Kapitel Zwölf: alte Zeiten
N A T H A N I E L
Meine Augen weiten sich, als Averys Frage bei mir ankommt. Alles in mir krampft sich zusammen, während ich die Luft anhalte, weil ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll. Irgendwie hätte ich es wissen müssen, dass meine beste Freundin zwischen den Zeilen lesen kann und somit voll ins Schwarze trifft. Trotzdem hätte ich niemals gedacht, dass sie ihre Koffer packt und mich suchen wird. Aber sie ist wirklich hier bei mir und versucht zu erfahren, was es alles damit auf sich hat.
Ich kann mich glücklich schätzen, einen solchen Menschen in meinem Leben kennengelernt zu haben. Jemanden so lange nicht zu sehen, aber trotzdem alles tut, um zu sehen, wie es um dich steht. Das ist nicht selbstverständlich und zeigt nur, dass unsere tiefe Bindung vieles durchmachen kann, ohne dass sie dabei zerstört wird.
Aber wie soll ich ihr sagen, was genau in meinem Leben vor sich geht? Wie soll ich ihr das erklären, ohne sie weiter zu verletzen? Meine Angst ist enorm und eigentlich dachte ich bis zu diesem Zeitpunkt, dass es besser wäre, wenn ich den Mund halte. Aber ist es wirklich die bessere Entscheidung, einen der wichtigsten Menschen in meinem Leben weiter anzulügen?
Nein, das glaube ich nicht. Und vielleicht war es das Schicksal, dass uns wieder für eine kurze Zeitspanne zusammengeführt hat. Wir sollten jeden Augenblick davon genießen, bevor es zu spät ist. Und wenn ich an all diese Unterlagen in meinem Wohnzimmer denke, dann graut es mir vor der Zukunft. Ich habe wirklich Angst. Große Angst.
Auch wenn wir uns so lange nicht gesehen haben, hat sich nie etwas an der Tatsache geändert, dass sie mir ultrawichtig ist. Und wenn ich ehrlich bin, hätte sie zuerst nach dem Warum fragen können, jedoch hat sich Avery mehr für mein Wohlbefinden interessiert, was mich sehr berührt und zeigt, dass sie mich ebenfalls vermisst hat.
Ihr ist es wichtiger zu wissen, was bei mir los ist, als der Fakt, weshalb ich den Kontakt abgebrochen habe. Auch wenn ich weiß, dass ihr diese Frage zu jeder Zeit im Kopf herumschwirrt. Trotzdem hält sie sich zurück und ich bin neugierig, wie lange sie durchhalten wird. Es wird nicht einfach sein, wenn ich ihr das alles erzähle, da ich mir denken kann, dass ihre Eltern nie ein Wort ihr gegenüber erwähnt haben.
Ich weiß noch, wie ihre Eltern sie in allem unterstützt haben. Wie sie meine beste Freundin ein bisschen zu sehr unter Druck setzten, sodass sie sich mehr als einmal bei mir ausgeheult hat.
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»Gib das zurück, Nathaniel!«, schreit sie mich an, während sie mich gleichzeitig mit großen Augen ansieht.
Avery hat ihre Taktik geändert und versucht, mit ihrem Hundeblick mich zu ködern. Aber keine Chance. Diese Chips-Packung habe ich mir verdient. Nicht einmal meine beste Freundin kann etwas daran ändern, egal, wie sehr sie schmollt und alles tut, damit sie den Snack vernaschen kann.
»Du hast doch deine Schokolade bereits verputzt, Avery. Also wieso sollte ich dir dann etwas abgeben, wenn du mir nicht mal ein Stück angeboten hast?«, will ich mit einer hochgezogener Augenbraue wissen.
Ich weiß gar nicht, wohin dieses ganzes Essen verschwindet. Avery ist so klein und zierlich. Außerdem verabscheut sie Sport. Es ist mir immer wieder ein Rätsel, dass ich vermutlich nie in meinem Leben lösen werde.
»Aber ich brauche es! Es ist gerade alles so stressig, sodass ich die ganze Zeit futtern könnte.«
Verwirrt runzle ich meine Stirn. Ist etwas vorgefallen, von dem ich nichts weiß? Frustessen kommt bei Avery nicht selten vor. In letzter Zeit immer häufiger, da sie nicht weiß an welches College sie gehen soll.
»Was ist los?«, hake ich ernst nach und greife nach ihrer Hand, um sie sanft zu drücken.
Mit hängenden Schultern wirft sie sich in meine Arme und schlingt fest ihre Hände um meinen Oberkörper. »Sie nerven«, murmelt sie leise in meiner Halsbeuge.
»Wer denn?«
»Meine Eltern.« Laut seufzt sie auf, bevor sich meine beste Freundin wieder aufrichtet und mich mit einem müden Blick ansieht. »Sie drängen mich zu Sachen, die ich nicht will. Allen voran mein Dad kapiert nicht, dass ich am liebsten an diese Musikschule gehen möchte. Er will jedoch nichts davon wissen.«
Ein loderndes Feuer bildet sich in meinem Magen. Die Wut, die ich gegen ihren Vater hege, schlucke ich herunter, weil das nicht der richtige Zeitpunkt ist. Ich muss für meine beste Freundin da sein und ruhig bleiben. Was einfacher gesagt ist, als getan.
»Du entscheidest, was du in Zukunft tun willst. Nicht deine Eltern. Aber dafür hast du noch ein Jahr Zeit, Avery. Lass dich nicht zu etwas drängen und überlege dir genau, was du machen möchtest. Und bis dahin - genieße dein Highschool leben. Diese Zeit ist viel zu wertvoll, als sich jetzt mit solchen Dingen auseinanderzusetzen.«
Eindringlich mustere ich sie. Sie soll wissen, wie Ernst ich das alles meine. Freundschaftlich reiche ich ihr die Chips-Packung, damit ich ihr mit dieser Geste ein Lächeln ins Gesicht zaubern kann.
Ein kleiner Erfolg und erster Schritt, der mir gelungen ist, da Avery mich anstrahlt, als hätte sie im Lotto gewonnen.
»Wie wäre es, wenn wir sie teilen?«
°°○°°
Blinzelnd komme ich wieder in die Realität zurück. Mein langes Schweigen scheint meine beste Freundin verwirrt zu haben, weshalb ich schnell meinen Mund öffne.
»In diesem Moment geht es mir gut, Avery«, antworte ich vage und hole tief Luft, die meine Lungen bitter nötig haben.
Mir ist klar, dass sie auch hier wieder heraushören kann, dass ich nur die halbe Wahrheit erzähle. Aber ich brauche einen Moment, um mich darauf vorzubereiten, die Bombe hochgehen zu lassen. Es wird sie schockieren und verletzen, weshalb ich es noch ein wenig länger hinauszögern möchte, damit ich sie ein wenig schützen kann. Auch wenn das eher Wunschdenken ist. Egal, wann dieses Geheimnis offenbart wird, es wird in einer Katastrophe enden.
»Sag mal, wie lange bleibst du eigentlich in Lewisburg? Und wie genau hast du mich gefunden?«, wechsle ich das Thema und blicke kurz zu ihr rüber.
Die kleine Hexe hebt ihre Augenbraue in die Höhe, weil sie genau weiß, was ich da tue. Schulterzuckend wende ich mich wieder dem Sonnenuntergang zu. Ich finde es erstaunlich, dass wir beide nie mit dieser Tradition aufgehört haben. Dieses Ritual ist so stark in mir verankert, dass ich gar nicht anders kann. Und es sieht so aus, als würde es meiner kleinen Hexe in dieser Sache gleich gehen.
Im Augenwinkel kann ich erkennen, wie Avery die Lippen ein wenig vorschiebt, was mir ein kleines Lächeln auf die Lippen zaubert. Meine beste Freundin schmollt und sieht dabei richtig niedlich aus.
Sie muss sich leider noch ein wenig gedulden, bevor ich unsere Wiedersehens-Blase in die Luft sprenge.
»Ehrlich gesagt, habe ich mir zwei Wochen freigenommen. Also, ich muss in nächster Zeit nicht im Büro erscheinen, da ich alles am Laptop erledigen kann und es egal ist, wo ich mich gerade befinde«, kurz holt sie tief Luft, bevor sie fortfährt. »Und was dich betrifft, hat mir Connor geholfen.«
Wer ist Connor? Mein Blick wandert automatisch zu ihrer linken Hand, mit der sie fest die Kaffeetasse umschlossen hält, als mir ein kleiner und zierlicher Diamantring ins Auge springt. Er funkelt mich regelrecht an, weshalb ich mich wundere, dass ich ihn vorher nicht bemerkt habe.
Oh.
Avery ist verlobt.
»Dein Verlobter?«, hake ich nach, um sicher zu sein. Zaghaft nickt sie mir zu und lächelt mich dabei schüchtern an, als sie ihren Kopf zu mir dreht, um mir in die Augen sehen zu können. »Ja, mein Verlobter.«
Auf meinem Gesicht bildet sich ebenfalls ein Lächeln, weil ich mich für meine beste Freundin freue. Es tut gut zu hören, dass sie jemanden gefunden hat, der sie glücklich macht und für sie da ist. Das hat sie verdient und irgendwie fällt eine Last von meinen Schultern, da sie nicht allein ist. Vor allem nicht, wenn sie hört, wie es um mich steht.
»Wie ist er denn so?«, hake ich neugierig nach. »Du musst nicht darauf antworten, wenn du nicht willst«, füge ich noch hinzu und rudere damit wieder zurück. Verdammt, irgendwie ist es schwierig für mich, weil ich nicht abschätzen kann, ob ich sie solche Dinge überhaupt fragen darf.
»Zerbrich dir nicht den Kopf, Nathaniel. Du kannst mich alles fragen, was dir auf dem Herzen liegt. So wie ich es ebenfalls tue.« Mit ihrem Daumen streichelt sie mir zärtlich über den Handrücken, um mir ein wenig der Nervosität zu nehmen. Und ich muss sagen, es funktioniert. Eine einfache Berührung und ich kann wieder atmen. »Connor ist toll. Er ist mein Ruhepol, wenn ich mal wieder kurz vor dem Durchdrehen bin. Er ist ein toller Zuhörer und das wichtigste, er unterstützt mich, wo er nur kann.«
Ein verträumter Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht, als sie von ihrem Verlobten erzählt. Es macht mich verdammt glücklich, weil ich dieses Strahlen in ihren Augen wieder sehen kann.
»Das hört sich nach einem guten Kerl an. Und er hat dir wirklich geholfen, um mich zu finden? Immerhin bin ich ein Mann, auch wenn wir uns nie auf diese Weise nahe standen.«
Auf keinen Fall möchte ich, dass sie meinetwegen Probleme bekommt. Falls es so wäre, würde ich sie wieder nach Hause schicken, weil ich nicht der Grund sein möchte, dass so eine Beziehung in die Brüche geht. Und wenn wir ehrlich sind, könnte ich Connor verstehen. Es gibt noch immer diese Vorurteile, dass eine solche Freundschaft nicht funktionieren könnte. Aber Avery und ich waren immer der Beweis, dass es möglich ist. Trotzdem haben das viele Menschen in unserem Umkreis nicht verstanden.
»Ja, er hat mit mir zusammen die Adressen herausgesucht. Er weiß, wie wichtig du mir bist, auch nach all dieser Zeit, Nathaniel. Und er möchte dich irgendwann mal kennenlernen.« Verlegen streicht sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Tut mir leid, falls es noch zu früh ist.«
Leise lache ich auf. »Wie war das? Du kannst alles sagen, was dir auf dem Herzen liegt. Das gilt auch für dich. Und ich würde ihn ebenfalls gerne kennenlernen«, beschwichtige ich sie.
Plötzlich hellt sich ihr Gesicht auf, als wäre ihr eine richtig gute Idee eingefallen. Fehlt nur noch die glühende Birne auf ihrem Kopf. Erwartungsvoll hebe ich meine Augenbraue in die Höhe, während ich die Tasse an meine Lippen setze, um einen Schluck Kaffee zu trinken.
»Wie wäre es mit einem Frage-Spiel?«
»Wie meinst du das?«, frage ich neugierig nach, nachdem ich die leere Tasse auf den Boden abstelle. Avery tut es mir gleich, was mich die Stirn runzeln lässt. »Vielleicht sollte ich einen Tisch für hier draußen besorgen«, murmle ich leise vor mich hin.
»Hey! Konzentriere dich. Der Tisch ist egal, Nathaniel«, erwidert sie lachend und schlägt mir leicht auf den Arm. Ihre Reaktion entlockt mir ein kleines Schmunzeln. Ich habe vergessen, wie gut ihr Gehör ist, wie von einer Fledermaus. Dieser kleinen Hexe entgeht auch wirklich nichts.
»Tut mir leid. Was für ein Spiel meinst du?«, entschuldige ich mich sofort und richte mich auf.
»Wie wäre es, wenn wir uns zehn Fragen stellen, auf die wir ehrlich antworten müssen. Vielleicht brechen wir so das Eis zwischen uns, weil wir uns irgendwie recht unbeholfen anstellen.«
Kurz denke ich über ihren Vorschlag nach. Das könnte tatsächlich funktionieren. »Geht klar. Aber lass uns erst den Sonnenuntergang ansehen, bevor wir uns ganz auf dieses Spiel fokussieren.«
Mit einem Nicken stimmt meine beste Freundin mir zu. Gleichzeitig wenden wir uns wieder dem faszinierendem Spektakel zu und beobachten, wie sich dieser Tag dem Ende zuneigt.
So wie in den alten Zeiten, als noch alles anders war.
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