N A T H A N I E L
Meine Worte sind raus, bevor ich genau darüber nachdenken kann. Es fühlt sich an, als hätte ich einen riesigen Fehler gemacht, weil ich unüberlegt gehandelt habe. Ich wollte Avery nicht weiter belügen, aber ihr an den Kopf zu werfen, dass ihre Eltern die Finger im Spiel hatten, war keine gute Idee. Immerhin bin ich ebenfalls schuld an dem Ganzen, weil ich es zugelassen habe.
Vielleicht war es nicht richtig von mir, aber dann stelle ich mir die nächste Frage, ob ich sie weiterhin hätte belügen sollen? Hat Avery nicht verdient, die Wahrheit zu kennen? Irgendwann wäre dieses Geheimnis ans Licht gekommen und bevor sie es von anderen Menschen erfährt, ist es doch besser, wenn sie es von mir hört. Oder irre ich mich?
Verdammt! Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Es wäre vermutlich besser gewesen, wenn ich mir das genau überlegt hätte. Aber ihr schmollender Anblick und ihr berechtigter Einwand, wie auch der Schmerz in ihren Augen haben mich zum Reden gebracht. Mein Herz konnte es nicht länger ertragen, sie so zu sehen und sie weiterhin mit meinem Schweigen zu verletzen.
Das ist nicht fair ihr gegenüber. War es nie.
Meine beste Freundin sieht mich aus großen Augen an, während ihr Mund offen steht. Sie weiß nicht, was sie genau dazu sagen soll und ich kann es absolut verstehen. Ich war nicht gerade feinfühlig. Vielleicht hätte ich es ihr schonender beibringen müssen. Aber wäre das in diesem Fall überhaupt möglich gewesen?
Der Schmerz in ihren Iriden wird größer, während ich die Enttäuschung darin erkennen kann, die mir die Luft zum Atmen nimmt. Automatisch wandert meine Hand zu meiner Brust, versucht diese Schwere darin zu vertreiben, die sich wie ein riesiger Klumpen anfühlt.
»Mein Vater?«, krächzt Avery leise und fassungslos.
°°○°°
Mit einem breiten Grinsen klingle ich an die Tür der Wilsons. In meinen Händen halte ich den Brief, der mir noch immer rasantes Herzklopfen auslöst. Endlich habe ich die Zusage bekommen, auf die meine beste Freundin und ich monatelang gewartet haben. Die Tatsache, dass wir gemeinsam auf das College gehen können, fühlt sich unwirklich an. Niemals hätte ich gedacht, dass wir das hinkriegen, weil es wirklich nicht einfach war.
Mr. Wilson öffnet mit einem missmutigen Blick die Tür und schaut mich mit einem undefinierbaren Ausdruck in den Augen an. Sofort spanne ich mich an, während mein Grinsen aus meinem Gesicht verschwindet. Dieses mulmige Gefühl breitet sich in meinem Magen aus, dass ich jedes Mal empfinde, sobald er in meiner Nähe ist.
»Was willst du?«, hakt er forsch nach und versperrt mir die Sicht auf das Wohnzimmer.
Eine unangenehme Gänsehaut bildet sich auf meinem Körper, während mir ein Schauer nach dem anderen den Rücken hinabläuft. Ich widerstehe den Drang mich zu schütteln, weil dieser Mann dies als Schwäche ansehen würde und das will ich auf jeden Fall vermeiden. Er mag mich nicht, aber das ist mir egal, da dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruht. Wie er der Vater eines solch bezaubernden Mädchen sein kann, ist mir schleierhaft. Avery kommt mehr nach ihrer Mutter, was aber auch das Beste ist, was ihr passieren konnte.
»Ich will zu Avery, Sir.«
Meine Stimme ist emotionslos und mein Blick starr. Der Vater von meiner besten Freundin löst nichts als Unbehagen in mir aus, was ich mir nicht erklären kann. Mr. Wilson hat mir nie etwas getan und trotzdem sind wir nie warm miteinander geworden.
»Sie ist nicht da.«
Tief atme ich ein, bevor ich kurz meine Augen schließe, um die Wut zu verbergen, die sich augenblicklich zu meinen anderen Gefühlen dazugesellt. Dass er mich dazu anlügt, macht es nicht besser, weil ich nichts mehr auf dieser Welt hasse.
»Dann komme ich später noch einmal vorbei«, erwidere ich und drehe mich um.
Vielleicht wäre es besser, wenn Avery zu mir herüberkommt. Bei mir ist sie immerhin willkommen, was hier nicht auf mich zutrifft.
»Warte!«, ruft er mir zu und packt mich an der Schulter, weshalb ich mich sofort wieder zu ihm wende. Schnell mache ich einen Schritt nach hinten, sodass die Hand von Mr. Wilson von mir abfällt.
»Ist noch irgendetwas?«, will ich mit zusammengezogenen Augenbrauen wissen und verschränke abwehrend meine Hände vor der Brust.
»Ich will gar nicht um den heißen Brei herum reden«, fängt er an, mit fuchtelnden Händen zu sprechen, weshalb ich einen weiteren Schritt nach hinten gehe. »Halte dich von meiner Tochter fern«, spuckt er aus, weshalb ich ihn mit geweiteten Augen ansehe.
»Wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden. Avery braucht keinen Nichtsnutz wie dich als Freund. Du ziehst sie nur herunter und deinetwegen verliert sie den Blick auf das wirklich wichtige im Leben.«
Fassungslos starre ich den Mann an, der mit jedem Wort die Wut in meinem Inneren weiter anstachelt. »Was genau meinen Sie damit?«
Viel zu verwirrt bin ich von seinem Gesagten. Wie kommt er darauf, dass Avery ihr Lebensziel durch mich verliert? Plötzlich fällt es mir wie Schuppen vor den Augen. Nein! Das hat er nicht getan. »Sie haben ihr Zimmer durchsucht?«, hake ich gefährlich leise nach.
»Natürlich! Sie sollte auf der Stanford studieren und nicht mit dir nach New York gehen! Du verbaust ihr die ganze Zukunft und aus diesem Grund will ich, dass du dich von ihr fernhältst. Hast du mich verstanden?«
Ohne auf meine Antwort abzuwarten, dreht er sich um und knallt die Tür hinter sich zu.
°°○°°
Ein leichtes Rütteln an meinen Arm katapultiert mich zurück in die Gegenwart. Avery sieht mich noch immer aus großen Augen an. Der Schmerz vermischt sich mit Besorgnis, sodass ich sie kurz anlächle, auch wenn es der unpassendste Moment ist, den es gibt.
»Mein Vater ist schuld an dem Ganzen?«, wiederholt sie die Frage und krallt ihre Finger in den Stoff meines Shirts fest. Ihre Stimme bricht, während sich in ihren Augen Tränen bilden, die mir in der Seele wehtun.
»Ja«, murmle ich leise, sodass sie es fast nicht gehört hätte.
Plötzlich entkommt ihr ein Schluchzer, als die erste Träne sich aus dem Augenwinkel löst. Sofort schlinge ich meine Arme um sie, drücke sie fest an mich und versuche Avery den Trost zu spenden, den sie in diesem Moment benötigt. »Sch … nicht weinen, kleine Hexe«, flüstere ich ihr zu und hoffe, dass meine Worte etwas bewirken.
Wie ein Kind wiege ich sie vor, während sie mein Shirt durchnässt und ihr ganzer Körper dabei zittert. »Ich bin da«, wispere ich noch einmal und streiche ihr zärtlich über den Rücken.
»Ich kann nicht fassen, dass sie mich dermaßen hintergangen haben. Deswegen wollte meine Mutter nicht, dass ich hierherkomme und dich finde«, sagt sie mit bebender Stimme, die mir das Herz bricht.
Ich erwidere nichts darauf, da jedes meiner Worte die Situation verschlimmern würde. Mrs. Wilson hatte die ganze Zeit gewusst, was für ein hinterlistiges Arschloch ihr Ehemann ist und hat nicht einmal etwas dagegen unternommen. Außerdem bin ich ebenfalls nicht unschuldig. Meine Zweifel haben sich immer weiter in meinen Verstand eingenistet, sodass ich mich jeden Tag fragte, ob etwas Wahres dran sein kann. Ob ich Avery wirklich von etwas Großem abhalte oder ihr gar wegnehme.
Heute weiß ich, dass das nicht stimmt. Nur habe ich Jahre dafür gebraucht, um zu dieser Erkenntnis zu kommen. Nach einer Weile beruhigt sich Avery in meinem Armen und nachdem die Schluchzer verklungen sind, löst sie sich leicht von mir, um mir in die Augen sehen zu können.
»Ich werde morgen meine Mutter anrufen und sie zur Rede stellen. Sie haben es lange genug vor mir verheimlicht, was jetzt ein Ende hat.« Mit ihren Händen wischt sie sich die Tränen aus dem Gesicht und blickt mich entschlossen an. »Ich werde nicht zulassen, dass sie weiterhin Dinge vor mir geheim halten.«
»Das ist eine gute Idee, Avery. Schlaf eine Nacht darüber und entscheide morgen, was du ihr genau sagen willst.«
Apropos, mir fällt da gerade etwas ein. »Wo schläfst du?«
Vielleicht ist das keine gute Idee, aber wenn sie schon hier in Lewisburg ist, will ich sie ganz nah bei mir haben.
»In der Stadt gibt es ein süßes, kleines Hotel. Dort hat mir Connor ein Zimmer gebucht.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, stelle ich ihr die Frage, die ich nicht ganz durchdacht habe. Es ist ein Fehler, da sie etwas mitbekommen könnte, dass ich noch nicht bereit bin zu erzählen. Aber in diesem Moment ist mir das egal. Ich werde die Unterlagen in eine Mappe verstauen, damit sie Avery nicht zu Gesicht bekommt. Was das andere angeht, so muss ich hoffe, dass ich es noch ein klein wenig hinauszögern kann.
»Willst du vielleicht bei mir übernachten, solange du in Lewisburg bleibst?«
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