
Kapitel Achtzehn: tief Luft holen
N A T H A N I E L
Nachdem ich den Anruf beendet habe, schlendere ich in die Küche und hole eine Tasse aus dem Schrank. Avery könnte bestimmt einen Kaffee gebrauchen, auch wenn sie sicherlich bereits einen getrunken hat. Ich kann mich noch erinnern, was für ein Kaffeejunkie sie in dieser Hinsicht war. Glaube kaum, dass sich daran etwas geändert hat.
Mein Vorgesetzter hat meinen spontanen Urlaub sofort genehmigt, was mich sehr erleichtert. Immerhin ist es nicht selbstverständlich, jedoch denke ich, dass es ihm nur recht ist. Louis sorgt sich andauernd um mich. Noch mehr als er vor einigen Monaten von dieser Sache erfahren hat.
»Ist das dein verdammter Ernst? Oh mein Gott! Ich kann nicht fassen, dass ihr sowas vor uns verheimlicht habt«, schreit meine beste Freundin aus dem Zimmer, weshalb ich kurz zusammenzucke. Dass sie ausrastet, kann ich nachvollziehen. Immerhin hat sie jetzt gecheckt, wie lange sie und Alyssa bereits belogen werden. Keine einfache Kost. Überhaupt nicht.
Die Bombe hat definitiv eingeschlagen und tiefe Risse hinterlassen, die lange brauchen werden, um zu heilen. Sie wird sich nach einiger Zeit wieder erholen, jedoch wird dieser Verrat Narben hinterlassen. So ging es mir auch.
Averys Stimme ist laut und trieft vor Enttäuschung und Schmerz, was mir in der Seele wehtut. Ich kann es ihr nicht einmal verübeln, da ich genau gleich reagiert habe. Zu wissen, dass mein Dad mit Averys Mutter in der Kiste war und somit ein weiteres Kind in die Welt gesetzt hat, hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Vor allem, da ich jetzt diesen Zorn verstehen kann, den Mr. Wilson mir gegenüber hegte.
Meine Mutter war total am Ende, jedoch ist sie bei ihrem Ehemann geblieben, was ich nicht verstehen kann. Wieso lässt sie sich das gefallen und verzeiht diesem Mann einen solchen Fehler? Ich bin der Meinung, wenn jemand seinen Partner betrügt, wird er nie damit aufhören. Egal, wie oft er das beteuert. Es machte keinen Unterschied. Wie oft habe ich versucht, mit ihr darüber zu reden, jedoch hat sie ihre Meinung nie geändert.
»Du dachtest, es sei das Beste? Willst du mich verarschen? Ich war psychisch an einem Tiefpunkt angelangt, während mein Herz jede Sekunde weinte und blutete. Und ihr dachtet wirklich, es wird wieder?«
Schockiert halte ich in meiner Bewegung inne, als mein Verstand ihre Worte verarbeitet. Gleichzeitig bildet sich eine Schwere in meiner Brust, die mir das Atmen erschwert, während ein unangenehmer Schauer meinen Rücken hinabläuft.
Meine Augen schließen sich, als meine Hand die Stelle massiert, wo sich mein Herz befindet. Ich wusste, dass ich mit meinem kompletten Verschwinden Avery verletzt habe, aber nie hätte ich dieses Ausmaß erwartet. Aber was mache ich mir vor? Wie wäre es mir ergangen, wenn ich das Gleiche abgezogen hätte? Ich wäre am Boden zerstört gewesen.
Fest krallen sich meine Hände in die Anrichte, bis meine Knöchel weiß hervortreten. In meinem Kopf beginnt es leicht zu pochen, weshalb ich leise aufstöhne. Ich muss meine Medikamente nehmen, bevor Avery etwas mitkriegt. Das wäre noch die Kirsche auf der Torte, wie meine Mutter es nennen würde.
»Ich kann das nicht. Ruf mich in nächster Zeit nicht an«, höre ich sie nochmals brüllen, bevor es plötzlich still wird. Der Schmerz in ihrer Stimme bringt mich innerlich um. Zerreißt mein Herz, während ich versuche, Luft zu holen.
Mit dumpfen Schritten visiere ich mein Zimmer an. So schnell möglich laufe ich darauf zu und stoße mit den wenigen Möbeln zusammen, die ich in diesem Haus besitze. Aber das ist mir egal. Das einzige, was mir in diesem Moment durch meinen Kopf geht, sind diese Pillen, die mir dieses pochende Stechen verschwinden lassen werden.
Ruckartig öffne ich die Schublade, wühle darin herum und schmeiße alle Sachen auf den Boden, die ich in die Finger kriege. Sobald ich die Verpackung in den Händen halte, drücke ich sie raus, schlucke sie runter und spüle es mit Wasser ab.
Erschöpft und total ausgelaugt, lasse ich mich auf mein Bett fallen. Meinen Arm lege ich über das Gesicht, da mich die Sonne blendet, die in den Raum hineinscheint. Tief atme ich ein, versuche mich mit einfachen Mitteln zu beruhigen.
Nach einigen Minuten bemerke ich, dass mein Herz langsamer schlägt und das Pochen durch ein leichtes Ziehen ersetzt wird. Diese Tabletten sind wirklich stark dosiert und wirken unglaublich schnell. Aus diesem Grund versuche ich so wenig wie möglich davon einzunehmen. Auch wenn es mir nichts nützt, da es zu spät ist.
Ein leises Klopfen bekommt meine Aufmerksamkeit, sodass ich meinen Blick auf die Tür werfe. Sie ist bereits offen und meine beste Freundin schaut mich aus sorgenvollen Augen an. Avery hat dieses Prinzip noch nie gelernt und ist immer eingetreten, sobald sie geklopft hat. Einmal wurde es für uns ziemlich peinlich, jedoch hat sie nichts aus der Sache gelernt. Wie auch nach Jahren nicht.
»Solltest du nicht abwarten, bis ich etwas sage? Ich hätte nackt sein können.«
Als wäre das nichts, winkt Avery mit der Hand ab. »Wäre nicht das erste Mal, dass ich dich so sehe. Aber deswegen bin ich nicht hier.« Verlegen zeigt sie auf mein Bett und ignoriert dabei die Unordnung auf dem Boden. »Darf ich mich zu dir setzen?« Ich nicke ihr zu, bevor sie sich einen Moment später zu mir gesellt.
»Ich habe mit Connor telefoniert.«
Erwartungsvoll ziehe ich eine Augenbraue in die Höhe. Dieses Telefonat habe ich nicht gehört und ich bin überrascht, wie schnell er ihr das gebeichtet hat. Immerhin ist das erst heute Morgen passiert.
»Er ist ein Idiot. Ein Idiot, der unglaublich liebenswürdig und lieb ist«, seufzt sie auf. Ihre Wortwahl bringt mich zum Lächeln, weil ich genau weiß, wie sie das meint. Auch wenn ich eine andere Reaktion erwartet habe, aber vielleicht war das heutige Gespräch mit ihrer Mutter genug Drama für einen Tag.
»Das trifft es auf den Punkt«, stimme ich ihr nickend zu.
»Mir war klar, dass sowas irgendwann passieren wird.«
Verwirrt runzle ich meine Stirn. »Und wieso, wenn ich fragen darf?«
Meine beste Freundin zuckt mit den Schultern. »Weil es komisch für ihn sein muss, dass auf einmal ein weiterer Mann in meinem Leben aufgetaucht ist. Connor wusste von dir, aber da war das noch anders, da wir keinen Kontakt hatten.«
Ihre Erklärung ergibt Sinn. Aber auch wenn ich dieses Telefonat auf eines der merkwürdigsten einstufe, bin ich nicht sauer auf ihn. Ich kann ihn verstehen.
Eine Stille umhüllt uns, während wir beide in Gedanken versunken sind. Mein Körper spannt sich bereits an, da ich mir sicher bin, dass mir Avery bald von dem Gespräch mit ihrer Mutter erzählen wird. Meine beste Freundin kann das nicht für sich behalten. Das kann ich an ihrem Gesicht erkennen. Grübelnd beißt sie sich auf die Lippen, schaut ihre Hände an und überlegt fieberhaft, was sie sagen soll. Ich lasse ihr die Zeit, die sie braucht.
Mehr wundere ich mich darüber, dass ich sie noch immer wie ein Buch lesen kann. Als wären wir nicht so lange getrennt voneinander gewesen. Sobald ich Avery gestern erblickt habe, fühlte ich diese Bindung noch mehr als davor. Wir beide haben uns verändert. Sind erwachsen und trotzdem kenne ich noch jede ihrer Facetten. Einfach unglaublich. Ich wusste schon immer, dass sie ein ganz besonderer Mensch für mich ist.
Meine andere Seelenhälfte.
»Wusstest du davon?«, hakt sie leise nach und kratzt sich nachdenklich am Finger. Sofort umschließe ich ihre Hand. Avery wird nicht aufhören, bis es zu bluten anfängt und das würde ich gerne vermeiden. Diesen Tick hatte sie früher ebenfalls. Es gibt wohl einige Dinge, die sich nie ändern.
»Ja«, gebe ich ehrlich zu. Es bringt nichts, sie weiterhin anzulügen. Ich habe es kurz nach unserem Umzug erfahren, als meine Mutter einen Nervenzusammenbruch erlitten hat.
»War das der Grund, wieso du mir nicht mehr geschrieben hast?«
Mit hängenden Schultern nicke ich ihr zu. »Ja«, wiederhole ich mich.
Mit Tränen in den Augen sieht sie mich an. Ich kann den ganzen Schmerz darin erkennen, den ich vorher in ihrer Stimme gehört habe. Ich kann die Fragen sehen, die in ihrem Kopf herumschwirren und ich kann nichts gegen die Schuldgefühle tun, die mich versuchen in den Abgrund zu reißen.
»Wieso hast du das getan? Diese Sache hatte nichts mit uns zu tun. Wenn unsere Eltern diese Scheiße durchziehen, geht das uns im Grunde nichts an. Du hättest es mir sagen sollen.«
Der Vorwurf ist da und ich kann es ihr nicht verübeln. Trotzdem versetzen mir ihre Worte einen Messerstich in die Brust. Meine Hand wandert automatisch zu der Stelle, wo sich mein Herz befindet.
»Doch, es geht uns was an, da ein Kind im Spiel ist, Avery. Alyssa ist auch meine Schwester.« Ruckartig erhebe ich mich und tigere im Raum auf und ab. »Ich gebe zu, dass ich mit dir darüber hätte reden sollen. Aber was hast du von mir erwartet? Mir wurde gedroht, dass ich dich in Ruhe lassen muss. In dem Moment habe ich an meine Mutter gedacht, weil sie einen solchen Skandal nicht verkraftet hätte.«
Perplex halte ich inne, als Averys Hand meinen Arm zu fassen bekommt. »Wer hat dir gedroht und womit wurde dir gedroht?«
»Dein Vater. Er hat mich wissen lassen, dass er jedem erzählen wird, was passiert ist, wenn ich weiterhin mit dir in Kontakt bleibe.«
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