7. Dezember - Arvid
»Alpakas wiegen durchschnittlich gleich viel wie Menschen. Eigentlich schätzt man sie viel schwerer ein, oder?«
»Mhm.« Heiliger Nasenbär, warum brennt das so?
»Außerdem fressen sie das Gras so, dass die Wurzel nicht mit zerstört wird. Deshalb sind sie beliebte Rasenmäher.«
»Was du nicht sagst.« Rot ist eine schöne Farbe.
»Die Zungen von Alpakas sind eigentlich festgewachsen.«
»Interessant.« Verdammt, mir ist schlecht.
»Sie wären bestimmt gut im Geschirrspülen.«
»Bestimmt.«
»Du hörst mir gar nicht zu.« Aria sieht mich mit verschränkten Armen an.
»Vielleicht nicht ganz, nein.« Ich blicke auf das violette Gefäß in meiner Hand. Glühwein. Blutrot. Bereits die vierte Tasse.
»Vielleicht ist der hier dran schuld.« Ich tunke meinen Finger in das Getränk.
Aria schnaubt. Sie scheint Alkohol besser zu vertragen als ich. Allerdings bezweifle ich, dass sie mir im nüchternen Zustand etwas über festgewachsene Lamazungen erzählen würde. Alpakas. Dromedare. Was auch immer.
»Lalle ich eigentlich?« Sie tritt einen Schritt auf mich zu und schwankt dabei ein wenig.
»Nein...« Ich könnte ganze Sätze bilden, aber mir fehlt der Willen dazu.
»Und meine Pupillen?« Sie beugt sich zu mir.
Aria riecht nach Orangenpunsch. Aber haben wir nicht eigentlich Glühwein getrunken?
Sie riecht gut.
Ihre Pupillen sind tatsächlich größer als sonst. Aber nicht viel. Sie sieht aus wie eine dieser süßen Stofftierkatzen, die ich Christmas mal geschenkt habe. Nur viel größer. Und echter. Und niedlicher.
Jetzt beugt sie sich weiter zu mir. Gleich wird sie losspringen und ihre Krallen...
„Verdammt, Aria, ich trinke nie wieder etwas Alkoholisches mit dir. Oder ich gehe überhaupt nicht mehr alleine mit dir weg."
Das zeigt Wirkung. Sie rückt ab.
»Können wir zu den Alpakas rüber?« Sie zeigt zum Stall, der direkt neben dem Adventmarkt ist. Er ist relativ neu gebaut worden, also kennt ihn noch Aria gar nicht. Er ist eigentlich als Attraktion für die Jüngeren gedacht.
Der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Es ist das einzige Geräusch zwischen uns. Aria lehnt sich an den Zaun eines Paddocks, in dem tatsächlich ein gut gepflegtes Alpaka.
»Sie haben schöne Locken.« Gedankenverloren streicht sie sich durch die Haare. Immer und immer wieder.
»Mhm...« Ihre Haare glänzen dunkelbraun im Licht der Mittagssonne. Als ich ihr vorhin angeboten habe, mit ihr hier her zu kommen, weil sie so traurig ausgesehen hat, ist es früher Vormittag gewesen. Wie die Zeit vergeht.
»Ob es sich alleine fühlt? Oder ist es wie ich und will manchmal einfach nur seine Ruhe haben?« Sie meint das braune Alpaka, das friedlich da steht und Heu frisst.
»Dabei sind Alpakas ja Herdentiere. So wie Menschen.« Sie kämmt weiterhin ihre Haare. »Aber was, wenn sie eigentlich Einzelgänger sind und sich nur zusammengetan haben, weil sie sonst nicht überleben? Insgeheim hassen sie sich vielleicht.«
»So wie Katzen.«
Arias dunkle, geweitete Pupillen mustern mich. »Ja, genau.«
»Du erinnerst mich heute sehr an eine Katze«, sage ich. Ich weiß nicht, wieso. Ich spreche einfach das aus, was ich denke.
Aria zieht einen kleinen Glücksbringer aus der Tasche. Eine Winkekatze. Golden.
»Erinnerst du dich an die?« Natürlich tue ich das, ich habe sie ihr geschenkt.
Und sie hat sie immer noch. Ich sage nichts.
Aria versteht mich trotzdem. Sie tritt näher, lehnt den Kopf an meine Schulter und gähnt. Riecht nach Glühwein. Blickt mich an, aus dunklen, schokobraunen Augen und weniger geweiteten Pupillen, sieht mir lange Zeit fest in die Augen.
Zum vergoldeten Weihnachtsstern. Macht mich fertig, dieses Mädchen.
❄️❄️❄️
Als wir am Abend aus dem Auto aussteigen, merke ich sofort, dass das Drayton Valley- Weihnachtsfest schon begonnen hat. Laute Weihnachtsmusik dringt durch die Halle, wo die Feier stattfinden soll. Es hat zu schneien begonnen. Die kleinen Schneeflocken schmelzen unangenehm im Nacken. Ich ziehe fluchend den Kopf ein.
Aria ist zuerst bei der Eingangstür und stößt sie schwungvoll auf. Ein junges Paar kommt heraus und zwinkert uns fröhlich zu. Aria drängt sich an ihnen vorbei und verschwindet in der Menge im Inneren. Ein Schwall heißer Luft bläst mir entgegen und bringt einen zimteigen Duft mit sich. Alles ist voller Menschen, irgendwie kommt mir die ohnehin schon große Halle noch voller als letztes Jahr vor. Als hätte die Hälfte aller Bewohner von Drayton Valley beschlossen, Weihnachten heute hier zu zelebrieren.
»Arvid!« Christmas kommt mir mit geröteten Wangen entgegen. Ihre Augen leuchten vor Vorfreude. »Oh, hey.« Ich lächle bei ihrem Anblick. Sie hat sich besonders Mühe für ihren bevorstehenden Auftritt gegeben, das sieht man. Sie steckt bereits in ihrem Kostüm, das weinrot glänzt. Ihre Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, lediglich zwei mit Lockenstarb bearbeitete Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Sie ist stärker geschminkt als sonst. Mit Rouge, Lippenstift und Eyeliner. Ich finde, es steht ihr nicht so ganz. Zumindest passt es nicht so sehr.
Aber ich sage natürlich nichts, weil ich ihr Freund bin. Weil heute die Weihnachtsfeier ist, auf die sie sich schon so lange gefreut hat. Weil sie ihren ersten Solo-Auftritt im Eislaufen hat.
»Ich bin gleich am Anfang dran, weil das Programm geändert wurde«, erzählt sie mir atemlos. Ohne auf eine Antwort zu warten, zerrt sie mich weiter zum nächsten Ausgang auf der entgegengelegenen Seite der Halle. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie aufgeregt ich bin«, plappert sie drauf los, als wir aus der lauten Umgebung draußen sind. »Dieses Mal sind mehr Leute da als letztes Jahr ... Was ist, wenn ich mich nicht richtig konzentrieren kann?« Wir sind vor der Eisfläche stehen geblieben, auf der Christmas gleich ihre Kunststücke absolvieren wird. Nach ihr sind glaube ich noch andere aus ihrem Verein dran, aber sie macht den Anfang und wird sogar von irgendwelchen Reportern gefilmt. Ich nehme sie an den Schultern und drehe sie so, dass wir uns in die Augen blicken.
»Hey, du wirst das fabelhaft mache. Dir gelingt alles, wenn du dir Mühe gibst und das weißt du.«
Sie sieht mich dankbar und zuneigungsvoll an. Irgendwie fühle ich mich schlecht, dass sie mir so zugeneigt zu sein scheint. So... als hätte ich es nicht wirklich verdient. Als hätte ich sie nicht verdient.
Ich habe eine andere geküsst.
Zwar nicht direkt, eigentlich hat sie mich geküsst. Und ich habe den Kuss beendet, auch wenn es mich viel Überwindung gekostet hat. Ich wollte Aria nicht vor den Kopf stoßen, als sie es getan hat, immerhin hat sie hier niemanden sonst. Nein, das stimmt nicht so ganz. Wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich sie gerne zurückgeküsst.
Ich schüttle den Gedanken ab. Christmas gegenüber ist es offensichtlich überhaupt nicht fair, was hier abläuft.
»Wir stehen übrigens unter einem Mistelzweig«, meint sie eben diese und grinst mich an. Ich wage einen Blick nach oben und sehe, dass da tatsächlich einer an der beschmückten Wand hängt.
Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, was jetzt das Richtige wäre, also tue ich nichts.
Christmas beugt sie sich nach vorne und küsst mich.
Gute zehn Minuten später versammeln sich alle um die Eisfläche herum. Christmas' Auftritt wird von irgendeinem manteltragenden Heini mit Bart verkündet, der wahrscheinlich den Weihnachtsmann porträtieren soll. Die Lichter gehen an und dann tritt Christmas aufs Eis.
Meine Freundin stellt sich in Position mit beiden Händen am Körper. All I Want for Christmas wird abgespielt, ein Lied, dass ich alleine in den letzten drei Tagen schon oft genug für die nächsten Jahre gehört habe.
Sie fängt an in lauter Runden durch die Bahn zu schlittern. Vorwärts, rückwärts, seitwärts, alles gelingt fehlerlos. Selbst beim Sprung - einer halben Drehung, oder wie das auch immer genannt wird - kommt sie nicht ins Straucheln.
Plötzlich steht Aria neben mir. Ich habe sie gar nicht kommen sehen. »Sie ist gut«, kommentiert sie Christmas' Aufführung, ohne die Augen von ihr zu lösen. »Mhm«, mache ich.
Ich bin so froh, dass Aria wieder nüchtern ist. Zum Glück ist nichts mehr zwischen uns passiert. Es war nicht sonderlich schlimm, dass ich alleine mit ihr am Adventmarkt war. Aber trotzdem fühle ich mich Christmas gegenüber schlecht.
Sie hätte allen Grund, eifersüchtig zu sein.
Oh ja, den hätte sie.
Was bin ich eigentlich für ein Arschloch?
Arias Hand streift zufällig meine. Verdammter Vogelstrauß. Unwillkürlich zucke ich zurück. Aria zieht die Augenbrauen hoch und ihr Blick zuckt zu mir. In ihren Wimpern glitzern Schneeflocken. Sie sieht müde und irgendwie traurig aus. Kein Wunder bei den Geschehnissen um sie herum.
Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie ich sie in den Arm nehme.
Ich wende mich wieder Christmas zu. Sie hat die Vorführung perfekt gemeistert, wie es zu erwarten war. Der Applaus brandet auf und ich stehe mit allen anderen auf - und klatsche am lautesten.
❄️❄️❄️
»Christmas? Wir müssen reden.« Ich bleibe neben der Bank stehen, auf der sie sitzt und ihre Eislaufschuhe auszieht.
»Ja?« Sie blickt mich mit großen Augen an, noch strahlend von ihrem Auftritt. Es tut weh, an die nächsten Worte zu denken, fühlt sich an, als würde der Glühwein von heute Vormittag hochkommen wollen. Ich will es einfach hinter mich bringen. Die Worte müssen ausgesprochen werden.
»Ja, also... Äh. Ich hab nachgedacht. Und...«
Sie steht auf und stellt sich mir gegenüber hin.
»Und?«
»Und...« Und meine Ex, die vor zwei Jahren ohne ein Wort abgehauen ist, ist wieder da. Ich muss für sie da sein.
Und ich hätte gerne jemand anderen als dich geküsst, habe ich aber nicht. Sie hat mich geküsst.
Und ich wohne jetzt mit einem schönen Mädchen zusammen, mit dem ich früher alt werden wollte. Hasta la vista.
Und eigentlich würde ich gerne mit dir zusammenbleiben. Ich brauche einen Glühwein.
»Und ich brauche eine Beziehungspause.« Jetzt ist es draußen.
»Du machst Schluss?!« Erschrockenes Augenweiten.
»Nein, nicht wirklich... Ich will einfach nur eine Auszeit.«
»Wieso? Es war doch alles okay...oder?« Tränen in den tannengrünen Augen. Scheiß Situation.
»Du hast überhaupt nichts falsch gemacht! Tangotanzende Tanne, du bist eine wunderbare Freundin. Aber es geht momentan einfach schwer. Von mir aus.« Ich strecke die Hand aus, um sie tröstend am Arm zu berühren. Lasse sie auf halben Weg wieder fallen. Es hätte nichts geholfen.
Zusammengepresste Lippen, in sekundenschnelle gerötete Augen und das, obwohl sie gerade noch vor Freude geleuchtet haben. Wieso musste ich das jetzt tun? Hätte ich nicht noch warten können?
»Der Auftritt war wirklich beeindruckend.«
Wuterfüllter Blick, enttäuschtes Kopfschütteln, Schritte, die sich im knirschenden Schnee entfernen.
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