Kapitel 2
Toni
Ich verlasse die Bar, in der ich arbeite, und sofort umhüllt mich die frische Dezemberluft. Den riesigen Schal, der nicht nur meinen Hals wärmt, sondern auch großteils meinen Oberkörper, ziehe ich eng um mich.
Warum habe ich mich dazu entschieden, heute zu Fuß zu gehen?
Die Straße ist für eine Großstadt, ausnahmsweise kaum befahren. Anscheinend sind die meisten Menschen in den Gebäuden der Stadt verteilt, da es recht kalt ist, um sich dort aufzuwärmen. Die Stille ist angenehm, weil ich den ganzen Abend in der Bar gearbeitet habe und es relativ laut war. Es ist eine regelrechte Erholung für meine Ohren. Das Einzige, was zu hören ist, sind meine leisen, aber regelmäßigen Schritte auf dem Bürgersteig. Ich wohne nicht weit entfernt von meinem Arbeitsplatz, weshalb ich nach knappen zehn Minuten vor dem Apartment stehe, indem ich lebe.
Erschöpft lasse ich den Schlüssel in die Tür gleiten und drehe ihn im Schloss herum. Als ich die Tür öffne, weht mir der vertraute Geruch meines Zuhauses entgegen. Dieser Duft gibt mir Sicherheit und in meinem Bauch breitet sich ein warmes und geborgenes Gefühl aus. Ich atme ihn tief ein und gehe einen Schritt in den Flur, wo ich schon die Sachen von Ben auf dem Boden verteilt erkenne. Er hat es mal wieder nicht für wichtig gehalten, seine Jacke zur Abwechslung an den dafür vorgesehenen Haken zu hängen.
Ben ist nicht nur mein Mitbewohner, er ist mein Freund, mein Verbündeter, mein Geliebter und mein Gefährte. Wir sind noch nicht allzu lange ein Paar, um genau zu sein, erst seit einem knappen Jahr. Dennoch haben wir uns recht schnell dafür entschieden, zusammenzuziehen.
Als ich mir die Schuhe von den Füßen streife, höre ich ein seltsames Geräusch. Es hört sich wie ein Brummen an, das nur von Ben kommen kann. Neugierig schleiche ich mit leisen Schritten in Richtung Wohnzimmer. Ich lasse meinen Blick schweifen, aber im Wohnraum ist nichts zu sehen. Daraufhin schaue ich weiter zur Küche. Sie ist offen und ein warmes, schummriges Licht erhellt diese. Dann endlich entdecke ich Ben.
Er lehnt an der großen Kücheninsel und stützt sich mit beiden Händen hinter sich auf der Arbeitsplatte ab. Sein Rücken ist zu mir gewandt und er scheint mich nicht bemerkt zu haben. Ich möchte mich gerade erkennbar geben, da gibt er erneut diesen komischen Laut von sich. Seinen Kopf lässt er in den Nacken fallen. Ich bleibe wie versteinert stehen und versuche zu realisieren, was da vor meinen Augen passiert. In meinem Innern macht sich ein mulmiges Gefühl breit. Mein Herz schlägt mir schmerzhaft bis zum Hals.
Bitte, lass es nicht das sein, was ich vermute!
Ben rührt sich schlagartig und beugt sich nach vorn. Da erkenne ich es. Er packt eine Frau bei den Hüften und setzt sie auf die gegenüberliegende Theke ab, während sie sich leidenschaftlich küssen. Seine Hose ist offen. Sie hängt ihm locker über den Hintern, ehe er mit einer festen Bewegung in sie stößt. Da bekommt das Sprichwort 'ich traue meinen Augen nicht' eine richtige Bedeutung, denn ich traue meinen Augen buchstäblich nicht. Ich kann es sehen. Es passiert direkt vor mir, aber die Bilder wollen mein Gehirn nicht erreichen. Es ist wie ein schlechter Traum, aus dem ich nicht erwache. Wie ein Film, der sich vor mir abspielt, jedoch nicht echt ist. Ich erwarte nahezu, dass jemand hinter der Tür vorspringt und »Cut« ruft. Doch das geschieht nicht, stattdessen packt Ben diese Frau wieder und legt sie mit dem Rücken auf der Kücheninsel ab. Genau in dem Moment bemerkt er mich. Unsere Blicke treffen sich und er verharrt augenblicklich in seiner Bewegung.
Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, die wir uns nur anstarren und keiner etwas sagt. Mein Atem stoppt gänzlich. Mein Herz überschlägt sich holprig in meiner Brust. Ben rückt unmittelbar von der Frau ab, die ich nicht kenne, aber welche dennoch hier in meinem Zuhause verweilt. Ben räuspert sich, während er seine Kleidung hektisch richtet.
»Toni ... es tut mir leid! Ich kann dir das erklären!« Ernsthaft? Das bezweifle ich sehr stark!
Mein Hirn rattert, sucht nach einer Antwort, aber mir fallen keine Worte ein. Ich versuche, es zu verstehen, rational zu denken, doch es gelingt mir einfach nicht.
Ich muss hier weg!
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, laufe ich zurück in den Flur. Ich ziehe mir meine Schuhe an, ehe ich das Apartment verlasse, welches ich mein Zuhause nannte, ohne zu wissen, was da überhaupt alles hinter meinem Rücken passiert. Als mich die kalte Luft abermals umschlingt, erreichen die Bilder endlich mein Gehirn und somit auch mein Herz. Ich spüre einen tiefen Schmerz in meiner Brust, als der Damm bricht und meinen Tränen freien Lauf lässt. Ich gehe zu meinem Auto und setze mich umgehend hinein. Mein Kopf sinkt auf das Lenkrad, während ein verzweifeltes Schluchzen meinen Lippen entkommt.
Warum hat er das getan?
Es gibt eine Menge, was ich Ben am liebsten vorwerfen möchte. Ich will ihn anschreien, ihm denselben Schmerz fühlen lassen, wie er mir und zu gern würde ich einfach um mich schlagen. Ich verspüre nicht mal unbedingt Trauer, es ist nur Wut, weil er mir das angetan hat und ich ihm vertraut habe! Wut, weil er mich belogen und betrogen hat und ich blöd genug war, ihn zu lieben! Ben hat mir binnen Sekunden alles genommen, was ich besessen habe! Meine Hoffnung, meine Zuversicht, mein Herz und mein Zuhause, das auch meine Sicherheit war. Ich schlage mit der Hand auf mein Lenkrad und schreie all meinen Frust heraus und hoffe, dass der Schmerz in der Brust vergeht. Dass er, wie die Laute aus meinem Mund, meinen Körper verlässt.
Die Zeit heilt alle Wunden!
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