Kapitel 47
[Ein richtiger Tripe]
~Und die Dinge, die man dafür tut~
„Ich mag sie", sagte Caamis als es nur noch sie und Casmiel in der gigantischen Halle waren. Sie (eigentlich war es nur Casmiel gewesen) hatten aufgeräumt, als auch alle anderen Tripes sich verabschiedet hatten und Casmiel die Arbeit hinterließen. Er fand es nicht allzu schlimm. Schließlich hatte er sowieso nicht geplant, schlafen zu können.
Die Arbeit tat ihm gut. Sie ließ ihn die Fehler vergessen, die er während des Dinners gemacht hatte. Ließ ihn vergessen, dass er beinahe zu weit gegangen war. Das er beinahe die Linie übertreten hatte, die er sich selbst geschaffen hatte.
Caamis war währenddessen stumm sitzengeblieben und hatte dabei zugesehen. Sie hatten kein Wort gewechselt. Das war bei Caamis auch nicht wirklich nötig. Hätte Casmiel auch nur daran gedacht, ein Gespräch zu führen, würde Caami bereits wissen, wie es verlaufen würde. Er hatte auch nicht wirklich das Bedürfnis weiterhin irgendwelchen Manipulationsfallen auszuweichen und sich nach jedem Schritt zu fragen, ob er denn das richtige gemacht hatte.
Nun jedoch hatte Caamis das Gespräch gestartet. Mit einem äußerst verwirrenden Satz noch dazu. Deshalb wandte sich Casmiel zu ihnen um und legte den Kopf leicht schief, während ein leichtes Lächeln seine Lippen zierte.
„Meine Familie? Ich bitte dich."
„Nein," antwortete Caamis nur amüsiert schnaubend, die Beine vom Tisch baumeln lassend und zu der Türe sehend, „Aspen. Oder hast du schon einmal erlebt, wie jemand den Tripes den Mittelfinger gezeigt hat, während dieselbe Person auch noch eine Flasche verdammt starken Whiskey ext? Also ich noch nicht und das muss was bedeuten."
Casmiel dachte darüber nach. Für wahr, Asp war etwas besonderes.
„Nein. Das habe ich noch nie erlebt. Ich hatte erwartet der Erste zu sein, der es wagen würde, überhaupt etwas gegen sie zu sagen."
„Aber du liebst sie nicht?"
„Ich liebe sie, wie ich einen Menschen nur lieben kann. Doch mein Herz gehört nicht ihr."
„Ach bitte. Hör auf so theatralisch zu sein. Sag doch einfach, dass du unglaublich gay bist."
Casmiel schüttelte nur lachend den Kopf, als Caami diese Aussage tätigte.
„Unglaublich gay? So würdest du mich also bezeichnen?"
„Hast du dich mal gesehen? Also, jetzt vielleicht weniger. Aber deine langen Haare hatten etwas extrem sapphisches. Kurz dachte ich, du würdest doch zum Lesbentum konvertieren. Doch hier bist du, verliebt in einen Mann. Eine miserable Wahl, wenn du mich fragst. Aspen scheint besser zu sein als dieser Kerl!"
„Ich liebe ihn."
„Er ist ein Mann."
„Ändert nichts an der Tatsache, dass ich ihn liebe."
„Schön," meinte Caamis und sprang vom Tisch runter. Sie winkte Casmiel zu und ging zur Tür. „Ist mir egal. Ich bin dann mal in meinem Zimmer. Hoffentlich hast du nichts dagegen, wenn ich deines nehme? Gut. Ich nehme das als ein Ja."
Die Tür schloss sich hinter ihnen und Casmiel blieb alleine in dem Saal zurück.
Er hatte weiter die Teller gestapelt und das Besteck bereitgelegt, sodass die Diener den Rest erledigen konnten. Er hätte es schneller erledigen können, hätte er gewollt. Doch er wusste sowieso nicht, was er tun sollte, nachdem er hier fertig wurde.
Er musste es nicht entscheiden, die Entscheidung kam zu ihm.
Die Türe öffneten sich erneut. Caamis war vor ungefähr zwei Stunden schlafen gegangen. Es war drei Uhr morgens. Also schon spät. Er rechnete mit Aspen, oder einem seiner Onkel und Taten, möglicherweise ein Cousin, doch stattdessen stand dort ein kleiner, verschlafener Junge.
Kaum älter als sieben. Mit einer fragil-wirkenden Figur. Zusammengekauert. Eingezogene Schultern, gebückter Kopf. Überraschung machte sich auf seinem runden Gesicht breit und er zuckte leicht zusammen, als hätte er Angst vor etwas. Oder jemandem.
Casmiel hielt inne und sah den Jungen an. Er wartete auf eine Reaktion, doch der Kleine starrte ihn einfach nur an, als wäre er eingefroren.
„Ist alles in Ordnung?" fragte Casmiel und durchforstete sein Gehirn. Wenn man sich einen gesamten Stammbaum von mehreren Generationen merken musste, die alle mit den Initialen A und C benannt wurden, kam man schnell durcheinander.
Doch da klingelte es. Chrysant Constantinios. Sohn von Chrysovalandis Alastor. Enkel von Astaia. Casmiel wollte gar nicht wissen, welche Horrorgeschichten der Kleine schon über ihn gehört hatte.
„Entschuldigen Sie, Sir Casmiel. Ich- ich gehe wieder." Entschuldigte sich Chrysant schnell und wollte die Türe wieder schließen, doch Casmiel hob seine Hand und ließ ihn damit zuckend innehalten.
„Warte." Er ging auf den Jungen zu, behielt jedoch einen angenehmen, sicheren Abstand zu ihm. Man durfte von keinem Tripe denken, dass er normal war. Vor allem nicht von einem Erstgeborenen. Chrysant war vermutlich der Erbe. Möglicherweise würde er das einzige Kind bleiben, vielleicht ein Geschwisterchen bekommen, sollte er sich als unwürdig erweisen. Noch war dies schwer zu erkennen, vor allem da Casmiel Chrysovalandis' Methoden des perfektionierten Zerfalls nicht kannte. Doch was er erkannte, war, dass Chrysant einen aufmerksamen Blick trug, seine Augen misstrauisch über seine Gestalt schweifen ließ und er bereit war, wegzurennen, sollte die Situation eskalieren.
Casmiel kannte das.
Er kannte die gebückte Haltung. Den falschen Respekt, den man selbst nicht ganz nachvollziehen konnte. Er verstand die Angst und Sorge, die in ihrem hochkrochen und das Bewegen zu einer Sünde machten. Er kannte alles und das war falsch.
Wenn man an sich selbst dachte, gab es selten ein Falsch. Dieses Falsch kam erst, wenn man andere sah, die in derselben Situation leiden mussten. So wie Casmiel und Chrysant es taten.
Es war nicht komplett exakt. Natürlich nicht. Charon hatte seine eigenen perfektionierten Experimente an Casmiel versucht. Sie waren nicht innerhalb der Traditionen. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass Casmiel Chrysant kannte, so wie Chrysant eines Tages ihn kennen würde.
Es hatte etwas beängstigendes, so bekannt zu sein. Offen, wie ein Buch. Nicht verschlüsselt, nicht aus tausenden Umschlägen zu bestehen, tausenden nichtssagenden Bildern, die zur Schönheit dienten, nicht dem Nutzen. Nur der Manipulation. Ungewissheit.
Chrysant blieb stehen. Er blieb einen Moment leise, entschloss sich danach jedoch, dass er seiner Lehre folgen sollte und es seine Pflicht war, dem Hausherren und derzeitigem Oberhauptserben zu gehorchen und seine Fragen zu beantworten.
„Ich- es ist nichts, Sir. Ich wollte mir lediglich ein Glas Wasser holen," antwortete Chrysant zögerlich und wollte die Türe schließen, damit rechnend, dass es den älteren Tripe nicht weiter kümmern würde, was ein dummes Kind, wie er es war, aus dem Bett getrieben hatte, doch Casmiel war noch nicht fertig.
„Das war eine Lüge." Erkannte Casmiel amüsiert und legte den Kopf leicht schief, um den Jungen zu mustern. „Und nenn mich nicht Sir. Ich bin dein Onkel. Casmiel reicht vollkommen. Meine Freunde nennen mich auch Cas, doch ich vermute, dir würde es nicht sonderlich behagen, mich so zu nennen."
Er nahm einen der an den Tisch geschobenen Stühle und deutete darauf.
„Setz dich. Ich bringe dir dein Wasser."
Chrysant nahm das Angebot misstrauisch an, mehr unfreiwillig als aus anderen Motivationen. Er zupfte nervös an seinen Fingernägeln herum und tappte mit seinen Füßen in einem Takt mit, während Casmiel ihm ein sauberes Glas mit frischem Wasser füllte, dass er dem Jungen dann auf den Tisch abstellte.
Erst dann zog sich Casmiel einen eigenen Stuhl heran und setzte sich zu dem Jüngeren.
Onkel. Es war wirklich seltsam so etwas in dem Leben eines anderen zu sein, vor allem da Casmiel sich nicht bereit fühlte, ein Onkel zu sein. Er vergaß immer wieder, wie alt er eigentlich schon war. Sich seinen Dreißigern nähernd, mit gefährlich großen Schritten. Drei Jahre noch. Dann wäre es so weit.
Er hatte nicht einmal damit gerechnet, älter als zehn zu werden. Geschweige denn die Arena oder die Rebellion zu überleben. Er hatte damit gerechnet nur ein weiterer erbärmlicher Grabstein auf einem weiteren erbärmlichen Friedhof zu werden, wie ihn alle seine anderen Rebellionsmitglieder bekommen hatten, da Casmiel ihnen eine würdige, letzte Ruhe bieten wollte.
Er hatte erwartet, dass sein Ableben bald erfolgen würde. Mit jedem Tag war er bereiter dafür geworden, nie hatte er auch nur daran gedacht, dass er jemals das Alter erreichen könnte, in dem sein Vater ein Großvater sein sollte. Doch hier war er. Verliebt in einen Mann. Der Erbe der Tripes. Ohne seinen Vater.
Casmiel war davon überzeugt, dass er niemals ein sonderlich guter Vater sein könnte. Er war Gift. Trug Gift in sich. Gab Gift weiter. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Kind ebenso vergiftet werden würde, wie er es war. Er konnte sich nicht vorstellen, jemals besser zu sein, als sein Vater.
Deshalb wollte er keine Kinder. Niemals. Er wollte kein Leben in die Welt setzen, dass dazu bestimmt war, einen Fluch zu tragen. Ein Kind, dass die Schmerzen nicht verdient hatte, dem es unterzogen werden musste, wenn Casmiel den Traditionen folgte, was er tun müsste.
Vielleicht war der Tod deshalb nie wirklich abschreckend gewesen. Die Alternative wirkte schlimmer.
Irgendwann wäre Casmiel verheiratet worden an eine Frau. Sie hätten zusammen ein Kind bekommen. Eine unglückliche Ehe geführt. Sich gegenseitig zerstört. Sich selbst zerstört. Ihr Kind zerstört. Denn das schien die Essenz der Perfektion zu sein. Die Essenz des Lebens. Zerstörung.
Das Opfer wird zum Täter. Vor allem wenn das Opfer es nie anders gelernt hatte. Generation über Generation. Seele über Seele. Tripe über Tripe. Sie alle hatten nur zwei simple Optionen. Zerstören oder sterben.
So saßen sie also da. Wissend, dass sie beide Opfer waren. Bereit, Täter zu sein.
„Also. Was verschafft mir tatsächlich die Ehre deines Besuches? Es ist drei Uhr nachts, du solltest eigentlich schlafen," meinte Casmiel nur sanft lächelnd. Er hatte keine Ahnung von Kindern, vor allem da das hier kein gewöhnliches Kind war. Doch er gab sich Mühe.
„Wieso bist du noch wach?" fragte Chrysant zurück, senkte jedoch sofort seinen Blick und kniff die Augen zusammen. „Entschuldigen Sie, Sir. Das war unhöflich von mir." Wisperte er anhängend noch, doch Casmiel schüttelte nur den Kopf. Die Ohrringe an seinen Ohren klimperten dabei leicht.
„Müsste ich mich jedes Mal entschuldigen, wenn ich eine schnippische Antwort gegeben habe, dann wäre ich noch immer nicht fertig. Glaub mir, es sammelt sich so einiges an, wenn man ein absolutes Arschloch ist," meinte er lachend und entlockte damit sogar Chrysant ein kleines Lächeln, dass seine geschwungenen Lippen streifte, jedoch sofort wieder verebbte.
Schweigen trat wieder ein. Casmiel wartete geduldig. Er würde zuhören, jedoch keine Antwort erzwingen.
„Ich...ich hatte einen Alptraum." Sagte Chrysant schließlich leise, sich noch kleiner machend, als würde er sich verstecken wollen, „Nichts besonderes also. Aber ich konnte nicht wieder einschlafen also...bin ich herumgewandert. Ich werde einfach wieder ins Bett gehen und das ganze vergessen. So wie Papa immer sagt."
Casmiel sah Chrysant nur an und nickte verständnisvoll.
„Das kann ich verstehen. Es vergeht kaum eine Nacht, in der ich nicht davon aufwache. Ich würde dir gerne sagen, dass es vorbei geht, doch das wird es nicht. Wenn du Glück hast, erbst du die Gene deines Vaters und man kann dir die Augenringe nicht mehr ansehen. Übertreib es aber nicht. Fünf Tage. Danach wird dein Körper automatisch abschalten und du wirst unvorsichtig. Und selbst das ist erst durch langes Training möglich. Nutzte und schätze den Schlaf, den du bekommst und trauere den verlorenen Stunden nicht allzu lange nach. Sie werden vergehen. Ein neuer Tag bricht an. Du wirst weitermachen," antwortete Casmiel ruhig. Chrysant sah langsam auf.
„Das ist sehr persönlich...wieso erzählst du es mir also?" fragte er wieder distanzierter, als würde er eine Falle erwarten. Keine Überraschung. Casmiels Erzählung war eine Schwäche. Eine Schwäche, die er freiwillig weitergegeben hatte. Man könnte sie also gegen ihn verwenden.
„Du hast mir dein Problem genannt, ich dir meines. Wir sind also quitt bis das nächste Problem kommt, dass in solchen Nächten gerne über die Lippen fließt. Also. Ein Schlagabtausch der Zerstörung. Welch wunderschöne Tragödie," seine Worte klangen sarkastisch und er schnaubte nur amüsiert, als wäre dieser Fakt seines Lebens nichts weiter als ein schlechter Witz.
Chrysant nickte nur stumm. Er wirkte weniger angespannt. Natürlich war seine Haltung nicht vollkommen normal. Noch immer streckte er seinen Rücken, wagte es nicht, sich anzulehnen und hob seinen Kopf nur etwas zu hoch. Noch immer umklammerten seine Hände das Glas und noch immer waren seine Augen so unglaublich müde. Doch jede noch so kleine Veränderung in seiner Position sah Casmiel als etwas positives.
„Wieso scheint die ganze Familie dich zu hassen? Ich habe nur schlechtes von dir gehört, aber du scheinst nicht wirklich...böse zu sein?" Chrysant ließ seine Beobachtung eher wie eine Frage klingen, nicht wie eine Feststellung. Casmiel hatte vermutet, dass er definitiv nichts gutes von ihm gehört hatte. Götter, er kannte seine Familie doch. Sie konditionierten ihre Kinder vermutlich, ihn als Feind zu sehen und irgendwann zu Fall zu bringen.
„Das Konzept von Gut und Böse ist absoluter Schwachsinn. Dir wird ein Schwarz-Weiß-Denken beigebracht, damit du dich nicht gegen jene stellst, die sich selbst in das Licht der Guten stellen, obwohl sie die Dunkelheit selbst sind. Sie blenden dich. Simple Manipulation. Aber das weißt du vermutlich alles schon. Du bist intelligent und bekommst mehr mit, als man dir zutraut. Um ganz ehrlich zu sein, deine Eltern scheinen selbst nicht gerade die hellsten Leuchten auf dem glorreichen Kronleuchter des tripe'schen Stammbaumes. Damit hast du es wohl noch härter als ich. Mein Vater hatte wenigstens ein paar Gehirnzellen, die er für mich opfern konnte," meinte Casmiel nur amüsiert schnaubend und auch Chrysant lachte etwas, bevor er verstummte und sich ängstlich umsah.
Casmiel bemerkte das natürlich. Es war schmerzhaft, wie viel er bemerkte. Jedes Zucken, Tapsen und unterdrückte Gähnen. Jede noch so kleine Regung, die zeigte, wie viel dieses Kind schon hinter sich hatte. Mehr, als er jemals erleben hätte sollen.
„Hey, keine Sorge. Ich habe extra ein paar Schlafpillen in den Bordeaux gemischt. Wie großartig ein teurer Wein doch ist, wenn man jemandem Drogen untermischen will. Tja, sie werden dich nicht so schnell wieder stören. Aufwachen, ja. Aber erst am Morgen. Ich achte auf korrekte Dosierung," meinte er beruhigend und auch wenn Chrysant erst so wirkte, als lägen ihm tausende Fragen auf der Zunge, akzeptierte er es schnell und schwieg.
Casmiel ließ das Schweigen geschehen. Chrysant wirkte noch nicht bereit dafür zu sein, ein weiteres Gespräch zu führen. Casmiel verstand das. Ein Gespräch war immer mit Gefahren verbunden. Ein Tanz, der jedoch von tausenden Beinen sabotiert wurde. Eine Falle. Ein Todestango.
Casmiel wollte Chrysant Kontrolle geben. Kontrolle über das nächste Gespräch. Das gewählte Thema. Kontrolle darüber, ob er die Dunkelheit nutzen würde, oder sie beiseite schieben würde für eine andere Nacht, einen anderen Tag, einen anderen Moment, in dem er sich jemandem anvertrauen würde.
Casmiel kannte solche Nächte. Nächte, in denen er nicht die Kontrolle darüber hatte, welche Themen er ansprach und welche nicht. Nächte, in denen sein Geist aufgab, sich hinter Mauern zu verstecken.
Casmiel hatte diese Nächste gehasst. Oh, wie er sie gehasst hat. Jedes Wort, dass über seine Lippen geflossen ist, hat er verschmäht. Er hat sie bereut, sich Nächte lang deswegen herumgewälzt und sich gefragt, was jetzt. Was würde sein Gegenüber mit diesem Wissen anfangen? Wie würde es für ihn enden? Wie würde seine Zukunft aussehen?
Er hatte sich Pläne bereitgestellt, Pässe gefälscht, Flugtickets erworben, seine Sachen gepackt und war sogar gegangen. Er war durch dunkle Gassen gewandert, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Er hatte sich verabschiedet. Er hatte einen Schlussstrich gezogen.
Irgendwann war er wieder umgekehrt. Hatte die Flüge storniert. Die Pässe versteckt. Seine Sachen weggeräumt und hatte sich wieder in seine Hängematte gelegt, um nachzudenken. Und zu denken. Und zu denken. Und zu denken.
Bis die ersten Strahlen des neuen Morgens angebrochen waren und er zu viel zu tun gehabt hatte, um weiterhin nachzudenken. Bis er wieder eine Aufgabe gehabt hatte. Einen Grund, zu bleiben. Einen Grund immer wieder umzukehren, obwohl er bereit war, zu fliehen.
Er hatte die Rebellion nie verlassen. Er war kurz davor gewesen, sehr oft sogar, doch er hatte es nie weiter geschafft, als bis zum Flughafen, wo er dabei zugesehen hatte, wie das Flugzeug abgehoben war, ohne ihn an Bord.
Ja, er kannte diese Nächte. Er kannte die Sicherheit, die die Dunkelheit einem gab und die Geheimnisse, die man nur zu gerne in die Schatten schrie. Ja, er kannte es.
Doch vielleicht sollte Chrysant diese Nächte noch nicht so kennenlernen, wie er es tat.
„Es ist spät," meinte er deswegen und sah auf die Uhr. Vier Uhr morgens. Er würde heute nicht mehr schlafen gehen. „Wenn deine Eltern erfahren, dass ich dich die ganze Nacht mit Geschichten gefüttert habe, dann werden sie einen Exorzisten beauftragen, dich zu heiligen und die bösen Geister des Dämons Casmiel auszutreiben. Diese Prozedur erspare ich dir lieber. Komm, ich bring dich ins Bett," meinte Cas nur locker und nickte in Richtung der Zimmer, die im zweiten Stock lagen.
Chrysants Blick fiel ebenfalls auf die Uhr und er nickte, noch immer kein Wort sagend. Casmiel bezweifelte, dass er noch wirklich schlafen würde, doch er bemerkte, wie seine Spannung gefallen war. Wie seine Schultern mehr nach unten hingen, sein Kopf etwas weniger versteckt lag und wie ein Schmunzeln seine Lippen kräuselte.
Dadurch, dass Cas die Zimmerpläne gemacht hatte, wusste er ganz genau, in welchem Zimmer Chrysant übernachtete und er brachte ihn dorthin. Ohne das Licht einzuschalten oder die knarzenden Dielen der Flure zu benutzen schlichen sie gemeinsam in das Zimmer und schlossen lautlos die Türe hinter sich, sodass niemand aufwachen würde. Reine Gewohnheit.
Chrysant legte sich in sein Bett und Casmiel nickte ihm zu. Mehr nicht. Es brauchte kein „Gute Nacht" oder einen Gruß zum Abschied. Beiden war bewusst, dass gute Nächte nur selten kamen. Wenn überhaupt jemals. Eine gute Nacht war nicht für die Tripes vorhergesehen. Selbst in ihren Träumen herrschte ständiger Krieg. Ständige Zerstörung.
Gerade wollte Casmiel die Türe noch einmal öffnen und gehen, als Chrysant ihn aufhielt:
„Casmiel?" fragte er leise, nur ein Flüstern, doch Cas drehte sich um und wartete noch, die Hand bereits auf dem Knauf platziert.
„Du bist kein schlechter Mensch, wie meine Eltern gesagt haben. Du bist eigentlich echt cool. Wenn ich wirklich ein richtiger Tripe werden soll, wie sie immer sagen, dann will ich so werden wie du. Ich will gut sein. Nicht zerstören."
Casmiel lächelte. Er konnte gar nicht anders als zu lächeln.
„Du bist auch echt cool, Chrys. Und ich bin mir sicher, dass du irgendwann einmal gut sein wirst. Wir bestimmen unsere Zukunft selbst. Du bist immer bei mir willkommen, wenn du etwas brauchst. Immer."
Mit diesen Worten ließ Casmiel das Zimmer zurück, schloss die Türe genauso lautlos, wie er sie geöffnet hatte und konnte die Tränen nicht mehr aufhalten, die in seinen Augen aufwallten. Er schlug sich eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen abzuhalten und zitterte leicht.
Ein guter Mensch. Ein richtiger Tripe. Ein Retter.
Ja, er wollte auch gut sein, wenn er erwachsen wurde.
Irgendwann.
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