Gefahr? | 76
So schnell bin ich noch nie gefahren. Warum ich überhaupt als Fahrer auserwählt wurde, weiß ich nicht, aber ich fühle mich so allein, dass ich gar nicht darauf achten kann, wie schnell der Zeiger des Tachos auf viel zu hohen Zahlen steht. Der Leihwagen gibt wirklich sein Bestes und die Straßen sind auch nicht schlecht, aber mit meinen zittrigen Händen ist es äußerst schwierig, das Auto auf der Fahrbahn zu halten.
Meinen Beifahrer interessiert es herzlich wenig, dass wir sämtliche Gesetze missachten. Er feuert mich sogar dazu an, noch mehr Gas zu geben, was ich ohne zu zögern auch tue. Das bin ich ihm wahrscheinlich schuldig und er hätte mit absoluter Sicherheit das Gleiche für mich getan. Das gibt mir zwar kein besseres Gefühl, aber wenigstens weiß ich, dass ich nicht der einzige Verrückte in diesem Fahrzeug bin. Wenn ich gewusst hätte, was heute noch passieren wird, hätte ich dieser Sache nicht zugestimmt. Ich hätte dafür gesorgt, dass wir den Auftrag erledigen und dann wieder sicher nach Hause fahren.
Aber um das erklären zu können, muss ich noch einmal zurückgehen. Und wo beginnt man bei so einer Darlegung besser, als am Anfang?
Kurz gesagt folgten nach Violets erster Nachricht noch weitere. Peyton lauerte jede Sekunde an seinem Smartphone, denn die anderthalb Stunden waren noch nicht ganz vorüber. Außerdem hoffte er natürlich auf ein Lebenszeichen Violets. Und die gewünschten Nachrichten kamen auch.
Violet klärte uns darüber auf, was mein Vater ihr erzählte und was sie sah. Wahrscheinlich wirkte es für ihn so, als würde sie sich Stichpunkte für einen Artikel machen, denn in genau dieser Form kamen auch ihre Nachrichten an. Und schon beim ersten Punkt musste ich meinen Würgereflex unterdrücken, während die anderen beiden Peyton davon abhielten, aufzuspringen und direkt loszufahren. Aber auch die die folgten, waren nicht gerade angenehm.
- Unsterblichkeitsexperimente an Kleinkindern
- angebliche Verbesserung der Gesellschaft
- Ziel: Unsterbliche Armee, größtenteils Auslöschung der normalen Menschen
- Genmanipulation
- Supermenschen
- viel Verlust (mindestens fünfmal so viele Tote, wie Lebendige)
Danach scheint er sie herumgeführt zu haben, denn ihre nächsten Nachrichten bezogen sich kaum noch auf seine Arbeit, sondern auf das Grundstück und das Haus. Wir mussten uns alle gegenseitig davon abhalten, zurückzuschreiben, denn sonst hätte mein Vater ja etwas merken können.
- großes Grundstück, viel ‚Auslauf'
- direkt am Wasser, Klippen
- großes Haus
- Spiegelräume, mehrere
- Schlafzimmer winzig, unpersönlich
Bei dem, was sie beschrieben hat, bleibt mir immer noch die Luft weg. Auch wenn es nur wenige Wörter waren, wirkten sie präzise und lösten eine klare Vorstellung in meinem Kopf aus. Und diese Vorstellung war keineswegs angenehm, sondern eher eine Art Hölle auf Erden. Eine sterile, unpersönliche Freiluft-Hölle mitten an der pazifischen Küste.
Aber es sollte ja noch nicht das Ende sein.
- Experimente laufen herum, gucken meistens grimmig
- viele Aussehen von Athleten, obwohl Kinder
- haben keine Angst
- düstere Stimmung, kaum Lachen
- viele Narben
- unnatürlich glitzernde Augen
- kleines Kind wird in Raum gebracht
Die letzte dieser Nachrichten hat wohl uns alle am meisten schockiert, aber es sollte ja immer noch schlimmer kommen. Und auch wenn das absolut brutal ist, bin ich froh, dass Violet alles, was sie sah, beschrieb. Es gab uns einen Draht zu ihr und auch das Warten auf die nächste Nachricht, machte uns von Mal zu Mal ein wenig mehr Hoffnung.
- trainieren, werden geschlagen
- laut, auch im Haus, obwohl nicht viele Menschen
- Mann wirkt nett, trotz schrecklicher Arbeit
- ist stolz auf Arbeit
Obwohl auch diese Nachrichten nicht schön zu lesen waren, sind sie nicht das Sahnehäubchen gewesen. Denn danach kam noch eine Nachricht, eine letzte, die uns dazu brachte, uns auf den Weg zu machen, wenn es die anderen nicht schon längst getan haben.
Hilfe
Dass Peyton mitkommt, war für ihn von Anfang an klar. Er hat uns auch gar keine andere Wahl gelassen. Im Nachhinein betrachtet, hätten wir Silver auch einfach dort liegen lassen können. Wären wir einfach zu viert gefahren, hätte es keinen Unterschied gemacht, ob er aufgewacht wäre, oder nicht. Schließlich hätte er nicht gewusst, wo er uns finden kann.
Aber daran dachten wir in diesem Moment nicht. Wir mussten innerhalb von Sekunden handeln, denn Violets Leben hing offensichtlich davon ab, wie wir uns entscheiden würden. Und ich wette, dass wir uns falsch entschieden haben und das sagte ich den anderen auch, aber sie wollten ja nicht auf mich hören.
Dass ich der Fahrer werden würde, war entschieden, als eine Hand, die ich in diesem Moment nicht zuordnen konnte, die Autoschlüssel in meine drückte. Und dann galt es, zwischen Daleyza und Connor zu wählen. Ich verstehe nicht, wieso wir Connor zurückgelassen haben und weiß auch nicht, wieso er das wollte. Er wollte derjenige sein, der bei Silver bleibt. Seine Aussage dazu war, dass seine Kraft in dieser Situation am wenigsten hilft und er nur eine Last für uns sein würde, wenn er schreiend durch die Gegend liefe, weil all die schrecklichen Erinnerungen in der Luft hängen würden.
Also blieb Connor, mein Anker, in dem Hotelzimmer und passte auf Silver auf, während Peyton, Daleyza und ich losfuhren. Und so sitzen wir jetzt hier, Peyton auf dem Beifahrersitz, Daleyza hinten. Von allen Seiten fluten mich die Reize und irgendwie schaffe ich es, für eine Strecke, die man normalerweise in anderthalb Stunden absolviert, nur die Hälfte der Zeit zu benötigen. Es ist, als würde ich schweben.
Connors Angabe, wie wir zu dem Grundstück kommen würden, die er schon als Violet losgefahren ist, ausgeführt hat, hilft mir, das Grundstück zu finden. Bei dem Eingang wird es um einiges schwieriger, denn die Mauer, die das Grundstück umspannt und an der wir somit vorbeifahren müssen, fühlt sich endlos lang an. Aber als ich endlich angekommen bin, stürmt Peyton schon aus dem noch fahrenden Auto und bricht ohne Rücksichtnahme das Tor auf.
„So sieht es aus, wenn ich Türen aufbreche", erklärt er Daleyza grob und weist uns hektisch an, dass wir ihm folgen sollen. Da ich aber nicht ganz so rücksichtslos wie Peyton momentan bin, verstecke ich die Autoschlüssel im hohen Gras, das um die Mauer wächst, sodass jeder losfahren kann, falls das nötig sein sollte. Die anderen beiden nicken mir für diese grandiose Idee zu und laufen dann los. Dass wir - Daleyza mit ihren kurzen Beinen und ich, der überhaupt nicht gerne läuft - hinter ihm herkommen, grenzt an ein Wunder, liegt aber nur daran, dass Peyton seine Schritte deutlich verlangsamt.
Wir hetzen einmal quer über das gut viertausend Quadratmeter große Grundstück und ich staune, dass wir niemandem begegnen. Also entweder ist den Menschen - oder was auch immer - hier bekannt, dass wir kommen werden und sie greifen uns gleich aus einem Hinterhalt an oder sie sind damit beschäftigt, Violet zu foltern. Vielleicht warten sie ja auch auf ihr Abendessen, das heute aus einer jungen Studentin besteht ...
Aber wenn ich so negativ an die ganze Sache herangehe, kann ja gar nichts Gutes passieren. Deswegen versuche ich, die Worst-Case-Szenarien aus meinem Kopf zu verbannen und mir stattdessen vorzustellen, dass Violet glücklich lächelnd irgendwo auf uns wartet und uns erklärt, dass alles nur ein Spaß von ihr war. Und dass mein Vater ein total toller Mann ist, mit dem man sich super versteht.
So langsam kommen wir bei unserer Suche dem Haus näher. Da innerhalb der Mauer ein Großteil unseres Sichtfeldes von Bäumen bedeckt war, dauerte es dort auch sehr viel länger, da Violet ja wirklich überall sein kann. Aber nachdem Peyton dieses Gebiet für sauber befunden hat, pirschen wir weiter vor. Ich fühle mich wie ein verdammter Soldat, denn auch hier geht es allem Anschein nach um Leben und Tod. Fehlen nur noch das Gewehr in meiner Hand, der Geruch von Schießpulver, Schweiß und Blut in der Luft und das Zischen der Schüsse.
Ich hätte jetzt so gerne Connor an meiner Seite, der mir sagt, dass alles gut wird. Aber irgendwie verlässt er mich immer dann, wenn ich ihn gerade am allermeisten brauche - wobei das in den meisten Fällen nicht seine Schuld ist. Trotzdem stört es mich sehr, dass er jetzt nicht hier ist. Er war schließlich auch derjenige, der mich hierzu überredet hat.
Als wir hinter den letzten Baumgruppen des Waldes hervorkommen - hier gibt es zwar eine Art Pfad, der zum Haus führt, aber dann hätten wir genauso gut klingeln können -, bemerke ich, dass es schon langsam Nachmittag geworden ist. Es gibt keinen ungünstigeren Zeitpunkt, diesen Gedanken zu haben und das weiß ich auch, aber der Zeitpunkt ist meinem Gehirn ja egal.
Die immer weniger werdenden Bäume geben die Sicht auf den Himmel und die Lichtung, an deren Rand das Haus steht frei. Zuerst sehe ich sie gar nicht, vielleicht will ich sie aber auch nicht sehen. Oder ich habe so lange nach ihr Ausschau gehalten, dass ich sie gar nicht erkenne. Dabei hat sie sich in den letzten paar Stunden nicht verändert. Sie steht direkt vor der Klippe, angespannt, erstarrt. Als sie uns bemerkt und Peyton auf sie zustürzt, wedelt sie mit den Armen und versucht wahrscheinlich, ihn aufzuhalten.
„Nein! Bleib da, bitte! Bitte, Peyton!", fleht sie, aber ich verstehe nicht, warum er das sollte - und warum sie stehen bleibt, statt auf uns zuzulaufen. Den roten Punkt, der auf ihrer Brust lauert, sehe ich erst, als es schon zu spät ist und Peyton sie in seine Arme schließt. Jetzt wandert der Punkt von seinem Rücken - der Stelle, an der sich Violets Herz ungefähr befunden hätte - zu seiner Wade. Ich schlucke, will ihn warnen oder irgendetwas tun, aber es funktioniert nicht. Meine Stimme versagt, genau wie meine Knie und als ein Schuss fällt, sacke ich zusammen.
Als ich aufsehe, kann ich nur noch erkennen, wie es Violet durch die Wucht des Schusses und durch Peytons Körpergewicht über die Klippe reißt.
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