⌛Kapitel 16⏳
Shairion
"So und jetzt bitte im Detail.", forderte Kiria und schloss ihre Augen, wohl um das goldene Leuchten zu verstecken.
"Einen Moment bitte." Shai hob eine Hand, mit der anderen rieb er sich die Schläfen. "Das ist gerade ein wenig...schwer zu verarbeiten..."
"Lass dir Zeit." Sheranion nahm seine Hand und führte ihn weiter in die uralten Höhlen hinein.
Shai wünschte, er würde wieder hinausgeführt werden.
Das war zu viel für ihn.
Er hatte eine Zwillingsschwester, die trotz sterblicher Erziehung stolz auf ihren Drachen zu sein schien.
Seine Schwester hatte merkwürdige Augen.
Nach über zehntausend Jahren war sie urplötzlich aufgetaucht.
Aber viel wichtiger war die Frage: Warum erinnerte er sich nicht?
"Shai." Sheranions leise Stimme rief ihn sanft zurück. "Du musst jetzt nicht zu viel darüber nachdenken. Du weißt, das tut dir nicht gut."
Er merkte, dass ihn etwas in die Knie gezwungen hatte.
"Es könnten die Gase der Säure sein, die ihm schaden...", vermutete Kiria.
"Oder sein Kopf denkt zu viel.", scherzte Sheranion. "In beiden Fällen sollten wir ihn woanders hinbringen."
"Das kann ich erledigen." Eine weitere Stimme ertönte.
Shai merkte, wie Kiria alarmiert in Kampfpose ging, während Sheranion ruhig blieb und der neuen Person mit einem sanften Lächeln entgegen sah.
Es war eine Elfe, so schien es zumindest, schließlich benutzten gerade alle hier sterbliche Gestalten.
Ihre Gestalt war ebenfalls thalassisch und erfrischenderweise waren keinerlei drachische Merkmale zu sehen.
Ihr Gesicht war schmaler als Kirias, doch bei näherem Hinsehen konnte man merken, wie identisch die beiden Mienen sich waren.
Sogar die Hautfarbe schien sich zu ähneln, auffällig waren die helleren Flecken, an denen Schuppen gesessen haben mussten.
Ihr Lächeln erinnerte Shai an Kiria.
Und tatsächlich schienen sie sich zu kennen.
Kiria beruhigte sich und ging zu der Elfe, die sogar ein thalassisches Hexenmeistergewand trug. Dunkelvioletter Leinenstoff mit dicken und dunkleren Rändern, auf die goldene Verzierungen gestickt worden waren.
Die beiden umarmten sich.
"Ich weiß nicht, ob ich dir sagen sollte, wer sie ist..." Sheranion rieb sich nervös den Nacken. "Aber sie hat Kiria aufgezogen."
"Also meine Mutter.", schlussfolgerte Shai und sah seinen 'Zieh'vater herausfordernd an. "Und du bist gar nicht nur mein Ziehvater, hab ich recht?"
Nach langem Zögern nickte Sheranion.
"Ich wusste anfangs nicht, wer deine Mutter ist...", gab er zu. "Und als ich es dann wusste, warst du schon in dem Alter, in dem ich dich verscheucht hätte. Vielleicht sogar ins Jenseits."
"Du sagst, du wusstest nicht, mit wem du mich gezeugt hast?", fragte Shai ungläubig.
"Das ist nicht besser als zu sagen, du erinnerst dich nicht an deine eigene Schwester.", konterte Sheranion. "Onia hat Kiria einfach mit sich genommen, während ich dich weggebracht habe. Dann ist sie verschwunden. Wir haben uns erst vor kurzem wiedergetroffen."
Shai schwieg und musterte die Drachin, die gerade mit Kiria sprach.
Das war also seine Mutter.
Und seine Schwester.
Und sein Vater...
"Wenn ich bitte zurück nach Dalaran dürfte...", murmelte Shai, griff nach seinem Ruhestein und wollte sich gerade teleportieren, als er merkte, dass dem Stein gar keine magische Kraft innewohnte.
Seufzend rappelte er sich auf und ging zurück zu dem Wassertunnel.
Jetzt musste er also fliegen...
Und dämlicherweise beherrschte er die Halbtransformation nicht.
Das hieß: Vollverwandlung in seine wahre Gestalt, die er so verabscheute.
"Warte, ich komm mit!" Kiria kam zu ihm gelaufen.
"Bitte nicht...", stöhnte Shai und vollzog seine Verwandlung so schnell es ging, um der mitunter quirligen Drachin zu entkommen.
Stichwort: Drachin.
Innerhalb von Nanosekunden hatte sie alles sterbliche hinter sich gelassen und genau wie Shai wenig später auch den Hort.
Draußen konnte er endlich wieder durchatmen, ohne in die Erinnerungen an die Geschehnisse in seinem Hort denken zu müssen, auch wenn seine Drachengestalt Erinnerung genug war.
"Du kannst mich nicht abhängen, lahme Nuss!", lachte Kiria ihm zu und drehte ein paar Loopings in der Luft und um ihn herum.
Es erinnerte ihn ein wenig an das Ritual, das bei den Aspekten und ihren Gefährten vollzogen wurde.
Dabei bestand es darin - so hatte Korialstrasz es ihm erzählt - dass der Gefährte dem Aspekt mit gefährlichen und wagemutigen wie auch beeindruckenden Flugmanövern seine Stärke beweisen musste.
Korialstrasz hatte es geschafft.
"Was guckst du so grimmig?", trällerte ihm Kiria ins Ohr und sauste dann so nah vor ihm vorbei, dass seine Flügel für ein paar Sekunden aussetzten.
Erst kurz vor dem Boden merkte er, dass er fiel.
Und wieder wurde er im letzten Moment gerettet.
Kiria fing ihn gerade noch so auf.
Sie landeten erstmal und verwandelten sich zurück.
Der Zufall wollte es, dass sie bei den Wasserfällen von Fal'adora landeten.
Augenblicklich musste Shai an Shinaris denken.
"Wohin gehst du?" Kiria hielt seinen Arm fest, doch er riss sich los und sprang die drei Meter in das Gewässer unter ihm. "Shai?"
"Komm einfach.", rief er zu ihr hoch, was die Drachin dazu brachte wieder die groteske Mischung aus Elfe und Drachin anzunehmen und dann zu ihm nach unten zu fliegen.
"Sag mir bitte erst, was du hier willst. Fal'adora ist voll von..." Sie unterbrach sich selbst, als mehrere Geräusche hinter dem Gebäude ertönten. "...Verdorrten, Banshees, Geistern und, noch schlimmer, den Fal'dorei."
"Wegen genau letzteren bin ich hier.", grinste Shai.
Er glaubte es selbst nicht, aber seine kindliche Abenteuerlust, die er vor zehntausendelf Jahren jeden Tag verspürt hatte, kehrte offenbar zurück.
Fal'adora war anders, und das machte ihn neugierig.
"Du bist verrückt! Die bringen dich in Null Komma Nix um!", protestierte Kiria so leise es ging.
"Dafür müssen sie mich erstmal sehen." Mit einem leisen Lachen verschmolz Shai mit den Schatten und Kiria tat es ihm nach.
Gemeinsam schlichen sie um das altbekannte runde Gebäude herum und dann hinein.
Dort fand Shai den ersten Schock vor: Geister von den Priesterinnen von Fal'adora.
Er erinnerte sich, dass ein paar von ihnen, die er tatsächlich kannte, unter den Verseuchten gewesen waren.
Offenbar hatten sie keine Ruhe gefunden.
Shinaris konnte er allerdings nicht entdecken und das betrübte und erfreute ihn gleichermaßen.
"Weiter, Shai, die Fal'dorei sind in den Katakomben.", wisperte ihm Kiria zu.
"Ich weiß.", erwiderte er genauso leise und ging weiter.
Die uralte Treppe hinunter in die noch älteren Katakomben hinein, weiter und weiter in das Labyrinth, tiefer unter die Erde...bis sie ein Loch im Boden fanden, hinter dem sich ein kristallübersähter Tunnel in wässrige Gefilde zog.
Dort lagen die Fal'dorei.
Oder eher ihre Leichen.
"Du willst da nicht rein, Shai, oder etwa doch?", stellte Kiria die unnötige Frage, als er den von den türkisen Kristallen beleuchteten Tunnel betrat.
Sichtbar.
Kiria beunruhigte das offenbar, doch auch sie ließ ihre Schatten fallen und ging neben ihm her.
Mehr als offensichtlich streckte sie ihre Sinne aus, denn die Kristalle leuchteten ab und an heller, als würden sie kommunizieren.
Und das taten sie.
Shai hörte ihre Stimmen auch so.
Es gäbe keinen Grund zur Sorge, sagten die Kristalle, weder die Mörder der Fal'dorei noch die Artgenossen der Getöteten wären anwesend.
Der Gedanke beruhigte Kiria.
Was Shai nicht beruhigte waren die Gesichter der getöteten Fal'dorei.
Gealtert und mutiert waren ihre Körper, dennoch erkannte er jeden einzelnen.
Einer von den Toten war ein Flüsterer gewesen.
Eine andere...Hohepriesterin.
Shai sank langsam neben der Leiche auf die Knie.
Shinaris Gesicht war trotz allem noch so, wie er sie in Erinnerung hatte.
Sanfte, zarte Züge.
Lange weiche Haare, weiß mit einem violett-blauen Schimmer darin.
Ihre Haut war violett, aber dunkler seit dem Zeitpunkt, an dem sie ihn hatte gehen lassen.
Shai hatte erwartet, in ihrem toten Gesicht die typische Wut oder andere verzerrte Gefühle der wahnsinnigen Fal'dorei zu finden, doch statt einer Grimasse fand er die Shinaris, wie sie aussah, wenn sie weinte.
Doch die Tränen der ehemaligen Hohepriesterin waren schon lange getrocknet und ihr Körper lange kalt...
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro