Kapitel 82
Ich erwachte erst als es bereits dämmerte. Noch im Versuch mich aufzurichten, dröhnte mein Kopf so stark, dass ich mich mit einem Stöhnen wieder fallen ließ.
Octavia, die hübsche Fae mit der auffällig schönen Gesichtsbemalung reichte mir eine Tasse.
„Danke." Ich räusperte mich. „Was ist das?", fragte ich als ich den heißen Dampf einatmete.
„Es heißt Kaffee. Hilft mir nach einer durchgefeierten Nacht immer." Sie zwinkerte mir zu, während auch Livian und zwei andere Fae langsam ihre Augen aufschlugen. „Wenn du magst, kannst du einen Schuss Hafermilch haben, dann ist es nicht mehr so stark." Sie grinste, während sie mein Gesicht sah.
„Danke, das wäre toll."
Wenig später hatten sich meine Kopfschmerzen so weit beruhigt, dass ich aufrecht sitzen und den anderen bei ihrer Unterhaltung zuhören konnte. Ich überprüfte den Schild, den ich um mich geworfen hatte, damit mich niemand so einfach aufspüren konnte, als es klopfte.
„Belle, ich weiß, dass du da drin bist." Rouven. Ich rollte mit den Augen und erhob mich schwerfällig.
„Du brauchst einfach mehr Übung. Dann ist es auch nicht mehr so schlimm." Livian grinste und Octavia nickte zustimmend. Ich rollte mit den Augen und die Tatsache, dass dies allein reichte, um meine Kopfschmerzen zu verstärken, sagte alles.
Ich öffnete die Tür. „Wie hast du...", begann ich. Doch er unterbrach mich und hielt mir einen Brief vor die Nase.
„Wir haben Nachricht aus Avalea bekommen. Deine Tante hat endlich auf unsere Briefe geantwortet."
„Das ist... merkwürdig." Stirnrunzelnd begann ich zu lesen.
„Ganz meiner Meinung."
„Sie sagt, sie hätte keine Möglichkeit uns zu unterstützen. Nicht mal eine Einheit könnte sie entbehren?" Ich schnaubte. Das letzte Fünkchen Hoffnung zerfiel zu einem Körnchen Staub. Und eine Ahnung, wo ich mehr Informationen finden könnte, ergriff mich. „Warte kurz", bat ich Rouven.
„Ich muss gehen", sagte ich, nachdem ich die Tür geschlossen hatte. Ich leerte meine Tasse und sammelte die Spangen zusammen, die Runa für meine Frisur benötigt hatte. Sie würde mich umbringen, wenn ich sie nicht zurückbrachte. „Danke für die Nacht und das ich hier schlafen konnte. Wenn ich zurück bin..." Mir fehlten plötzlich die Worte.
„Besuch uns einfach, wenn du Lust auf eine Feier hast, die mit dem Morgengrauen erst richtig beginnt!" Livian zwinkerte mir zu.
„Du kannst gerne wieder herkommen." Octavia erwiderte mein schiefes Grinsen und die beiden anderen Fae nickten mir kurz zu.
„Ich danke euch", wiederholte ich mich und verließ das Haus. Die Nacht war auf eine besondere Art seltsam gewesen. Denn ich war weder Prinzessin noch Assassinin gewesen. Für sie war ich einfach nur Belle.
Im Turm angekommen ging ich direkt zu meinem Nachttisch und holte das hölzerne Kästchen hervor. Sobald ich es öffnete, erstrahlten die Erinnerungsperlen in ihrem milchig weißen Licht. Drei waren es und eine davon hatte ich mir angesehen, nachdem ich Vaughn gestanden hatte, dass es mein eigener Pfeil war, der mich in König Aurins Saal fast umgebracht hatte. Es war eine Erinnerung an meine Mutter und mich gewesen, wie wir Blumen auf einer Wiese pflückten. Etwas alltägliches, aber dennoch hatte der Anblick ihres Lächelns mir sehr gutgetan.
Bei genauem Hinsehen schimmerte die mittlere Kugel etwas dunkler als die anderen beiden. Ganz sachte berührte ich sie mit meinem Zeigefinger.
Ganz anders als die erste Erinnerung war diese nicht klar und deutlich. Ich sah nur verschwommene Silhouetten und hörte leicht verzerrte Stimmen, dennoch erkannte ich meine Mutter sofort. Sie stritten und meine Mutter fragte immer wieder: „Wie ist sie in deinen Besitz gelangt?"
Es rauschte, doch dann war die andere Stimme klarer. „Spielt keine Rolle. Sie hat mir gezeigt, dass der König von Alejandra eine gute Wahl für dich wäre. In Alhambrien und Andalesien wirst du keine Gelegenheit haben Königin zu werden und dann kannst du mir nicht helfen. Wir brauchen zwei Königreiche, um auch nur den Hauch einer Chance zu haben."
Das Rauschen wurde lauter und die Stimmen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
„Bist du sicher?" Das war meine Mutter.
„Ja, bin ich", antwortete die andere Stimme. Helena. Meine Tante. Eisige Kälte breitete sich in mir aus. Ihre Schwester, die sie zu Phineas in den Tod schickte und sie auf schrecklichste hinterging.
Die Erinnerung endete. Ich klappte das Kästchen zu, erstattete Rouven Bericht und begann dann mich auf die Abreise bei Morgengrauen vorzubereiten. Ich schärfte meine Klingen, ritt noch einmal mit Les aus und holte die Rüstung ab, die ich in der Stadt in Auftrag gegeben hatte.
Der Abschied von Keno und Okku fiel mir besonders schwer und als mich bei meiner Rückkehr Arya erwartete, hatte ich Mühe die Tränen zurückzuhalten.
„Du schaffst das. Verstanden?", flüsterte sie und drückte mich noch fester. Ich nickte nur und hielt sie fest. „Und ich halte hier die Stellung."
„Ich werde dich vermissen", gab ich leise zu.
„Ich dich auch, Belle." Sie löste sich von mir. „Ich möchte, dass du den hier nimmst." Sie nahm meine Hand und stecke einen Ring an meinen kleinen Finger. „Du hast ihn mir mal zum Geburtstag geschenkt. Wer weiß, wo du ihn herhattest, aber jetzt möchte ich, dass du ihn bei dir hast, bist du zurückkommst."
Ich lachte leise und betrachtete den dunkelblauen Stein. Eine alte Erinnerung durchzuckte mein Bewusstsein. Ich wusste genau, wo ich den herhatte. „Du kriegst ihn zurück," versprach ich.
Als die ersten Sonnenstrahlen sich ihren Weg über die Berge erkämpften und Calea mit einem goldenen Schimmer überzogen, ließ ich den Blick über die Stadt schweifen. Von diesem Balkon aus hatte ich sie das erste Mal wahrgenommen, in der Nacht, nachdem ich meinen Geist vollständig befreit hatte und mir klar wurde, dass ich einige der Verbrechen, die ich mir anlastete, nicht begangen hatte. Als Osmium mir zeigte, dass er kein Ursprung meiner Fantasie war. Der Nacht, in der Vaughn sich bei mir entschuldigte. Diese Nacht hatte so viel verändert und seitdem war unfassbar viel passiert. Es fühlte sich richtig an, sich hier von dieser Stadt zu verabschieden. Hier, wo alles begonnen hatte.
Mein Blick wanderte über das Wasser des Flusses. Wie ein glänzendes Band floss die Elthea durch die Stadt. Ich dachte daran, wie ich wenige Tage danach von hier flüchten wollte und Vaughn mir gefolgt war. Wie ich Les das erste Mal wiedergesehen hatte. Nach all den Jahren und der ewigen Ungewissheit. Immer mehr Bewohner strömten wie geschäftige kleine Krabbeltiere zu den Ufern, Brücken und Plätzen, die direkt am Flussufer gelegen waren.
„Hier seid Ihr."
„Runa!" Ich lächelte sie an. „Wie schön, dass ich mich doch noch von dir verabschieden kann. Vor Allem wollte ich dir danken. Du hast dich von Anfang an um mich gekümmert. Dabei..."
Sie unterbrach mich. „Ihr hattet es verdient, Prinzessin. Ihr wart nur ein junges Mädchen. Standet unter der Gewalt dieses Tyrannen." Sie verzog verächtlich das Gesicht. Dann musterte sie mich eingehend. „Aber das seid ihr jetzt nicht mehr. Ich habe die Königin gesehen, die Ihr später sein werdet. Ihr seid gütig, weitsichtig, intelligent und vor allem gerecht. Ich glaube an Euch, so wie viele andere auch und genau deshalb werdet ihr es schaffen." Sie hielt meine Hände fest in ihren und sah mich aufmerksam an. „Wenn ich Euch einen Rat geben darf, dann urteilt nicht zu schnell über Ihn. Hört Euch an, was Er zu seiner Verteidigung zu sagen hat."
„Ich danke dir. Für alles."
„Alle haben Angst. Es wäre auch töricht keine zu haben. Jeder weiß, was drüben auf deinem Kontinent geschieht, wie schlecht es um Alejandra steht und bald auch um Alhambrien, aber manche Kriege lohnen sich zu kämpfen. Grundsätzlich gibt es bei Kriegen keinen Gewinner, nur Verlierer, aber dies ist keiner davon. Ihr müsst gewinnen. Für uns alle. Hoffnung allein schlägt keine Schlachten, aber sie kann das Blatt wenden. Vergesst das nie."
„Werde ich nicht." Ich drückte noch einmal ihre Hände. „Es wird Zeit. Ich muss zu Les."
„Ich glaube an Euch, Prinzessin."
Ich lächelte, machte mit der flachen Hand an meinem Kinn das Zeichen für danke und eilte zu den Stallungen. Meine Sachen wurden schon an Bord eines der Schiffe gebracht, lediglich einen kleinen Beutel hatte ich hier deponiert.
Die Stallungen waren so gut wie leer, ebenso Alessandros Box. Ich verdrehte die Augen und verließ den Stall in Richtung des Waldes.
„Da will wohl jemand noch mal seine Freiheit auskosten, was? Les, ich brauche dich." Ich lauschte, hörte jedoch nur das Rascheln der Blätter und keinen donnernden Hufschlag. Erneut rief ich ihn, dieses Mal in Gedanken und machte mich dann auf den Rückweg.
Kurz bevor die Stallungen wieder in Sicht kamen, erfüllte ein Rauschen die Luft und ich dachte an Azra, die mit ihrer Legion erst in ein paar Tagen starten würde, da sie das tückische Meer sehr viel schneller überfliegen würden, als wir mit den Schiffen voran kommen würden.
Doch es war nicht der riesige Greifvogel, der vor mir landete. Es war niemand anderes als Les. Schnaubend sah er mich an. Na, beeindruckt?, schien er zu sagen. Mir klappte die Kinnlade runter. Les hatte Flügel! Zwei wunderschöne, riesige, pechschwarze Flügel.
Les schickte mir ein Bild von einer Puppe, der die Augen aus dem Kopf fielen und dann einen Mann, der sich den Bauch hielt vor Lachen. „Du!", begann ich und zeigte anklagend auf den schwarzen Hengst. „Ich fasse es nicht! Und du machst dich auch noch über mich lustig." Er schnaubte mir ins Gesicht und ich vergrub kurzerhand mein Gesicht in seiner Mähne.
„Die sind echt schön, Les!" Bewundernd sah ich mir die Flügel genauer an. „Weißt du, wenn dir jetzt noch ein Horn wächst, lasse ich Plüschtiere von dir anfertigen und verschenke die an kleine Kinder."
Les prustete empört und ich lachte leise. „Wir werden sicherlich erwartet."
Vor mir erschien ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, dass sich auf ein Holzpferd schwang. „Na gut, dann mal los." Kaum saß ich, da stürmte er los und schwang sich nach ein paar Sprüngen in die Luft.
„Das darf doch nicht wahr sein!" Ich jauchzte vor Freunde und Les machte übermütig ein paar Luftsprünge. „Die werden Augen machen!", flüsterte ich ihm über das Rauschen des Windes hinweg zu. Er zeigte mir das Bild von einem Stadtplan. Ich lachte. „Wieso wundert mich das nicht?"
Es dauerte nicht lange bis man auf uns aufmerksam wurde. Darauf, dass das kein Vogel war, der da über die Stadt flog. In Azralon waren Flügel schon immer heilig gewesen und damals, als das Reich noch vereint war, gab es sogar Fae, die über mächtige Schwingen verfügten. Seit über 500 Jahren war nun kein Baby mit Schwingen mehr geboren und so wurden geflügelte Wesen mit der Zeit immer mehr verehrt. Les flog etwas tiefer, als er einen kleinen Jungen auf einer Dachterrasse sah, dem vor Staunen der Mund ganz weit offenstand.
„Ja, du brauchst es mir nicht zeigen. Ich habe gerade sicherlich nicht anders ausgesehen." Es folgte ein Bild eines uralten Faes, der wissend den Kopf nickte.
Wir näherten uns der Elthea und damit den größeren Mengen der Bevölkerung. Der Hauptteil der Armee war bereits auf dem Landweg auf dem Weg zur Küste Arubiens, wo wir uns treffen würden, um gemeinsam die dort anlegenden Kriegsschiffe zu besteigen.
Erstaunte Rufe und spitze Schreie ertönten und Les flog noch eine extra Runde, bevor wir auf dem Marktplatz des blauen Viertels landeten. Direkt vor Vaughn. Danke, Les! Wie überaus freundlich von dir. Seine schwarzblauen Augen funkelten genugtuend.
„Überraschung", verkündete ich und sprang von Les Rücken.
Vaughn schmunzelte. „Die Legenden sind also wahr."
„Sieht ganz so aus", erwiderte ich gelassen und steuerte auf Coilin zu. Les sonnte sich noch etwas in der Bewunderung der Umstehenden, dann folgte er mir.
Wir bestiegen das erste der zwanzig mittelgroßen Schiffe. Unterwegs würden sich uns noch einige von den Ausläufern der Elthea anschließen. Ich begrüßte den Kapitän, der direkt an der Reling stand und eine knappe Verbeugung andeutete. Laut Plan würden wir gegen Abend die Küste Arubiens erreichen und bestenfalls weitere zwei Tage später Alejandrien. Ich streckte den Rücken durch und erhob den Kopf. Les stupste mich an. Ja, dachte ich mir. Jetzt gibt es kein zurück. In wenigen Tagen wird sich alles verändern. Hoffentlich zum Guten.
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Ich bereite die Tage auch die Aesthetics für TLP vor und bin jetzt schon super gespannt, wie ihr sie finden werdet💛
Wünsche euch noch einen schönen Abend 🤍
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