Kapitel Zwei: beste Freunde
N A T H A N I E L
Mit einem tiefen Seufzer lehne ich mich zurück, nachdem ich die Papiere auf die andere Seite des Tisches schiebe. Heute Abend will ich mich nicht mehr darum kümmern oder mir den Kopf zerbrechen. Dafür werde ich in den nächsten Wochen noch Zeit finden. Aber in diesem Augenblick fühle ich mich zu ausgelaugt, um noch irgendetwas durchzulesen oder auszufüllen.
Mein Blick wandert durch das Wohnzimmer, während im Hintergrund der Fernseher an ist und irgendeine Komödie wiedergibt. Nur habe ich keine Lust mir das anzusehen, weshalb ich lieber meine Einrichtung studiere, wenn man das so überhaupt nennen kann.
Ein leeres Regal steht links von mir, gleich neben meinem Kamin, den ich noch nie angezündet habe. Auf der anderen Seite ist eine kahle Wand zu sehen und gleich darunter eine Kommode, die ebenfalls leer ist. Mein Esstisch in der Ecke ist voll mit Dokumenten überfüllt, weil ich den nie benutze. Wenn ich Hunger bekomme, dann esse ich auf dem Sofa oder gleich stehend in der Küche.
Ich habe mich nie darum gekümmert es mir hier gemütlich zu gestalten, weil mir immer die Zeit fehlte und ich es nicht so hoch priorisiert habe. Da waren mir andere Dinge wichtiger, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann sollte ich das in den nächsten Wochen in Angriff nehmen, auch wenn diese Idee eigentlich absurd ist.
Eine schreckliche Ironie, wenn ich das so sagen darf.
Kopfschüttelnd stehe ich auf, um in die Küche zu gelangen und um mich auf andere Gedanken zu bringen. Ich will nicht darüber nachdenken. Viel zu lange habe ich mich bereits mit dem auseinandergesetzt.
Mein Blick bleibt an dem Bild kleben, das ich an meinem ersten Tag hier aufgehängt habe. Ein Foto, das mich überallhin begleitet und niemals fehlen darf. Und es ist auch das Einzige, das ich hier aufgehängt habe. Ein persönliches Andenken, was mir wirklich sehr wichtig ist.
Es zeigt Avery und mich an ihrem siebten Geburtstag. Wir beide lachen zusammen, während ihr Gesicht voll mit Buttercreme verschmiert ist. Ich habe mir den Spaß erlaubt und ihr einen kleinen Streich gespielt. Meine Rache dafür, da sie mir einige Tage vorher all meine Videospiele versteckt hat.
Avery hat es jedoch nur achselzuckend hingenommen und mir das Versteck erst einige Tage später verraten. Unsere Mütter haben sich darüber amüsiert und bloß den Kopf geschüttelt. Aber das war uns beiden egal. Ebenfalls, dass meine Videospiele weg waren, weil ich so mehr Zeit für meine beste Freundin hatte.
Ach, wie ich sie vermisse. So unfassbar sehr.
Ob sie meinen Brief erhalten hat oder ist dieser Versuch meinerseits gescheitert?
Ich würde es ihr nicht einmal übel nehmen, wenn sie ihn sofort entsorgt hätte. Das hätte ich verdient.
Erneut seufze ich tief auf. Das werde ich wohl nie erfahren. In Gedanken versunken, öffne ich den Kühlschrank und nehme mir eine Limo heraus.
Wie konnte sich alles nur so schnell ändern?
Als ich die Uhrzeit erblicke, weiten sich meine Augen schockiert. Ich hoffe doch sehr, dass ich nicht zu spät bin und es verpasst habe. Mit zügigen Schritten verlasse ich mein kleines Haus, die Limo in der Hand und nehme einen Moment später auf meiner Hollywoodschaukel Platz.
Sofort richte ich meinen Blick auf das Spektakel, das sich Sonnenuntergang nennt und beobachte mit einem traurigen Lächeln, wie sich ein erneuter Tag dem Ende nähert. Unweigerlich erscheint in meinem Kopf ein Bild von einem süßen kleinen Mädchen, das mich vom ersten Moment verzaubert hat. Ein Mädchen, welches sofort meine Aufmerksamkeit bekommen hat, als ich sie zum ersten Mal erblickt habe.
Neugierig schaue ich aus meinem Fenster und beobachte das kleine Mädchen, das in das Haus gegenüber eingezogen ist. Mit ihren braunen großen Locken und diesen runden Augen sieht sie richtig niedlich aus. Außerdem ist ihr Lächeln ansteckend und ultrasüß.
»Mama, wer ist das?«
Mit dem Finger zeige ich auf sie, während meine Nase am Fenster klebt. Bestimmt wird meine Mama wieder mit mir schimpfen, weil ich das tue. Aber ich kann nicht anders. Meine Neugier ist gigantisch.
»Wen meinst du, mein Schatz?« Mama tritt neben mich und wirft einen Blick nach draußen. »Ah, das ist die kleine Tochter von Mary und Bill Wilson. Sie sind heute hierhergezogen.«
»Ich will mit ihr spielen. Meinst du, dass sie meine Freundin sein will?«
Lachend wuschelt meine Mutter mir über den Kopf. »Na klar. Willst du sie nicht fragen, mein Schatz? Geh nach draußen und spiel mit ihr. Die Kleine wird sich bestimmt darüber freuen.«
Sofort drehe ich mich um und suche nach meinem Spielzeug. Mein Roboter darf natürlich nicht fehlen, weil der etwas ganz Besonderes für mich ist.
»Nate«, ruft meine Mama nach mir, bevor ich die Tür erreicht habe. »Ja, Mama?« »Was habe ich dir bezüglich des Fensters gesagt?« Erwartungsvoll zieht sie eine Augenbraue in die Höhe und verschränkt dabei ihre Arme vor der Brust. Verlegen lächle ich sie an und zucke dabei mit den Schultern.
»Tut mir leid, Mama. Aber ich war mal wieder zu neugierig.«
So schnell wie der Blitz flitze ich davon. Ich kann meine Mutter noch hören, jedoch verstehe ich kein Wort davon, da ich bereits zu weit weg bin. Langsam und vorsichtig nähere ich mich dem kleinen Mädchen, dessen Namen ich noch nicht kenne. Irgendwie bin ich nervös, auch wenn es keinen Grund dafür gibt. Als ich mich direkt vor ihr befinde, schaut sie zu mir auf und lächelt über das ganze Gesicht.
»Hallo«, begrüße ich sie. Auf meinem Gesicht erscheint ebenfalls ein breites Lächeln.
»Hallo.« Sie winkt mir zu.
»Wie heißt du?«, frage ich nach. »Ich bin Nate«, stelle ich mich vor.
»Ich heiße Avery.« Lachend streckt sie mir die Hand aus, die ich augenblicklich ergreife.
»Wollen wir zusammen spielen?«
»Oh ja! Willst du dich zu mir setzen?« Mit ihrer kleinen Hand klopft sie auf den Platz neben ihr. Sofort gehe ich Averys Aufforderung nach und lasse mich auf das Gras plumpsen.
Freundschaftlich reiche ich ihr ein Spielzeug. Avery schüttelt nur mit dem Kopf und zeigt auf meinen Roboter, den ich von meinem Opa geschenkt bekommen habe. Mein Mund öffnet sich, jedoch halte ich inne, als ich in ihre großen Rehaugen blicke.
»Okay, du darfst mit ihm spielen. Aber mach ihn nicht kaputt.«
»Nein, das werde ich nicht.«
Nach einer Weile blickt sie mich an. »Sind wir jetzt Freunde, Nate?«
»Klar sind wir das. Wir sind beste Freunde.«
Und so verbringen wir den ersten Nachmittag von vielen zusammen. In ihrem Garten, während wir zusammen spielen und unsere Mütter uns durch das Fenster beobachten.
Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden hinter den Häusern, als ich wieder im Hier und Jetzt ankomme. Avery hat sich vom ersten Moment an in mein Herz geschlichen. Sie hat mich sogar dazu gebracht, ihr mein Spielzeug zu schenken, auch wenn es mir unendlich viel bedeutet hat. Aber ehrlich gesagt, war ihr Lächeln es wert.
Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben, das ich in Averys Gegenwart gefühlt habe. Wir haben von der ersten Sekunde an eine Bindung zueinander gespürt, aus der eine tiefe Freundschaft entstanden ist. Leider ist meinetwegen der Kontakt abgebrochen, was ich sehr bereue. Ich will mir nicht ausmalen, wie stark ich sie verletzt habe.
Ob sie mir meinen Fehler irgendwann verzeihen wird? Ob ich meine beste Freundin jemals wiedersehe?
Ich bezweifle das stark. Avery weiß nicht, wo ich wohne und ich bin ein zu großer Feigling, um mich direkt bei ihr zu melden. Vielleicht irgendwann, nur hoffe ich, dass es dann nicht zu spät ist.
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