Warten | 74
Die Zeit ist so schnell verflogen, dass ich mich nicht einmal richtig daran erinnere, was zuletzt passiert ist. Das könnte aber auch an der erdrückenden Stille liegen, die momentan um mich herrscht und die mich dazu bringt, alles andere zu verdrängen, da jeder einzelne von uns unsagbar angespannt ist. Außer Silver, der noch nichts von seinem Glück ahnt.
Leise seufzend verändere ich meine Position. Inzwischen habe ich das Gefühl, ich würde mehr Zeit in Flughafenwartebereichen und den Flugzeugen selbst verbringen, als im Unterricht. Und für jemanden mit meinen mathematischen Fähigkeiten und Kenntnissen könnte das vielleicht sogar hinkommen.
Ich checke jetzt zum siebten Mal innerhalb von etwa drei Minuten die Uhrzeit, als würde es etwas bringen, die Minuten anzustarren, damit sie schneller vergehen. Spoiler: Es bringt nichts. Auch der Rest des Teams scheint nicht sonderlich begeistert von unserer aktuellen Situation zu sein. Violet ist an Connors Schulter eingeschlafen, auch wenn Peyton auf ihrer anderen Seite sitzt und jetzt ein wenig grimmig dreinschaut. Aber ich glaube, das ist sein Standardgesichtsausdruck, also muss ich mir keine Sorgen um Connor machen.
Ich sitze neben Connor, mit welchem ich hin und wieder für die anderen undefinierbare Blicke austausche, wofür uns Daleyza, die auf meiner anderen Seite sitzt, hin und wieder interessiert und teilweise auch verwirrt anschaut. Ansonsten starrt sie die meiste Zeit auf ihr Telefon und tut so, als würden weder ich oder Silver - der auf ihrer anderen Seite sitzt - noch einer der anderen existieren.
Irgendwann nach einer halben Ewigkeit wacht Violet ruckartig auf und obwohl man erwarten könnte, sie sähe vollkommen zerzaust aus - so wie das bei mir definitiv der Fall gewesen wäre -, zeichnet sich nur eine sanfte, kaum sichtbare Röte auf ihrer dunklen Haut ab, die das einzige Anzeichen darauf ist, dass sie gerade gut eine Stunde geschlafen hat.
Warum sie die Möglichkeit dazu hatte, ohne den Flug zu verpassen: Wir hätten uns einfach direkt ein Privatflugzeug nehmen sollen. Denn es gab unvorhersehbare Wetterbedingungen bei dem Vorgängerflug und da der Flug, den wir nehmen wollten, nur ein Anschlussflug von einem ist, der von Florida aus gestartet ist, mussten wir darauf warten, dass das Flugzeug in Florida abheben kann. Und da das vor sechs Stunden geschehen ist, haben wir noch ein bisschen Zeit, bis die Leute aus dem bereits gelandeten Flug ausgecheckt haben und wir zusteigen können.
Aus diesem Grund steht Violet wohl auch, ohne etwas zu sagen, auf, kramt ihre Geldbörse aus der Umhängetasche und drückt letztere Connor in die Hand. Dann läuft sie zu einem Coffee-Shop und kommt nach ein paar Minuten mit zwei Kaffee wieder. Einen davon drückt sie Peyton in die Hand, den anderen nimmt sie selbst.
Ich tausche einen weiteren Blick mit Connor aus, aber als ich zu dem Laden nicke, aus dem Violet ihre flüssige Lebensenergie hat, schüttelt er nur leicht lächelnd den Kopf. Deswegen drehe ich mich kurzerhand mit dem Gesicht zu Silver und Daleyza - letztere schaut immer noch auf ihr Handy und hat wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen, dass Violet aufgestanden ist - und mache das Gleiche, wie bei Connor. Silver überlegt gar nicht lange und steht auf, während Daleyza erst einmal lesen muss, was auf dem Schild über dem Laden steht. Dann schüttelt sie den Kopf und ihr Blick wandert wieder auf ihr Smartphone.
Also gehen Silver und ich zusammen zu dem Laden, besorgen uns zu diesen frühen Morgenstunden einen Kaffee und somit die Möglichkeit der Produktivität und wollen gerade wieder zurück zu den anderen, als mir einfällt, wie dämlich es wäre, Silver einen Kaffee trinken zu lassen. Am Ende ist er topfit und ausgeruht, wenn wir ankommen und will direkt mit unserem Auftrag loslegen, das könnte ich nicht verantworten.
Da er mich fragen würde, was das denn soll, wenn ich ihn entweder schubsen oder darum bitten würde, den Kaffee wegzuschmeißen, schaue ich Hilfe suchend zu Violet. Sie reagiert nicht, aber Connor, der meinen Blick bemerkt, analysiert und verstanden hat - mein verdammter Retter in der Not -, stupst Violet an und zeigt dann unauffällig auf mich und Silver. Sie scheint zu verstehen und kaum eine Sekunde später ist Silvers Kaffee auf einer leeren Fläche am Boden etwa zwei Meter von uns entfernt verteilt.
Er ist so geschockt, dass er einfach auf der Stelle stehen bleibt, auch als jemand kommt, um die Pfütze wegzuwischen. Erst als ich ihn am Arm zurück zu den anderen ziehe - nicht bevor ich mich bei der Putzkraft für Silvers Ungeschicktheit entschuldigt und mich bedankt habe, dass sie ihren Job so super erledigt -, scheint er mit seinen Gedanken überhaupt wieder in der Nähe unserer Mesosphäre zu kommen, da er davor irgendwo im Fernab vielleicht existiert hat, aber keineswegs wirklich anwesend war.
„Was war das denn?", fragt Peyton, der nicht ganz mitbekommen hat, was soeben passiert ist. Silver zuckt anstelle einer Antwort jedoch einfach nur mit den Schultern und setzt sich ein wenig weggetreten zurück auf seinen Platz. Zum Glück ist er so abwesend, dass er gar nicht auf die Idee kommt, sich einen neuen Kaffee zu holen.
Als Peyton und Daleyza schon wieder mit sich selbst beschäftigt sind, grinse ich zu Connor und Violet, die zurückgrinsen, während Violet sogar mit mir einschlägt. Silver schneidet das gar nicht mehr mit, der scheint vollkommen mit sich beschäftigt zu sein. Unser Babysitter hat es eben nicht leicht, aber das stand bestimmt auch nicht in seiner Jobbeschreibung. Wahrscheinlich würde er lieber mit Nicolas irgendwelche Akten durchgehen, als hier auf unsere verrückte Bande aufzupassen - aber trotzdem hat Nicolas ihn mit uns mitgeschickt.
Wahrscheinlich - hoffentlich - hat Nicolas auch keine Ahnung von dem, was wir geplant haben. Wenn er es wüsste, hätte er uns mit Sicherheit nicht nach Albany geschickt - nur einen Katzensprung von meinem Vater entfernt. Aber vielleicht weiß er auch, dass Connor irgendwie - weiß er Geier wie - an die Adresse meines Vaters gekommen ist und lässt mich als Wiedergutmachung zu ihm fahren. Berechtigt wäre das zumindest, schließlich hat er mir verheimlicht, dass mein Vater überhaupt noch existiert.
Ich trinke in dem Moment den letzten Schluck Kaffee, als wir zum Boarding aufgerufen werden. Daleyza reagiert nicht einmal und ein weiteres Mal in den nun gut vier Stunden, die ich schon neben ihr sitze, frage ich mich, was denn so Wichtiges auf ihrem Smartphone steht, dass sie die ganze Zeit auf den kleinen Bildschirm starren muss.
Ganz im Gegensatz zu Daleyza springt Silver auf, als würde er gleich um sein Leben rennen müssen und wirft uns, als wir ganz entspannt sitzen bleiben, vollkommen verstörte Blicke zu. „Wollt ihr nicht ... Ich meine, das Boarding ..." Er scheint selbst nicht ganz genau zu wissen, was er sagen soll, weswegen Violet scheinbar vergnügt über seine Suche nach Worten nur den Kopf schüttelt.
„Wir haben doch noch Zeit", erklärt Connor zusätzlich und Peyton und ich nicken einfach nur. Leute, die direkt zum Boarding stürmen, als gäbe es etwas umsonst, interpretieren in das Mindesthaltbarkeitsdatum wahrscheinlich auch nicht mindestens haltbar bis, sondern eher tödlich ab.
Widerwillig setzt Silver sich also wieder hin und grummelt irgendetwas. Während einige Leute, die mit uns hier im Wartebereich gesessen und die Zeit totgeschlagen haben, schon zu den Schaltern gehen, kommt sogar dazu, dass Silver ihnen sehnsüchtig hinterher starrt. Darüber muss ich ein wenig schmunzeln und fast automatisch wandert mein Blick zu Connor.
Dieser unterhält sich jedoch gerade mit Violet darüber, warum sie Kaffee trinkt und dass dieser ihm überhaupt nicht schmeckt. Einen Moment lang bin ich empört, doch dann fällt mir wieder ein, dass nicht jeder Mensch denselben Geschmack hätte. Ganz ehrlich? Wenn jemand anderes das gesagt hätte, wäre ich nicht so verständnisvoll gewesen, aber es ist Connor. Was soll ich da denn machen? Außerdem erklärt das, wieso er Seamus noch nicht gegen Kaffee eingetauscht hat - er mag gar keinen Kaffee. Aber wenn ich an seiner Stelle die Wahl hätte, würde ich den Kaffee nehmen und ihn weiterverkaufen.
Während ich ihn so beobachte, fällt mir zum ungefähr tausendsten Mal auf, wie wunderschön er ist. Ich kann mich einfach nicht an ihm sattsehen und bin jedes einzelne Mal wieder überrascht, was für ein Wunderwerk der Natur er ist. Man kann ihn eigentlich gar nicht ansehen, ohne von ihm beeindruckt zu sein, zumindest ist das mir noch nie untergekommen.
Als Violet gerade Peyton zu Rate zieht - vielleicht um eine Strategie zu suchen, Connor Kaffee schmackhafter zu machen -, dreht mein Mitbewohner seinen Kopf endlich in meine Richtung. Das Lächeln, mit dem er mich dann ein wenig nachdenklich ansieht, ist das schönste, das ich je gesehen habe.
Ich korrigiere: Connor ist das Schönste, was ich je gesehen habe.
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Da bin ich wieder :D
Ganz kurz habe ich einfach überlegt, nicht weiter zu schreiben, hiernach. Weil das doch ganz schön wäre, so als Ende. Zumindest der letzte Satz und in Anbetracht dessen, was noch passiert. Und weil ich euch das alles gar nicht antun will - und mir ja sowieso nicht, mein armes Herz.
Aber ich schreibe trotzdem weiter, weil ich das Buch irgendwie schon beenden will. Auch wenn es mir in der Seele wehtun wird, vorläufig von allen Abschied zu nehmen. Aber wenigstens habe ich noch den zweiten Teil, solange ist es noch kein endgültiger Abschied. Selbst wenn es sich so anfühlt.
Menno.
Habt einen schönen Tag <3
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