13 - Die Kleidungsfrage
"Was ist denn?" Genervt kam Alice in Victors Zimmer, der alle seine Klamotten vor sich auf dem Bett ausgebreitet hatte. Ein sehr großes Repertoire hatte er nicht, aber selbst mit den wenigen Kleidungsstücken, die vor ihm lagen, wusste er nichts anzufangen. Zwei ausgewaschene, graue Jeans mit Löchern und einige schwarze Longsleeves, dann noch ältere T-Shirts und Hemden, die er aus einem Karton gekramt hatte, aber die nicht mehr so richtig saßen und ein paar Einzelstücke aus der untersten Ecke der Wäschekörbe.
Victor drehte sich seiner Schwester zu, die Arme vor der Brust verschränkt, der Blick kritisch. "Ich hab nichts zum Anziehen." Belustigt zog Alice eine Augenbraue hoch. "Da liegt doch ne ganze Menge." Ungeduldig verwies Victor auf die Kleidung auf dem Bett: "Ja, aber nichts passt zusammen." Sie kam zu ihm ins Zimmer, plötzlich mit sehr viel besserer Laune als zuvor. "Ich dachte, Schwule hätten ein Händchen für Mode.", sagte sie nebenbei und begutachtete die Klamottenhaufen am Rand des Bettes.
"Ich bin nicht schwul, ich bin bi. Außerdem gibt es auch Schwule, die sich gar nicht damit auskennen. Vor ein paar Monaten bin ich mit einem Typen im Bett gelandet, der-"
"Okay, ich unterbreche dich mal hier." Alice hatte ihre Hände gehoben und sich wieder zu ihm umgedreht. "Erstens: Nur, weil ich jetzt viel gechillter mit dem ganzen Kram bin, heißt das nicht, dass ich mir deine Sexgeschichten anhören will. Das ist eklig und erinnert mich an meine Einsamkeit." Sie seufzte kurz. "Und zweitens: Solche Sachen streichst du lieber gleich von deiner Gesprächsliste, bevor du bei David auftauchst." Ernst ließ Victor sich auf seinen nun leeren Klamottenstuhl fallen. "Richtig, das kommt bestimmt nicht gut. Worüber soll ich überhaupt reden? Ich meine, dieses ganze Kennenlernen-Zeug fällt doch weg: Wohnsituation Familie, Job... das weiß er ja alles schon. Und ich weiß das von ihm."
Alice hatte einige Oberteile in den Armen und betrachtete abwägend die Hosen, die sich nur in kleinen Details unterschieden. Sie drehte sich nicht mal zu Victor um. "Vic, das ganze hättet ihr sowieso in 10 Minuten abgeklappert. Jetzt geht es um eure Interessen, ob ihr Gemeinsamkeiten habt und sowas. Eigentlich habt ihr doch die besten Voraussetzungen für solche Gesprächsthemen: So ein Körpertausch ist bestimmt der absolute Eisbrecher." Sie lachte ein wenig, und Victor lächelte kopfschüttelnd. "Ich war noch nie nervös vor sowas. Fühlt sich beschissen an." Sie zuckte mit den Schultern und warf ein Oberteil auf den Boden, das offensichtlich aus dem Rennen war. "Ich schätze das ist normal, wenn man verliebt ist."
Sofort stand Victor auf und drehte Alice an der Schulter zu sich. "Hey! Das ist nicht wahr! Ich bin... interessiert. Nicht verliebt." Sie schüttelte seine Hand ab und warf ihm ein Oberteil gegen die Brust, das er nur mit Mühe fing. "Wenn du das sagst. Aber interessiert warst du bestimmt auch an deinen ganzen One Night Stands." Mürrisch setzte er sich wieder auf den Stuhl. "Ich sollte absagen."
"Spinnst du?"
"Was willst du, ist doch wohl meine Entscheidung."
"Ähm, aber sie ist beschissen. Du kneifst definitiv nicht."
Victor vergrub sein Gesicht in seinen Händen, die Ellenbogen auf seinen Knien abgestützt. Dabei fuhren seine Finger unweigerlich durch seine Haare, und ihm fiel auf, wie lang sie geworden waren. Er hätte sie nochmal schneiden sollen.
"Hier, das wird gut sein." Alice drehte sich um und Victor hob den Kopf. In ihren Händen hielt sie eine schwarze Hose ohne Löcher und ein dunkelblaues T-Shirt, beides aus dem Stapel von den Wäschekörben.
---
David hatte sich bestimmt schon vier Mal umgezogen, aber schlussendlich fiel sein Blick trotzdem immer wieder auf den hellilanen Hoodie, der seit drei Wochen auf seiner Kommode lag. Victor hatte ihn angezogen, an dem Tag, als die beiden zurückgetauscht hatten, und seither hatte David ihn nicht mehr angerührt. Fast bildete er sich ein, dass Victors Geruch an dem Kleidungsstück hing, was natürlich totaler Quatsch war. Und trotzdem sah er immer wieder dort hin.
"David Liebling?" Erschrocken zuckte David zusammen, als seine Mutter plötzlich im Türrahmen stand. "Mum! Kannst du nicht anklopfen?" Sie ignoriert seine Beschwerde völlig. "Du siehst ja chic aus. Hast du was besonderes vor?" David gestikulierte kurz und verneinte dann schwach. "... nein...?" Seine Mum zog die Augenbrauen zusammen. Er seufzte. "Was wolltest du?"
Mit wenigen Schritten hatte sie die Distanz zu ihm überwunden und legte eine Hand auf seine Schulter, ganz anders, als sie es sonst tat. Er spürte ihre Anspannung. Für einen Moment vergaß er seine Kleidung und das bevorstehende Date. "Ich wollte nur..." Einen Augenblick lang sah sie ihm in die Augen, offen, ehrlich, verletzlich. Ein wenig traurig und reuevoll. Er spürte, wie sich die Worte in ihrem Kopf überschlugen, wie sie zu ihrem Mund drängten. Und doch fuhr sie mit einem kurzen Lächeln fort: "Ich wollte nur nach dir sehen, weiter nichts." Er nickte, mit einem misstrauischen Nachgeschmack im Mund und dem Gefühl, zum ersten Mal seit beinahe 5 Jahren ein Stück von der wahren Gefühlswelt seiner Mutter mitbekommen zu haben.
"Mir geht's gut, Mum." Sie nickte und lächelte, aber die unausgesprochenen Worte schienen sie zu quälen. "In Ordnung. Naja, dann... will ich dich nicht länger stören." Sie wandte sich zum Gehen, aber David wollte nicht, dass sie ging. Für einen Moment wollte er noch das Gefühl haben, dass sie miteinander sprachen, über das, was sie einander nie sagten.
"Warte! Was hältst du von diesem Outfit?" Sie drehte sich um und betrachtete ihn lächelnd. "Du siehst wirklich gut aus. Sie wird sicher begeistert sein." Er hätte sie verbessern können, entschied sich aber dann dagegen. Das war ein anderes Thema, für einen anderen Moment. "Mum, wenn du wegen George hier bist..." Ihr Gesichtsaudruck änderte sich völlig, und er konnte nicht mehr genau sagen ob es Angst, Wut, Trauer oder Besorgnis war, die sich darin spiegelte. Aber er wagte nicht, seinen Satz zu beenden. Stattdessen kam seine Mutter nochmal einen Schritt auf ihn zu. "Ein andermal, okay?" Er nickte. "Okay."
---
Victor wartete angespannt vor dem Restaurant, vor dem sie sich verabredet hatten. Alice hatte es ihm empfohlen, und es schien sich um eine Art Italiener zu handeln, der aber auch Burger im Angebot hatte. Aber eigentlich hatte Victor keinen Hunger. Er war nervös gewesen, doch nun war er eher von Vorfreude gefüllt. Als er David eine Woche zuvor in seinem Club getroffen hatte, war das so schön gewesen. Die Erinnerung an den genauen Gesprächsverlauf waren zwar verblasst, aber er erinnerte sich sehr gut an die Unangenehme Tatsache, dass er sehr leicht bekleidet gewesen war. Diese Situation würde ihm heute nicht passieren. Sonst war er der Typ von Mann, der darauf aus war, gleich beim ersten Treffen im Bett zu landen, aber das hier war ein richtiges, echtes Date. Victor wollte es richtig angehen. Er freute sich darauf.
David kam von weiter links angerannt. Er war außer Atem, als er vor Victor zum Stehen kam. "Es tut mir so leid, ich bin total zu spät!" Victor hob seine Mundwinkel ein wenig. "Hi." Überrascht sah David ihn an. Dann lächelte er. "Hi." Sofort fiel Victor der Hoodie auf, den David trug und deutete halb grinsend darauf. "Hab ich den nicht angehabt, an dem Tag, an dem wir zurückgetauscht haben?"
David fühlte sich ertappt und mied zur Sicherhheit mal lieber den Blickkontakt, als er antwortete: "Weiß nicht, kann sein. Ich hab da nicht so drauf geachtet." Aber Victor wusste es besser. Er grinste den Boden an und behielt für sich, wie süß er das fand.
David wollte das Thema wechseln und sah auf. "Ist das das Restaurant?" Victor hob ebenfalls den Blick. "Oh, äh, ja. Genau. Alice meinte, es wäre perfekt... naja. Ähm, wollen wir... rein gehen?" Sie brauchten kurz um zu sortieren, wer vorausgehen sollte, denn gleichzeitig passten sie nicht durch die Tür, aber als sich die Tür hinter ihnen schloss, stand die Welt auf einmal still.
.———————.——————.—————.
Lasst mir gerne eure Gedanken in den Kommentaren da :)
AOF
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro