17. Dezember - December
Du weißt, dass du zu viele griechischen Sagen gelesen hast, wenn du während der Behandlung beim Zahnarzt nichts anderes als In den Tartarus damit denkst. Damit meine ich natürlich die Dinger wie Speichelabsauger, nicht die Zahnärzte- denen habe ich einen schönen Platz auf den Feldern der Verdammnis zugeteilt.
Schlecht gelaunt streiche ich mit der Zunge über meine neueste Blombe. Blöde Rumkugeln. Diese zur Bosheit, ja schon Bösartigkeit neigende, kugelförmige Süßigkeit aus geschmolzener Schokolade muss heute schnellstmöglich vernichtet werden, bevor sie meine Zähne zur Gänze zerstört.
Meine Gedanken schweifen ab. Bald sollten wir Mom auf alles ansprechen, vor allem, wenn wir morgen mit Aria zu Angeolina wollen. Dass Christmas noch an die Texte von Mom gedacht hat, war ein Glück, aber man kann viel hineininterpretieren. Jetzt brenne ich wie der Rum an guten Tagen in meinem Bauch darauf, herauszufinden, wie viel von meiner Theorie stimmt. Es kommt mir vor wie in einem Film. So... episch.
»December, kannst du bitte die Butter holen?«, reißt meine Mom mich aus meinen Gedanken, während sie ihren Einkaufswagen durch die Getränkeabteilung des Supermarkts schiebt. »Und Milch brauchen wir auch.« Rasch gehe ich zum Kühlregal und hole die besagten Produkte, dann beeile ich mich zurück zu meiner Mutter zu kommen. Wenn ich nicht aufpasse, verlässt sie die Getränkeabteilung, ohne Rum zu kaufen. Tatsächlich ist sie bereits am Ende angelangt und keine Flasche ziert unseren Einkaufswagen.
»Mom! Du hast den Rum vergessen!«, rufe ich ihr so gut es geht zu, denn dank der Blombe, die aus unerfindlichen Gründen beim Sprechen schmerzt, kann ich fast nicht mehr richtig reden. Sie dreht sich nicht um, aber antwortet: »Wir können nicht immer Rum kaufen, December. Du wirst es auch einmal ohne aushalten müssen. Außerdem sollst du sowieso nicht so viel trinken, du willst ja keine Alkoholikerin werden, oder? Also sei verantwortungsbewusst.«
»Aber das bin ich, Mom«, erwidere ich, nehme eine Rumflasche, gehe zu meiner Mutter und schwenke sie vor ihrer Nase. »Im 18.Jahrhundert war Rum unglaublich wertvoll und Seeleute haben ihn als Bezahlung angenommen. Wenn also altmodische Seeleute Drayton Valley besetzen würden, wären wir vorbereitet und könnten uns freikaufen.«
Mom sieht mich mit einer Mischung aus Belustigung und Müdigkeit an.» Stell die Flasche zurück, du Flasche.« »Außerdem soll Rum gut gegen Haarausfall sein. Wär ja bald was für dich. Also eine Win-Win- Situation«, kann ich mir nicht verkneifen hinzuzufügen.
Meine Mutter verdreht die Augen und ich beschließe seufzend, endlich nicht mehr um den heißen Brei herumzureden. (Obwohl ich jetzt erstmal nur noch Brei zu mir nehmen kann.)
»Christmas, komm mal kurz her.«
Als meine Schwester neben mir auftaucht, setze ich das einnehmende Lächeln, das diese so gut beherrscht, auf und versuche dabei nicht wie sonst immer auszusehen. (Nämlich als hätte ich Zahnschmerzen - was allerdings dieses Mal wahr ist. Vielleicht hat es ja eine Umkehrwirkung.)
»Mom, wir müssen mit dir reden. Es ist wichtig.« Ich ignoriere Christmas' Spinnst-du-wir-stehen-in-einem-öffentlichen-Supermarkt-Blick und beginne das Gespräch. Länger kann ich wirklich nicht warten, das ist nämlich gar nicht meins. (Abwarten und Rumtrinken dafür schon.)
»Wir wissen, dass du ein musikalisches Wunderkind bist, das seinen Tod vorgetäuscht hat und mit dem Gärtner durchgebrannt ist«, starte ich unvermittelt.
»December!«, zischt Christmas entsetzt, meine Mutter wird kalkweiß und ich verziehe entschuldigend das Gesicht.
»Sorry. Der Zahnarzt hatte so wenig Feingefühl, als er mir auf den Zahn gefühlt hat, meines ist für diese Aktion jetzt auch aufgebraucht.«
»Komm, Mom«, sagt Christmas sanft, lässt den Einkaufswagen stehen und zieht meine Mutter nach draußen. Ich folge ihnen etwas zerknirscht. Vielleicht hätte ich den Anfang meiner besseren Hälfte überlassen sollen. Aber ich bin so aufgeregt! Mir liegt einfühlsames Reden in emotionalen Ausnahmezuständen nicht.
Draußen ziehen wir uns alle die Kapuzen über die Köpfe und stellen uns hinter ein parkendes Auto. Der Schneematsch platsch um meine Füße herum.
»Woher-«, will Hariclea wissen. Sie leugnet es nicht mal. Sie sieht müde aus. Christmas drückt ihr liebevoll den Arm.
»Du hast dich auffällig verhalten, Mom. Für uns ist das selber so surreal, wir wollen nur, dass du deine Schwester und deine Eltern noch einmal sehen und dich mit ihnen versöhnen kannst.«
»Und dass du uns alles erzählst, wir wollen Erklärungen. Wie bekannt warst du? Und der Gärtner?«, ergänze ich und bereue es gleich darauf, als Christmas' Blick mich trifft. Trotzdem bin ich versucht, mit einem Augenbrauenhochziehen zu reagieren, aber dann erinnere ich mich an Arias Reaktion darauf. Kopfschmerzen, pah.
»Welcher Gärtner?«, fragt meine Mutter müde und mich überkommt doch noch ein schlechtes Gewissen.
»Tut mir leid, Mom«, murmle ich also stattdessen kleinlaut. »Ich wollte nicht mit der Tür ins Haus fallen, aber wir sollten das vielleicht bald im Krankenhaus tun. Nochmal bei Angeolina vorbeischauen.«
Mom holt tief Luft, schweigt nachdenklich, sieht uns an.
»Meine Schwester.« Sie sagt es leise, vorsichtig, so als würde sie testen wollen, wie sich die Worte nach so langer Zeit in ihrem Mund anfühlen würden.
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