Sterben ist nicht lustig | 21
Ich befinde mich in einem U-Bahn-Schacht, dessen dunkle Wände im Schein der einzigen Beleuchtung weit und breit - weißes Licht werfende Leuchtstoffröhren an der Decke des Schachts - feucht glänzen. Meine Kleidung klebt verschwitzt an meinem Körper, als wäre ich gerade erst einen Halbmarathon gerannt und besteht erschreckenderweise lediglich aus zerrissenen Jeans, da es für ein Shirt wohl nicht mehr gereicht hat.
Geplagt von nicht verschwinden wollender Klaustrophobie - Wann bin ich denn das letzte Mal in einen Wagon eingequetscht worden oder in einem Schacht gewesen, in dem diese herumfahren? - will ich wegrennen, belehre mich aber eines Besseren. Wer weiß schon, was da in der Dunkelheit auf mich lauert?
Da wären zum einen gefräßige Züge, die lange hungern mussten oder zombieartige Schaffner, die irgendwann in den Fünfzigern hier verschüttet wurden und jetzt aus ihren Verstecken kommen, um mich zu holen. Außerdem, wer sagt mir, dass es hier keine U-Bahn-Passagiere gibt, die einen U-Bahnhof für den besten Ort für Suizid gehalten haben und die mir jetzt daran die Schuld geben, weil ich nun mal zur falschen Zeit am falschen Ort war? Nun eigentlich war ich es nicht, sondern bin es noch immer. Ich habe schließlich keine Ahnung von dem unterirdischen Netz von ... ja, wo bin ich hier überhaupt?
Als ich das kreischende Geräusch von Metall auf Metall höre, zucke ich zusammen und sehe nach unten. Irgendwer kam auf die wirklich kluge Idee, meine Füße an die Schienen zu fesseln. Gut, dass ich mich dagegen entschieden habe, mich fortzubewegen, weil ich sonst ja gestolpert wäre. Das hätte sicher einen blauen Fleck gegeben. Wobei ein blauer Fleck in der aktuellen Situation wahrscheinlich mein geringstes Problem wäre.
Bevor ich anfange, Panik zu schieben, gebe ich mich mit dem Gedanken zufrieden, dass wenigstens meine Hände nicht gefesselt sind.
Apropos Hände, irgendetwas Klebriges scheint an ihnen herunterzulaufen, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wissen will, was es ist. Wahrscheinlich Dämonensekret oder etwas in der Art. Das würde die Situation wenigstens mit einem roten Edding unterstreichen - als wäre das noch nötig.
Um herauszufinden, was meine Hände so klebrig macht - auch wenn ich das eigentlich nicht möchte -, öffne ich die Fäuste, die meine Hände zuvor gebildet haben und kann mir nicht verkneifen, den angehaltenen Atem auszustoßen. Kein Dämonensekret. Das ist doch mal eine frohe Botschaft, die man auf Weihnachtskarten schreiben kann, oder? Es war kein Dämonensekret an meinen Händen. Ob ich das hätte nutzen können, um die Fesseln wegzuätzen? Nicht die Botschaft, sondern das Sekret, meine ich. Wahrscheinlich nicht, denn bevor es sich durch massives Metall geätzt hätte, wären meine Hände und wahrscheinlich auch mein gesamter restlicher Körper von dem Sekret dematerialisiert worden. Also ist das ein weiterer dummer Gedanke, den ich in die Gefilde meines Gehirns verbannen kann.
Dafür befindet sich aber etwas ähnlich Ekelerregendes an meinen Händen: Blut. Unauffällig sehe ich an mir herab; blutende Wunden habe ich keine, also ist das Blut wahrscheinlich nicht von mir. Aber von wem sollte es sonst ...
„Jasiah", höre ich jemanden erstickt flüstern. Wieder blicke ich auf, drehe mich um - was entgegen meiner Erwartungen aufgrund der Fußfesseln gar nicht so einfach ist - und entdecke Connor, wie er sich die Brust hält. Ich sehe erneut auf meine Hände, dann auf die tiefe Wunde auf der Höhe seines Herzens.
Okay, überhaupt nicht gruselig oder so.
Connor stolpert auf mich zu, während ich versuche, die Fesseln von meinen Füßen zu befreien. Wieso fesselt man jemanden an Bahnschienen? Also jetzt ganz ehrlich, meinetwegen kann, wer auch immer auf diese bescheuerte Idee kam, mich gerne foltern oder so. Aber es ist echt nicht zu tolerieren, dass man mich einfach an tonnenschweres Metall kettet und meinen Mitbewohner mit einer fies aussehenden Fleischwunde vor meine Nase platziert.
Dieser fällt, aber ich fange ihn etwas ungeschickt auf, bevor er Bekanntschaft mit dem Boden macht. Es ist vielleicht nett, ihn kennenzulernen, aber ich weiß nicht, ob Connor gewillt ist, auch dem Personal des nächstbesten Krankenhauses vorgestellt zu werden. „Was ist mit dir passiert?", flüstere ich in die Dunkelheit hinein, aber von Connor kriege ich nur ein leises Wimmern. Der wird mir wohl keine Antwort geben.
Ich streiche beruhigend über seinen Rücken, während er nur weiter leise vor sich hin schluchzen kann. Ob es ihm wehgetan hat?
Dumme Frage. Natürlich hat es ihm wehgetan, schließlich habe ich ihm - wortwörtlich - das Herz aus der Brust gerissen. Wie kam ich überhaupt auf so eine bescheuerte Idee? In der Hölle werde ich einen Platz direkt neben demjenigen haben, der es als guten Vorschlag abgestempelt hat, mich an verdammte Bahnschienen zu fesseln. Darüber komme ich ganz sicher nicht hinweg, das kann man aber auch nicht von mir erwarten.
Aber ein weinender Connor, dessen Brust ein zerklüftetes Etwas darstellt, scheint noch nicht zu reichen, denn zu allem Übel, höre ich ein unverkennbares Geräusch: das Dröhnen eines einfahrenden Zuges.
Wirklich nahezu perfektes Timing, vielen Dank. Ernsthaft, pünktlicher kann ein Zug auch nicht kommen, oder? Nun, ich weiß nicht, ob der Zug pünktlich ist, aber genau jetzt passt es ziemlich gut.
Connor richtet sich irritiert ein wenig auf und hustet dann Blut. Wo er das wohl hernimmt, wo doch schon eine Menge davon aus seinem Brustkorb austritt, während so ziemlich der gesamte Rest des in seinem Körper je existent gewesenen Blutes an meinen Händen klebt? Vielleicht hat er ja immer seine Blutreserven bei sich - und ist doch ein Vampir, wie ich es schon die ganze Zeit vermute.
Über diese Theorie kann ich nicht weiter nachdenken. Aufwachen wäre jetzt ganz schön! Aber dieser kranke Typ, der sich das hier ausgedacht hat, lacht mich gerade bestimmt aus. Ha, so ein Idiot! Ja, das ist es, genau das, was ich von mir denke.
Vielleicht ist ja sogar der Zugführer, den ich nicht sehen kann - vielleicht, weil er nicht da ist -, der Typ, dem ich die Pest an den Hals wünsche. Ich weiß es nicht, sonst könnte ich ja bei dem Schwall an Flüchen einen Namen erwähnen. Mein Schutzengel - oder wer auch immer, wahrscheinlich irgendein Rächer - muss schließlich wissen, wer mir diese Folter angetan hat.
Ich hatte recht. Aber ich lasse mich noch ein wenig länger schmoren. Zumindest so lange, bis die Räder des Zuges so nah dran sind, dass sie mir sämtliche Knochen brechen könnten. So lange, bis das untere Ende des Zuges meinen unbedeckten Oberkörper von meinen Beinen reißen könnte.
Warum ich vergesse, dass man sich in solchen Situationen normalerweise - auch wenn es keine normale Situation ist, in die man alltäglich gerät - auf den Boden schmeißen würde, um zumindest eine geringe Überlebenschance zu haben, ist ganz logisch: Ich muss zuerst Connor auf den Boden schubsen. Obwohl ich von ihm weiß, dass er sowieso sterben wird. So wie jeder sonst auch.
Vielleicht tue ich es auch nicht, weil ich immer noch erwarte, endlich aufzuwachen. In der Realität anzukommen, am besten schweißgebadet und keuchend. Nicht wegen eines Sex-, sondern aufgrund eines Albtraums.
Aber es passiert nichts. Ich schlage zwar immer und immer wieder die Augen auf, doch ich befinde mich nicht plötzlich wieder im Studenten-Wohnheim. Connors schmerzhafter Ausruf, als er auf dem Boden aufprallt, tönt in meinen Ohren, obwohl das Krachen der U-Bahn viel lauter sein müsste. Und dann spüre ich, wie das schwere Metall meinen Körper zerreißt.
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Ich frage mich, ob man in Träumen sterben kann. Denn wenn ja würde das erklären, warum Leute an einem Abend ins Bett gehen und am nächsten Morgen tot sind. Es würde sehr viel erklären, zum Beispiel, warum ich noch nach meinem Tod nicht die Augen aufmachen kann.
Natürlich ist mir klar, dass ich tot bin. Aber ich gehe immer noch ganz stur davon aus, dass ich eigentlich nicht tot bin. Ob das einen Sinn ergibt, ist eigentlich einerlei.
Bestimmt erleide ich gerade einen Herzinfarkt. Oder irgendein Geist aus dem Jenseits hat nach meiner Seele gerufen, um sie aufzufressen. Möglicherweise bewahrheitet sich zumindest etwas von der Dämonensekret-Theorie.
Aber eigentlich habe ich auch gar keine Lust, meine Augen aufzumachen. Was, wenn ich im Unterricht mit dem Kobold eingeschlafen bin? Dieser Standpauke würde ich wirklich gern entgehen, vielen Dank auch.
Und wenn ich ehrlich bin: Die Möglichkeit, dass all das gar nicht existiert hat - die Uni, der Kobold, Daleyza, aber vor allem Connor -, macht mir Angst. Wer versichert mir denn, dass das kein Komatraum war? Dass ich eigentlich gerade dabei bin, zu verrecken, weil ich ein Alkoholkranker bin? Niemand, ganz richtig. Möglicherweise ist das schon Grund genug, die Augen nicht zu öffnen. Weil sterben meiner Meinung nach ein bisschen lästig ist, wie eine Fliege. Menschen müssen zwar sterben, aber ist es nicht irgendwie langweilig und vorhersehbar? Ach nein, wie war das gleich? Nichts ist gewisser als der Tod, nichts ist ungewisser als seine Stunde. Keine Ahnung aus welchem präsynaptischen Spalt ich das gerade gefischt habe und wer die Ehre hatte, von mir zitiert zu werden - wer kommt auf die Idee, es sei andersherum? -, aber das ist ja auch eigentlich nicht wichtig, oder?
Ich habe Lust auf Kuchen. Sowieso bin ich sehr hungrig. Was soll das? Wer will schon hungrig sterben? Das macht doch gar keinen Spaß! Damit will ich nicht behaupten, dass sterben Spaß macht. Kinder, passt auf euch auf. Von einer U-Bahn zerrissen zu werden ist lange nicht so lustig, wie der Scherz auf einer Unternehmensfeier es darlegt. Auch, wenn ich dafür ewig der Witz sein werde. Also: Nicht sterben. Ist nicht so cool, wie es sich anhört, weil ihr nicht Jesus seid. Zumindest nicht zwingend. Probiert es einfach nicht aus.
Ich bin einfach ein alter Großvater, der das am Sterbebett erzählt. Nicht mein Sterbebett, das wäre doch langweilig. Als wenn ich meine kostbare Zeit mit irgendwelchen dahingeschwafelten Geschichten verschwenden würde!
Nun, der Hunger auf Kuchen vergeht nicht. Welche Uhrzeit es in der Realität ist, ist mir herzlich egal, ich werde auf meinen Kuchen bestehen, wenn ich aufwache. Oder eher: Falls ich aufwache. Denn gerade als ich ein weiteres Mal versuche, meine Augen zu öffnen, drifte ich in genau die Dunkelheit ab, die viele Menschen mit dem Tod assoziieren.
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Nun, wie erkläre ich das am besten? Wahrscheinlich gar nicht ^^' Also es ist so: Die 21 ist meine Lieblingszahl. Und irgendwie kann ich es gar nicht glauben, dass das jetzt schon das einundzwanzigste (ohne den Prolog, okay?) Kapitel ist.
R.I.P. Jasiah. Tut mir leid, Mann. Ach so: R.I.P. Connor, war echt ein blöder Tod. Hat Jasiah bestimmt nicht so gemeint.
Endeeee
Ne, Spaß. Ganz ruhig, geht noch weiter, aber ohne die beiden :D
Gut, jetzt zu den Fragen (Mann bin ich gut in diesen Überleitungen): REALITÄT oder LÜGE? Was sagt ihr? Wenn es eine Lüge (beziehungsweise ein Traum) ist, was hat diese zu bedeuten? Wenn es die Realität ist: Kommt Connor zurück? Überlebt Jasiah das, was passiert ist?
Aber am aller wichtigsten: Kriegt er seinen Kuchen?
Einen schönen Tag <3
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