Kapitel Zwanzig: Verzweifelt
N A T H A N I E L
Kennt ihr das Gefühl, wenn der eigene Körper nicht mehr auf euch hört und das tut, was er möchte? Ihr versucht ihm Befehle zu geben, die aber nicht ankommen. Als würdet ihr auf Autopilot gestellt sein und automatisch funktionieren. Nichts klappt, sodass eure Gedanken euren Verstand einnehmen und in den dunklen Abgrund ziehen können.
Etwas, dass ich um jeden Preis vermeiden wollte.
Ich sehe, wohin er mich führt und kann nichts dagegen unternehmen. Mein Herz schlägt brutal gegen meine Brust, als würde es herausspringen wollen, damit ich sehe, wie stark es blutet. Meine Lungen verlangen nach Luft, während ich nach draußen laufe und mich auf die Hollywoodschaukel setze.
Tief versuche ich einzuatmen, während ich mich mit der Tatsache befasse, dass mein Leben den Bach hinunterläuft. Und zwar gewaltig. Anstatt meine besten Jahre zu genießen, wühlt mich alles auf und überrollt mich fürchterlich. Eigentlich dachte ich, dass ich mich damit abgefunden habe, aber seit Avery wieder in meinem Leben ist, hat sich etwas tief in mir geändert. Irgendwie kann ich es nicht akzeptieren, auch wenn es keinen anderen Ausweg gibt.
Leider ist es wirklich zu spät.
Eher sollte ich es noch genießen, als mich im Selbstmitleid zu suhlen. Es bringt nichts. Und ich sollte es meiner besten Freundin erzählen, damit sie sich darauf einstellen kann. Könnte es sein, dass ich die Wahrheit herauszögere, weil ich sie nicht weiter verletzen will, oder hat mein Unterbewusstsein es wirklich noch nicht gecheckt?
Verdammt! Das ist zum Verrücktwerden. Aber ich glaube, es ist ein wenig von beidem.
Ein leises Klopfen an der Terrassentür erregt meine Aufmerksamkeit, jedoch sehe ich die Person nicht an. Egal, wer es von den beiden ist, will ich im Moment nicht bei mir haben. Aus unterschiedlichen Gründen, aber ich brauche gerade Zeit für mich und das müssen sie akzeptieren.
Langsam nähert sie sich mir, bis sie neben mir stehen bleibt und ihren Blick gegen den Horizont richtet. Aus dem Augenwinkel kann ich den Übeltäter erkennen, die heute Abend das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Mrs. Griffin hatte meinen Blick gesehen und doch bohrte sie weiter, weil sie genau weiß, wieso ich den Alkohol nicht mehr anrühre. Trotzdem ist es meine Sache und ich lasse mich von niemanden in eine Ecke drängen.
»Ich sage dir jetzt etwas, Nathaniel und ich hoffe sehr, dass du dir das zu Herzen nehmen wirst.«
Mrs. Griffins Stimme ist leise, aber bestimmend. Sie meint jedes ihre Worte sehr ernst, was ich an ihrer Tonlage erkennen kann. Trotzdem weigere ich mich, sie anzusehen. Sie hätte Avery nicht mit dieser Frage unterstützen sollen, um mir noch mehr Druck zu machen. Das war nicht fair von ihr. Vor allem, geht sie das im Grunde einen Scheiß an. Vielleicht verhalte ich mich kindisch, aber mein Verstand arbeitet auf Hochtouren und keine dieser Gedanken sind positiv.
»Ihr habt euch endlich wiedergefunden und es sieht so aus, als würde sie es dir nicht übel nehmen, dass ihr so lange keinen Kontakt hattet.«
Tief holt sie Luft und aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass sich die alte Dame zu mir dreht.
»Auch wenn du mir nichts gesagt hast, habe ich deine Medikamente gesehen und weiß, wogegen du und dein Körper gerade ankämpfen. Es wäre nicht fair von dir, es Avery nicht zu sagen. Was wäre, wenn sie es erfahren würde, weil sie dich bewusstlos auf dem Boden vorfindet? Das würde es schlimmer machen. Also bitte, Nathaniel, sag es ihr.«
»Ich weiß, dass es ich ihr sagen muss!«, platzt es wütend aus mir heraus, während ich meinen Blick auf sie richte. Durch den Druck und die Lautstärke fängt das Pochen in meinem Schädel wieder an, sodass ich automatisch mit meinen Händen an meine Schläfen fasse.
Stöhnend schließe ich meine Augen und drehe mich von dieser Frau weg. Sie soll mich endlich in Ruhe lassen, bis ich mich wieder beruhigt habe. Mrs. Griffin meint es nicht böse, trotzdem mischt sie sich in Dinge ein, die sie nichts angehen und verursacht somit nur noch mehr Drama.
»Bitte hör auf. Ich will nicht darüber reden, da mir sonst der Kopf explodieren wird.« Ich entferne mich einen Schritt von ihr und lasse resigniert meine Schultern sacken. »Es vergeht keine Sekunde, in der ich nicht darüber nachdenke, Mrs. Griffin. Und ich weiß, dass die Wahrscheinlichkeit jetzt höher ist, dass sie es erfährt, weil sie bei mir wohnt. Aber ich bin noch nicht so weit und das musst du hinnehmen. Es geht nicht um dich.«
Mein Flehen wirkt, da Mrs. Griffin still wird und mir zunickt, bevor sie sich wieder umdreht und hinaus in den Himmel schaut.
Ohne ein weiteres Wort verschwinde ich ins Haus und gehe schnurstracks in mein Zimmer. Was als ein schöner Abend begonnen hat, endet in einer völligen Katastrophe. Ich weiß nicht mal, wo meine beste Freundin ist. Nach meiner Flucht hat sie sich verkrochen, was ich ihr nicht übel nehmen kann. Avery muss absolut verwirrt sein.
Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen habe, entkleide ich mich und schlüpfe ins Bett. Missmutig sehe ich die Pillen Verpackung an und überlege, ob ich sie wirklich brauche. Die Schmerzen sind noch da, jedoch haben sie nachgelassen. Tief seufze ich auf, als ich mich umdrehe, damit sie aus meinem Blickfeld verschwinden. Vielleicht später, wenn ich nicht einschlafen kann.
Immer wieder kehren meine Gedanken zurück zu diesem Abend, der mich komplett aus der Bahn geworfen hat. Mein schlechtes Gewissen meldet sich, während ich an die beiden Frauen denke, die mir auf unterschiedliche Weise viel bedeuten. Und trotzdem habe ich es geschafft, die beiden von mir zu stoßen, da ich nicht anders konnte. Ich sollte mich bei ihnen entschuldigen, nachdem ich eine Nacht darüber geschlafen habe.
Vielleicht bin ich ein Feigling, der seinen Arsch nicht hochkriegt. Aber wenn ich ehrlich zu mir bin, lässt es meine Angst nicht zu. Viel zu sehr fürchte ich mich davor. Und zwar nicht von meiner kaum existierender Zukunft, sondern vor der Reaktion meiner besten Freundin. Sie musste bereits viele Schläge in ihrem Leben einstecken und ich weiß nicht, wie sie diesen hier, der bald auf sie zukommen wird, verkraften wird. Ob sie sich jemals davon erholen wird.
Vielleicht hört sich das dramatisch an oder auch übertrieben, aber diese Bindung, die wir zueinander spüren, ist mehr als sich jemals jemand vorstellen könnte. Zehn Jahre haben wir uns nicht gesehen, was aber nichts geändert hat. Viel mehr schweißt uns das noch mehr zusammen, da sie jetzt meine Gründe dafür kennt. Avery versteht mich mehr, als irgendjemand sonst.
Das quietschende Geräusch der öffnenden Türe dringt zu mir durch. Ich bewege mich nicht und bleibe still. Es ist, als würde sie wissen, dass ich in diesem Moment an sie denke. Mit leisen Schritten kommt sie näher zu mir, bevor sie die Decke zurückwirft und sich zu mir in das Bett gesellt. Fest schlingen sich ihre Arme um meinen Körper, während sie tief Luft holt.
»Ich weiß, dass du wach bist, Nathaniel«, flüstert sie mir leise ins Ohr. »Keine Angst, ich bin nicht hier, um dich mit Fragen zu löchern. Du wirst dich mir schon öffnen und bevor du nicht so weit bist, werde ich geduldig warten.«
Sanft lege ich meine Hand auf die ihre und drücke sie. »Du solltest nach Hause gehen. Zurück zu Connor.«
Ihr Körper spannt sich an, während sie stoßweise atmet. Meine Nackenhaare stellen sich dabei auf und ich verfluche mich dafür. Aber vielleicht ist es das Beste, wenn sie ganz weit weg ist, bevor sie mich noch anders zu Gesicht bekommt. Ein Anblick, den sie nie vergessen wird. Und ich will unbedingt, dass sie mich anders in Erinnerung behält.
»Ist es das, was du willst?«
Nein, ganz und gar nicht.
Aber ich höre, wie ich das Gegenteil behaupte. Und das tue ich nur, um sie zu schützen, bevor sie zerbricht. Das wäre nämlich das Letzte, dass ich will.
»Ja, das wäre das Beste.«
»Okay. Dann reise ich morgen ab.«
Avery stellt keine Fragen, sondern akzeptiert meinen Wunsch, auch wenn ich am liebsten etwas anderes sagen will. Und das schätze ich an ihr. Sie weiß, dass ich es ihr irgendwann erzählen werde.
Es könnte aber auch sein, dass sie mich morgen damit konfrontiert. Das wäre ebenfalls typisch für sie.
Verdammt!
Auch wenn ich sie loswerden möchte, hoffe ich, dass ich mit meiner letzteren Befürchtung recht haben werde. Vielleicht bekomme ich so endlich meinen Mund auf, sodass sie alles erfährt. Ich bin sowas von am Arsch und so verwirrt, dass ich selbst nicht weiß, was ich möchte.
Ich weiß nur, dass sie ein recht hat, es zu erfahren. Ob morgen oder irgendwann.
Die Frage ist eher, ob ich das noch irgendwann tun kann, bevor ich nicht mehr da bin.
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