e x i s t e n z
{09/04/2020}
Die Menschen schwemmen in Scharen über die Gehwege. Jeder möchte in eine andere Richtung. Jeder hat seine eigene Geschichte und doch sind sie zu diesem Zeitpunkt alle am selben Ort. Als würde das Schicksal sich einen Spaß draus machen für einen Moment alle Lebens- und Zeitstränge übereinander zu legen, denn egal, was diese Personen in ihrem Dasein bis jetzt erlebt haben, es hat sie alle zu diesem überfüllten Gehweg gebracht und viele von ihnen realisieren das gar nicht. Sie gehen diesen Weg, genießen die Sonne des schönen Frühlingstages oder hassen sie, weil sie keine Sonnenbrille mitgenommen haben, aber sie alle existieren. Treffen Entscheidungen, durchleben schwere wie auch angenehme Zeiten und haben ihre eigenen Gedanken. Ist das nicht genial?
Die vierjährige Annie sitzt an ihrem Fenster und kaut nachdenklich auf einer Karotte. Es ist nicht wirklich ihr Fenster, aber wer definiert das schon richtig und so lange sie hier in Ruhe die Leute beobachtet, ist es ihr Fenster. Sie spricht nicht. Hat noch kein einziges Wort gesagt. Wieso auch? Sie selbst braucht nur ihre Gedanken, denn davon hat sie reichlich. Doch teilen würde sie diese niemals. Das wäre eine Verschwendung von Zeit, die sie zum Nachdenken benutzen könnte. Also verlässt kein Wort ihren Mund.
Unten auf der Straße herrscht immer noch ein reges Gedränge nur das sich jetzt andere Menschen, mit anderen Geschichten aneinander vorbeidrängen. Vereinzelt taucht hier derselbe Hut und da dieselbe Frisur auf. Manche scheinen sich noch nicht ganz sicher zu sein in welche Richtung sie das Leben führen soll oder welchen Weg sie gehen.
„Annie, möchtest du denn den ganzen Tag deine Nase an der Scheibe plattdrücken?", fragt die gutgekleidete Frau mit den goldenen Ohrringen.
Natürlich möchte sie das. Müsste sie nicht essen oder schlafen, würde sie nie wieder etwas anderes machen. Außerdem ist es doch sehr unhöflich ihre Beobachtung als Nase an der Scheibe plattdrücken herunterzuspielen. Annie ignoriert die Frau und setzt ihre Observation fort.
Ein einziger Mann hat ihre ganze Aufmerksamkeit. Er läuft immer wieder den Gehweg auf und ab. Wieso er das macht, weiß Annie nicht. Dass es ihr unnötig erscheint, dass weiß sie. Niemand vergeudet seine Zeit mit immer der gleichen Handlung. Andererseits macht sie nichts andres als zu beobachten und nachzudenken. Und von einem auf den nächsten Moment wird ihr klar, dass sie den Posten der Beobachterin verlassen muss. Die Menschen auf dem Gehweg scheinen das stetige Fliesen des Lebens darzustellen und sie sitzt abgeschirmt von der Außenwelt hinter einer Fensterscheibe. Sie schaut den anderen beim Leben zu, ohne dabei selbst zu leben.
Die Karotte fällt ihr aus der Hand, landet neben ihr auf der Fensterbank und fällt dann zu Boden. Sie ist gefallen und auf einem merkwürdigen Boden der Tatsachen angekommen.
„Mama?"
Die Frau mit den goldenen Ohrringen reagiert sofort. Sie stößt einen erstaunten Schrei aus und packt das Mädchen ungläubig an den Schultern. Nach all den Jahren hat Annie am 9. April 2020 abgefangen zu sprechen. An diesem Tag sollte das Leben der Annie Jung beginnen.
Sie existiert.
[a/n]
wir existieren durch unsere Gedanken, aber auch die Handlungen dürfen wir nicht vergessen.
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