Kapitel Eins: Überraschung
A V E R Y
Die letzten Sonnenstrahlen scheinen auf mich hinab, weswegen ich meinen Blick darauf richte, um dieses Farbenspiel zu beobachten, dass mich in den Bann gezogen hat. Es ist immer wieder faszinierend und eine unglaubliche Kulisse, die uns jeden Tag präsentiert wird. Wenn ich Menschen sehe, die einfach weiter gehen, ohne sich dafür zu interessieren, dann macht mich das jedes Mal traurig. Etwas für selbstverständlich anzusehen, ist eine Sache, die ich nicht verstehe. Es könnte jederzeit der Letzte sein, den wir zu Gesicht bekommen können und das müssen wir voll und ganz auskosten.
Für mich ist das ein Ritual geworden, dass ich bereits seit ich ein Kind war verfolge. Egal wo ich mich befinde, ich würdige dieses Farbenspiel und denke mir jedes Mal dabei, wie schön das Leben sein kann. So wunderschön wie dieser Sonnenuntergang. Früher habe ich sie noch zusammen mit einem bestimmtem Menschen angesehen, nur ist er leider kein Teil meines Lebens mehr.
Ein Stich durchfährt meine Brust, als meine Gedanken in die Vergangenheit reisen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Auch wenn ich glücklich bin und ich meinen Platz in dieser Welt gefunden habe, trauere ich um den geliebten Menschen. Es ist noch immer schmerzhaft, wie vor einigen Jahren, jedoch habe ich mich damit abgefunden. Es sollte wohl so sein.
Mein Smartphone beginnt zu läuten, weswegen ich es mit einem lauten Seufzer hervorhole. Sobald ich Connors Namen darauf erblicke, biegen sich meine Mundwinkel in die Höhe, bis sich ein ehrliches Lächeln auf meinem Gesicht bildet.
»Hi Connor«, nehme ich den Anruf entgegen, während ich meinen Blick wieder auf dieses Farbenspiel richte und mich gegen meinen Wagen lehne.
»Hallo mein Engel. Wo bist du heute hingefahren, um den Sonnenuntergang zu beobachten?«
Mein Verlobter kennt mich zu gut und weiß genau, wie ich ticke. Er fand es von Anfang an niedlich, wie ich mir jeden Abend einen Platz ausgesucht habe und für einen kurzen Moment allein sein will. Einmal hat er mir angeboten, dass wir das zusammen machen können, nur habe ich abgelehnt. Auch wenn ich diesen Mann liebe und den Rest meines Lebens mit ihm verbringen will, fühlt es sich falsch an.
Es gibt nur einen Menschen, mit dem ich das zusammen tun würde. Der Mensch, der mit mir dieses Ritual begonnen hat.
»Ich bin den Hügel rauf gefahren, weil es hier am schönsten ist.«
»Wann bist du ungefähr zu Hause? Ich würde für heute das Kochen übernehmen.«
Er ist ein wahrer Schatz und ich bin so froh, dass wir uns vor einigen Jahren über den Weg gelaufen sind. Na ja, eher haben wir uns gestritten, weil er mir meinen Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat. Das war für mich unverzeihlich, aber nach einer Entschuldigung und Erklärung, dass er das Schild nicht gesehen hat, lud er mich zum Essen ein. Seitdem hat es zwischen uns gefunkt und ich könnte nicht glücklicher sein.
»Gib mir noch eine halbe Stunde, Connor.«
»Alles klar, Engel. Bis später«, verabschiedet er sich und legt auf.
Sofort verstaue ich mein Smartphone wieder in meine Handtasche und widme mich dem Spektakel. Sobald ich meine komplette Aufmerksamkeit darauf lenke, durchfährt mich gleichzeitig ein Gefühl der Zufriedenheit und Trauer.
Zufriedenheit, weil ich mich glücklich schätzen kann. Ich habe fast alles, was ich mir gewünscht habe und Trauer, weil der eigentliche Grund für dieses Ritual nicht bei mir ist.
Laut seufze ich auf, streiche meine mintgrüne Bluse glatt und richte mich auf, als die letzten Strahlen am Horizont verschwinden. Viel zu schnell ist die Zeit vergangen. Ich habe mir geschworen, jeden Moment davon auszukosten, weil wir genau diese Zeit nicht haben. Das Leben ist zu kurz, um sich mit belanglosen Dingen zu beschäftigen. Aus diesem Grund habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, jede Sekunde davon zu genießen und etwas Besonderes an jedem einzelnen Tag zu unternehmen.
Sobald ich im Auto sitze, starte ich den Motor und fahre nach Hause. Als ich den menschenlosen Hügel verlasse, entdecke ich eine Menge Leute, die gestresst und zügig die Straßen überqueren. Der Feierabend hat auch sie erreicht, sodass sie alle so schnell wie möglich nach Hause wollen.
Auch wenn dieser Anblick etwas ganz Normales ist, macht er mich jedoch traurig, weil es für mich nicht so wirkt, als wäre ihnen bewusst, wie wunderschön dieser Abend ist. Viele sehen die Dinge als selbstverständlich an, was aber nicht der Wahrheit entspricht. Irgendwann ist der Moment da, wo sie das erkennen werden, aber dann ist es sehr wahrscheinlich zu spät.
Die Häuser ziehen an mir vorbei und als ich das Fenster einen Spalt herunterlasse, höre ich das Plätschern des Flusses, der hier ganz in der Nähe ist. Gleich dahinter erstreckt sich ein großer und wunderschöner Wald, mit vielen verschiedenen Bäumen und Tieren. An den Wochenenden bin ich viel dort, um einen Spaziergang zu unternehmen und meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Ich kann abschalten, nachdenken und komme immer zu einer Lösung, falls gerade irgendetwas in meinem Leben nicht so läuft, wie ich das will.
Das erneute Klingeln meines Smartphones lässt mich kurz zusammenzucken, als ich auf dem Bildschirm den Namen meiner Mutter erkenne. Mein Handy ist mit dem Auto verbunden, weshalb ich den Anruf entgegennehme.
»Hi Mom. Was gibt es?«
Ein Rascheln ist am anderen Ende der Leitung zu hören, bevor ich mehrere Stimmen gleichzeitig vernehme. Augenrollend lächle ich vor mich hin, da bestimmt meine kleine Schwester mithören will.
»Hallo mein Schatz. Bist du schon zu Hause?«, will sie wissen.
Ich setze den Blinker, bevor ich rechts in meine Straße abbiege. »In fünf Minuten, wieso fragst du?«
»Siehst du? Lass sie erstmals ihren Feierabend genießen, bevor du ihr was sagst«, meldet sich Alyssa zu Wort, was mich verwirrt die Stirn runzeln lässt.
Wovon spricht meine kleine Schwester und was genau soll mir meine Mutter erzählen? Plötzlich beschleicht mich ein mulmiges Gefühl, das sich sehr schnell in meinem Bauch ausbreitet. Ist etwas vorgefallen? Wäre ihnen etwas zugestoßen, hätte ich es sicher bereits erfahren. Also was kann es sonst sein?
»Was soll mir Mama sagen?«, hake ich alarmiert nach. Die Panik in meiner Stimme ist kaum zu überhören. »Nichts Schlimmes, Avery. Geh nach Hause zu Connor und nach dem Essen rufst du uns an. Deal?«
Tief atme ich ein, bevor ich ihr zustimmend zunicke. Okay, wenn sie das so sagt, dann ist wirklich nicht tragisches passiert. Das hat aber den Nachteil, dass meine Neugier geweckt wurde und ich sehr gespannt auf diese Neuigkeit bin. Ich komme aber nicht darauf, was es sein könnte. Egal, wie sehr ich mich anstrenge. In den letzten Tagen gab es auch kein Zeichen der Veränderung.
Auch wenn es leichter gesagt als getan ist, versuche ich meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, um mir nicht darüber den Kopf zu zerbrechen.
»Avery? Haben wir einen Deal?«, höre ich Alyssa erneut durch den Lautsprecher. Oh, verdammt. Sie können mich ja gar nicht sehen, weshalb ich mir innerlich auf die Stirn schlage.
»Ja, ich rufe euch später an. Bis dann.«
Gerade als der Anruf unterbrochen wird, erreiche ich das Haus, in dem Connor und ich zusammen wohnen und parke den Wagen vor der Garage. Bevor ich aus dem Auto aussteige, schnappe ich meine Handtasche, suche nach meinem Hausschlüssel, als bereits die Tür aufgeht und ein aufgeregter Connor zum Vorschein kommt.
»Engel, endlich bist du da.«
Seine Stimme hat einen ungewöhnlichen Ton angenommen und als ich die Fahrertür abriegle, kommt er direkt auf mich zu, um mich in seine Arme zu schließen. »Was ist los, Darling?« Sein Verhalten lässt mich stutzig werden, da auch meine Mutter und meine Schwester schon merkwürdig am Telefon waren.
»Eigentlich haben mich Alyssa und Mary gebeten bis nach dem Essen zu warten, aber ich denke, das wäre dir gegenüber nicht fair.«
Also ist doch etwas Grausames geschehen? Langsam werde ich ungeduldig, nervös und ein klein wenig wütend, da sie mir etwas verheimlichen, was ich eigentlich wissen sollte.
»Was ist hier los? Und bitte, zwinge mich nicht, dir diese Frage erneut zu stellen.«
Ich gehe einen Schritt nach hinten, löse mich von meinem Verlobten, um ihm in die Augen blicken zu können, während ich meine Arme vor meiner Brust verschränke. Erwartungsvoll ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe und hoffe, dass er bald den Mund aufmachen wird. Ich habe echt das Gefühl, dass ich bald platzen werde.
Mit dieser Antwort hätte ich jedoch nicht gerechnet, die er mir einen Moment später gegen den Kopf knallt. Es fühlt sich wie ein Schlag ins Gesicht an, während meine Hände nach etwas suchen, um sich daran festhalten zu können.
»Nathaniel hat dir einen Brief geschrieben.«
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