sondern auch 30 € aus seiner Spardose und ein paar Müsliriegel reingelegt hatte. An einem der Müsliriegel hing ein Zettel, den er offensichtlich aus Davids Block gerissen hatte. Darauf stand:
Montag zur 2ten bis zur 6ten.
Dienstag - Donnerstag zur 1sten bis zur 6ten.
Freitag zur 3ten bis zur 8ten.
Schreib mir!
Luke
David musste lächeln. Sein kleiner Bruder war sehr viel klüger, als er gedacht hatte. Die Schulzeiten gaben ihm die Möglichkeit, Luke bei der Schule anzupassen und mit ihm zu sprechen, ohne dass George davon etwas erfahren würde.
Er sah auf und beobachtete Victor dabei, wie er Alice' Kissen und Decke in das Zimmer schleppte und auf der Matratze ablegte und musste daran denken, wie vor wenigen Stunden sein größtes Problem gewesen war, ob er mit Victor schlafen wollte oder nicht. Jetzt lag dieser Moment ewig entfernt, und eigentlich fand David das schade. Dieser Tag hätte der Tag sein müssen, an dem er den ganzen Tag mit einem Kribbeln im Bauch herumlief, weil er sich darüber freute, einen festen Freund zu haben, und erste sexuelle Erfahrungen gemacht zu haben. Die schönsten ersten sexuellen Erfahrungen. Liebevoll und mit viel Vertrauen und Erotik.
Stattdessen stand er in diesem dunklen Raum und fragte sich, ob er Victor ansprechen sollte, oder nicht. Er war gemein und abweisend zu Victor gewesen, und das bereute er.
Er nahm seinen Mut zusammen.
"Vic?" Victor sah auf. Er hatte gerade die Türe schließen wollen. "Soll ich auf lassen?" Aber David schüttelte den Kopf. Trotzdem brachte er kein Wort über die Lippen. Der Ältere kam zu ihm, mit einem ganz speziellen Gefühl im Magen. Er streckte ihm eine Hand entgegen. Dankbar nahm David sie an. "Es tut mir leid." Erlegte seine Stirn an Victors und schloss die Augen, als würde das seine Entschuldigung verstärken. Vielleicht tat es das auch.
"Heute hätte ein schöner Tag werden sollen.", meinte Victor und David stimmte zu. "Hab ich auch gerade gedacht." Er hielt es nicht mehr aus und schlang seine Arme um Victors Oberkörper. Beide atmeten tief ein und aus, als hätten sie den ganzen Tag die Luft angehalten und wären erst jetzt dazu gekommen, ihre Lungen wieder zu füllen.
Victor löste die Umarung auf, um David zu küssen. "Das war der beschissenste Tag seit langem.", sagte er dann und David stimmte halbherzig zu. Er ließ sich von Victor den Hoodie ausziehen und lächelte, als er ein paar Küsse auf seinem Brustkorb verteilte. Dann bekam er ein Schlafoberteil gereicht, das ihm viel zu groß war, weil es eigentlich schon an Victor locker saß. Auch Victor zog sich um. Als er zu seiner Boxershorts kam, sah er kurz zu David, aber der kramte gerade in seiner Tasche. Also beeilte Victor sich.
David konzentrierte sich auf seine Tasche, als Victor sich umzog, und versuchte, zu allem Übel nicht auch noch rot dabei zu werden. Ernüchternd stellte er fest, dass Luke ihm weder Socken, noch Boxershorts eingepackt hatte. "Ähm...", er räusperte sich, um anzukündigen, dass er nun zu Victor schauen würde, doch der war schon fertig und warf seine Boxershorts, die immer noch versaut war von der vergangenen Nacht, auf seinen "Wäsche-Haufen". Dann sah er zu David. "Luke hat meine Unterwäsche vergessen.", brachte der hervor. Victor schmunzelte und warf ihm dann eine frische Unterhose aus seiner Kommode zu, die er mit Alice erst vor kurzem wieder befüllt hatte. Jetzt hatten seine Klamotten einen festen Platz.
David bekam eine Zahnbürste, die die Geschwister noch vorrätig hatten, und schließlich löschte Victor das Licht. Ein Rascheln ging durch den dunklen Raum. David drehte sich auf seiner Matratze einige male von einer Seite zur anderen, aber schlussendlich entschied er sich dann doch anders.
Victor hatte nervös darauf gewartet, das er zu ihm ins Bett kam. Als er dann hörte, wie der Jüngere aufstand, hob er erleichtert eine Seite der Decke an. David warf das Kissen neben seinen Kopf und schlüpfte unter die Decke. Er sah Victor an und musste lächeln. "Gute Nacht."
"Morgen wird besser. Ich verspreche es dir."
David küsste Victor.
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Ähm... ich setze dann mal die Update-Read-Zahl auf 50 hoch...
Ihr seid verdammt schnell in letzter Zeit :)
Lasst mir eure Gedanken, Wünsche, Spekulationen und natürlich auch Kritik gerne in den Kommentaren!
AOF
PS: Wattpad verhaut mir in letzter Zeit die Formatierung und macht Absätze wo eigentlich keine sind. Dabei gehen manchmal auch Buchstaben verloren. Ich weiß nicht wie ich das korrigieren kann, denn solange das Kapitel online bleibt, bleiben die komischen Fehler auch also... falls bei euch das Kapitel komisch zerrupft aussieht dann ist das nicht meine Schuld :/
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