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So langsam werde ich unruhig.
Da ich nicht einschätzen kann, wie viel Zeit vergangen ist, seit mein Vater das Zimmer wieder verlassen hat, ist es mir kaum möglich, zu sagen, wann Mitternacht ist. Aber irgendetwas muss uns - oder eher mir - vorher einfallen, denn ich habe ganz sicher nicht vor, Seven sterben zu lassen. Auch wenn ich ihn nicht kenne, werde ich ihn, wenn es denn sein muss, mit meinem Leben beschützen. Nach dem, was heute passiert ist, könnte ich einen weiteren Tod einfach nicht mehr mit meiner Psyche vereinbaren.
„Wirst du mich töten?", fragt Seven in die Stille hinein. Er sitzt auf meinem Schoß und beobachtet nachdenklich, wie die Sonne hinter den Jalousien immer weiter dem Abend und der späteren Nacht entgegen sinkt. „Du könntest. Ich würde nichts tun. Es würde einfach so geschehen."
„Ja, ich könnte dich tatsächlich töten. Aber dann müsste ich selbst auch sterben, um dich wieder zurückzuholen. Das würde uns bei unserer Flucht aufhalten", erkläre ich ihm, fast, als ginge ich davon aus, dass er genau über meine Fähigkeiten Bescheid weiß. Wahrscheinlich tue ich das aus unerklärlichen Gründen auch.
„Du willst von hier weg?" Seven sieht mich mit großen Augen an, einerseits, als wäre ich der größte Held und andererseits, als würde er mich deswegen für verrückt erklären wollen. „Das ist der Wahnsinn! Das schaffen wir nicht. Hier kommt keiner lebendig raus." Er schüttelt den Kopf, als könnte er nicht ganz glauben, wie dumm diese Idee doch ist.
„Ich werde es versuchen. Und wenn ich sterbe, dann versuche ich es nochmal und immer wieder. Irgendwann werde ich es schon schaffen." Auch wenn ich zumindest halbwegs zuversichtlich bin, dass ich es beim ersten Mal schaffen werde. Und es ist wichtig, dass ich das durchziehe. Ansonsten besteht die Gefahr, dass zwar mein Leben, aber - noch viel wichtiger - auch die Leben meiner drei Mitreisenden zu Ende gehen.
Aber hey, unsere Leben als Einsatz im Spiel um die Freiheit zu benutzen, ist wohl nur fair - zumal sie das einzige sind, das wir momentan haben.
„Sie wurden furchtlos gemacht, nicht vollkommen unverwundbar. Aber du bist wirklich mutig." Sevens kleiner Mund verzieht sich zu einem ernstgemeinten Lächeln, aber ich habe das Gefühl, dass er genau weiß, was für einen Gedankengang er gerade bei mir angeregt hat. Dieser Junge ist ein absolutes Genie.
Ich stehe, ohne etwas zu sagen, auf und trete auf die Fensterbank zu. Von dieser nehme ich mir das Messer und gehe zu der Tür, die wahrscheinlich ins Bad führt. Dort suche ich nach etwas, dass ich vielleicht noch gebrauchen könnte, aber ich finde rein gar nichts. Das liegt wohl hauptsächlich daran, dass ich erst einmal herausfinden musste, wie ich Licht in den kleinen Raum befördere. Im Endeffekt habe ich es geschafft, dass Licht im Spiegelschrank über dem Waschbecken anzuschalten, weswegen ich mich endlich im Raum umsehen kann.
Leider finde ich nichts, was ich gegen diesen One verwenden könnte. Aber Seven hat recht - die Experimente sind nicht unverwundbar, egal wie furchtlos sie auch sein mögen. Und ich habe ja immer noch das Messer, das ich gegen sie einsetzen kann, um mich und Seven zu verteidigen.
Wie sich letztendlich herausstellt, sollte ich für Seven einen Schrein aufstellen. Auch wenn ich ihn erst ein paar Stunden kenne, weiß ich, dass er mein absoluter Lieblings-Fünfjähriger ist. Und der schlauste, den ich kenne, so viel steht schon einmal fest. Als One nämlich die Tür aufreißt, vor der ich mit so viel Abstand stehe, dass sie mich nicht von den Beinen reißt, als wäre er ein verdammter Bulldozer, habe ich das Messer in der einen Hand und Seven an der anderen.
Da wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben, stoße ich mit dem Messer zu und lande einen ganz guten Treffer ins Knie. Nachdem ich mir sicher bin, dass das Experiment eine Weile am Boden liegen bleiben wird, ziehe ich Seven hinter mir her. Ich versuche, nicht zurückzuschauen, genauso wenig, wie ich verzweifelt an nichts denke. Wenn ich tatsächlich nachdenken würde, fände ich es komisch, wie einfach wir entkommen sind, dass hier kein Leben auszumachen ist oder wie dumm Cassiel eigentlich sein kann, mir ein Messer zu überlassen. Und dann kämen Schuldgefühle in mir auf, weil hinter dem Codenamen One ein kleines Kind steckt, das früher - oder auch vor kurzem - vielleicht noch aussah wie Seven und jetzt den Körper eines erwachsenen Athleten hat.
Seven und ich rennen unkoordiniert durch das Haus, bis wir an der Eingangstür ankommen. Als ich diese gerade öffnen will, fällt mir wieder ein, dass Peyton und Daleyza ja auch noch hier irgendwo sein müssen und statt mich und Seven in Sicherheit zu bringen, drehe ich mich einmal im Kreis und suche nach einem Weg, den ich gehen kann. Mir bleibt keine Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, weswegen ich einfach rechts an einer kleineren Treppe vorbeilaufe, Seven immer noch ein wenig hinter mir.
Seine Hand hält meine so fest, dass sie ganz weiß ist, aber ich bin froh über den Druck. Er zeigt mir, dass der kleine Junge noch da ist. Wenn ich auch ihn noch verliere, stelle ich mich freiwillig für Cassiels Experimente zur Verfügung.
Vielleicht wäre das gar keine so schlechte Idee. Ich kann ja sowieso nicht sterben und bevor ich mich ihm stelle, könnte ich dafür sorgen, dass die anderen drei entkommen. Und da alles so aussieht, als hätte Connor uns an meinen Vater verraten, wäre er in diesem Paket inklusive - was, egal wie verrückt das klingt, erstaunlich gute Aussichten sind.
Aber ich denke, dass er genau das will. Er will, dass ich auf seine Seite - warum befinde ich mich jetzt im Star Wars Universum? - komme und dass ich an mir experimentieren lasse. Seinetwegen ist Violet gestorben. Er hat seinen eigenen Sohn umbringen lassen. Dieser Mann hat keine Skrupel und er würde auch nicht zulassen, dass meine Mitreisenden entkommen. Dazu sind sie ihm dann wohl doch zu wertvoll.
Während ich sowohl pro als auch kontra abwäge, ob ich nicht doch hierbleiben soll - das Kontra überwiegt nach neuesten Argumentationsergebnissen ganz klar -, durchforste ich mit Seven zusammen das unterste Stockwerk des riesigen Hauses. Wahrscheinlich rennen auch Daleyza und Peyton herum, aber auf anderen Stockwerken.
Dann fällt mir ein, dass ich ja eigentlich ein Smartphone bei mir trage. Mit meiner freien Hand beweise ich mir selbst jedoch das Gegenteil, denn sämtliche meiner Taschen sind leer. Die haben mir tatsächlich mein Handy abgenommen; eine Frechheit, ehrlich. Aber wenn ich meines nicht habe, durften die anderen ihre sicher auch nicht behalten. Wenn sie sich dann auch noch getrennt haben, sehen die Karten schlecht aus, dass wir uns irgendwie finden.
Denke ich zumindest, denn als wir um die nächste Ecke biegen, stoße ich fast mit Daleyza zusammen. „Jasiah." Die Blondine fällt mir in die Arme und beachtet Seven nicht weiter. Ich muss sie jedoch von mir schieben und renne, Seven an der einen Hand und sie an der anderen, rücksichtslos weiter. Zwar freue ich mich auch, sie zu sehen, aber One kann immer noch jeden Moment wieder aufstehen - auch wenn im Oberschenkel, an dem ich ihn getroffen habe, eine wichtige Blutbahn verläuft, die ich mit etwas Glück durchtrennt oder wenigstens angeschnitten habe.
Wir kommen wieder bei der Eingangstür an und ich drehe meinen Kopf nach hinten. „Wo ist Peyton?", frage ich außer Atem. Daleyza antwortet nicht, sondern schüttelt nur leicht keuchend den Kopf, also weiß sie es wahrscheinlich nicht. Als wir aus dem Gebäude herauslaufen und so schnell wie möglich zum ersten Waldabschnitt hasten, keuche auch ich und ich bin so verdammt stolz auf Seven, dass er das durchhält. Wenn er jetzt schlapp gemacht hätte, könnte es uns das Leben kosten - und das würde wohl keiner von uns verantworten wollen.
Sobald wir uns außerhalb der Reichweite sämtlicher Scharfschützengewehre befinden, lasse ich Sevens Hand los und drücke ihn an Daleyzas Körper. Diese schaut mich nur verwirrt an, während der kleine Junge ängstlich zu mir aufschaut. Ich nehme mir die Zeit, mich vor ihn hinzuknien. „Seven, hör mir zu: Du kannst ihr vertrauen. Sie gehört zu mir. Geh mit ihr mit, lauft weg, zum Auto. Wartet ein paar Minuten und wenn ich dann nicht da bin, fahrt los. Fahrt nach Hause. Fahr nach Hause. Bring ihn in Sicherheit." Die letzten beiden Sätze sage ich eher zu Daleyza, die mich verständnislos ansieht.
„Du willst doch wohl nicht nochmal zurück?!", empört sie sich. Ich verstehe, was sie gerade durchmacht, aber ich muss jetzt daran festhalten, dass ich meinen Willen durchkriege. In diesem Moment ist es wichtiger als es das jemals in meinem Leben war.
„Ja." Eifrig nicke ich, damit sie versteht, wie ernst es mir ist. „Ich muss noch etwas erledigen." Mein Gesichtsausdruck muss gehetzt sein, genau, wie ich mich auch fühle. Körperlich bin ich zwar fit, aber im Geiste erlebe ich Violets Fall in Dauerschleife.
Daleyza stemmt ihre Hände in die Hüften und ihr Atem wird von Mal zu Mal ein wenig ruhiger. „Ihm ins Gesicht spucken?" Sie lächelt nicht, da sie weiß, dass ich das tatsächlich durchziehen könnte. Stattdessen sieht sie mich streng an wie eine besorgte Mutter.
„Nein. Aber so ähnlich." Ich lächele grimmig und gebe Daleyza und Seven je einen Kuss auf die Stirn. Wir könnten schon fast als Familie durchgehen, wenn wir nun nicht so komplizierte Verhältnisse zueinander hätten. Aber das sieht man von außen ja nicht. Für jeden anderen werden Seven und Daleyza ein kleiner Junge und seine ältere Schwester oder seine Mutter sein.
Nach dieser improvisierten Verabschiedung drehe ich mich um meine eigene Achse und sprinte zurück zum Haus.
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Vorletztes Kapitel vor dem Epilog. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll T.T
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