Echte Freunde | 36
„Gut, wen haben wir jetzt, Peyton?", frage ich etwas erschöpft, als ich mich am Nachmittag desselben Tages neben Violet auf einer der Bänke vor der Bibliothek setze, wo wir uns in einer viertel Stunde mit Nicolas verabredet haben. Es fühlt sich sehr komisch an, heute nicht im Unterricht gewesen zu sein, aber ich bin sehr gleichgültig darüber gestimmt, was meine Mitstudenten oder die Professoren davon halten.
„Also unsere drei Hauptverdächtigen haben wir heute Morgen schon vom Schwimmteam bekommen: Owen, Jimmy und Melissa. Es könnten auch die beiden Letzteren zusammen gewesen sein, da beide nicht gerade gut in Chemie sind. Aber wer ist das schon? Nun, für Owen spricht, dass er gut mit Computern umgehen kann. Genaueres finden wir ja später bei unserem Gespräch mit seinen Freunden heraus. Alle anderen wurden ein-, höchstens zweimal erwähnt und das sind so viele, dass es sich nicht lohnen würde, alle vor Nicolas aufzuzählen. Wobei ein paar zum engeren Kreis zählen, die wir noch befragen könnten." Peytons Miene verschließt sich nach dieser verhältnismäßig langen Rede direkt wieder zu aalglatten Ebene der Gleichgültigkeit.
„Und wer würde zu diesem engeren Kreis gehören?", will Violet dann wissen und betrachtet nachdenklich ihre Fingernägel. „Irgendjemand, den man im Auge behalten müsste?" Peyton blickt Violet an und ich verstehe plötzlich, was hier läuft: Die beiden sind gar nicht zusammen, wie ich vermutet hätte. Natürlich hätte ich das schon früher bemerken müssen, denn die beiden sind zwar viel beieinander, berühren sich aber nicht und wenn, dann nur beiläufig, wie jemanden, den man auf der Straße trifft.
Diese Erkenntnis schockt mich einen kurzen Moment, dann werde ich wieder klar im Kopf. „Arye ... Shipton, Karla Morris Santiago und Cole Cummings", erklärt Peyton kurz angebunden und zuckt mit den Schultern, als würden ihn diese Namen überhaupt nicht interessieren. Ich werde dagegen schnell hellhörig.
„Warum zur Hölle sollte jemand Karla verdächtigen, Lösungen für Chemie-Klausuren zu stehlen? Sie hat sich zu ihrem achtzehnten Geburtstag den Namen ihrer Großmutter mit den verdammten chemischen Formeln tätowieren lassen!" Warum ich das weiß? Karla ist die erwähnte beste Freundin, mit der ich nicht schlafen würde, wenn ich nicht dazu gezwungen werden würde. Wobei sie wahrscheinlich die einzige Frau ist, mit der ich schlafen würde, auch wenn sie nicht hetero ist.
Aber die Geschichte mit ihrer Großmutter stimmt. Ich stand an deren Grab und hab Karla in den Arm genommen und ich habe ihre Hand gehalten, als sie sich das Tattoo hat stechen lassen. Ich muss es wissen. Außerdem hatten wir den gleichen Privatlehrer - oder zumindest zeitweise, da meiner aufgrund meines ... Bedürfnisses intellektuelle Förderung zu erhalten ziemlich oft gewechselt hat - und unsere Eltern sind seit Jahren sehr gut befreundet.
Zugegeben, es würde gut zu Karla passen, sich diese Sachen zu erstehlen, eben weil sie dann behaupten könnte, dass sie das nicht brauchen würde. Oder sie lässt mich meine Hand für sie ins Feuer legen, diese kleine Rebellin. Jedoch ist es alles in allem sehr unwahrscheinlich - dafür hat sie zu wenig Aufmerksamkeit erhalten.
„Ehrlich jetzt?", fragt Violet irritiert nach und fordert Peyton mit einer Handbewegung auf, das aufzuschreiben. Ich kann lesen, wie er Chemie-Nerd oder sowas schreibt und muss ein wenig grinsen. Wenn Karla das hätte lesen können, hätte sie Peyton jetzt verprügelt, denn auch wenn sie nicht so aussieht - mehr wie ein karamellfarbenes Püppchen -, hat sie es faustdick hinter den Löffeln und kann dazu noch gut mit ihrem Mund umgehen. Also ich weiß, dass die Worte, die sie damit ausspricht, immer sehr extravagant sind, was sie sonst noch damit macht, will ich ehrlich gesagt gar nicht wissen.
„Ja, ich war sogar dabei. Sie ist so ziemlich meine beste Freundin", erkläre ich dann schulterzuckend und ernte zwei hochgezogene Augenbrauen von Violet. Sie wirkt, als könnte sie nicht glauben, dass ich mit einer der Verdächtigen tatsächlich befreundet bin. Als wären diese Leute, die von anderen beschuldigt wurden, die unterste Schicht der Gesellschaft, abstoßend für Leute wie Violet.
„Um wen geht es, wenn ich fragen darf?" Nicolas tritt aus der Tür der Bibliothek und hält diese Gentlemanlike für eine Studentin auf. Er hat sich eine elegante Weste über das taubengraue Hemd gezogen, deren schwarze Farbe seine Augen auf eine seltsame Weise betont, während der Schnitt seinem doch relativ athletischen Körperbau schmeichelt. Genau das tut sein Akzent auch mit meinen Ohren - er ist so angenehm, dabei habe ich den britischen Akzent nie wirklich für voll genommen. Aber bei Nicolas höre ich ein Brummen, eine Art Melodie.
Vielleicht spüre ich ja schon wieder das Pulsieren, ich weiß es selbst nicht ganz genau.
„Um meine-", will ich beginnen, werde jedoch von einer Professorin unterbrochen, die auf uns zu gehechtet kommt, als könnte sie etwas verpassen, wenn sie sich nicht in Warp-Geschwindigkeit von einem Punkt zum anderen bewegt.
„Mister Cohen", keucht die etwas ältere Dame und stemmt ihre Hände hustend in die Hüften. „Nicolas", verbessert sie sich dann, als sie genug Luft geholt hat, um sich aufzurichten. Ich kann gerade sehr gut nachvollziehen, wie es ihr geht und genau das ist im Übrigen auch einer der vielen Gründe, warum ich keinen Sport treibe. Natürlich könnte ich jetzt noch mehr aufzählen, aber dazu habe ich keine Lust.
„Cynthia." Selbst der schrecklichste Name - nichts gegen alle Cynthias, aber gegen ihre Eltern - klingt mit Nicolas' Art zu sprechen wie ein Schloss auf Wolke sieben. „Was ist los?" Keine Besorgnis, sondern eher ehrliches Interesse spricht aus seinen grünen Augen, als er sie ansieht. Ich habe das Gefühl, sie würde gleich in Ohnmacht fallen.
„Das war dein Labor, oder? Hattest du da Prüfungsunterlagen drin? Sind sie inzwischen wieder aufgetaucht? Geht es dir gut, Nic-" Er nimmt ihre Hände in seine und blickt ihr einen Moment in die Augen, wahrscheinlich, um sie zu beruhigen. Es funktioniert, wahrscheinlich mit ein bisschen Anschwung der Manipulation.
Ohne ein weiteres Wort dreht die Professorin sich um und verschwindet. „... beste Freundin", führe ich meinen angefangenen Satz fort. „Karla Morris Santiago." Nicolas schaut mich an, als hätte ich einen Dachschaden, ihm das zu erzählen. Als würde er das schon längst wissen, als würde er alles über mich wissen. Diese Tatsache macht mir jedoch keine Angst. Sie verwirrt mich nur.
„Erzählt mir doch bitte, was ihr herausgefunden habt." Obwohl Nicolas nie wirklich lächelt, klingt sein Tonfall immer höflich. Dem wäre wahrscheinlich auch so, wenn er einen Schwall an Flüchen ausstoßen und Gott verurteilen würde, ihm diesen Sprachstil auferlegt zu haben.
Peyton zählt ein weiteres Mal alle Namen auf und erwähnt ebenfalls, dass es einige Verdächtige gibt, die unserer Meinung nach nicht auf die Liste gehören. Die ganze Zeit über, in der Peyton erzählt, gibt Nicolas nachdenkliche Geräusche von sich und nickt immer mal wieder. Einerseits bekräftigt mich das, andererseits macht es mir aber auch ein bisschen Angst.
„Jasiah, du sagtest, du würdest eine der Verdächtigen kennen? Ich habe mir sowieso überlegt, ob wir nicht mit den Leuten reden sollten. Wie ihr schon sagtet, habt ihr ja auch ein Gespräch mit Mister Devers Freunden, also könntet ihr ja auch gleich mit ihm reden. Was würdet ihr davon halten?" Nicolas sieht uns alle einmal an, ein neutraler Blick, der nicht viel davon preisgibt, was im Kopf dieses Mannes gerade vorgeht. Seine grünen Augen bleiben an mir hängen.
Wir nicken allesamt und auch Nicolas bewegt seinen Kopf mehrmals von oben nach unten, wahrscheinlich um gut, dann ist das ja abgemacht zu symbolisieren. „Aber ich würde gerne mit Karla allein reden. Ihr könnt in der Zeit ja mit Owen und seinen Freunden sprechen und hören, was sie so alles zu sagen haben." Mit meinem ersten Satz wende ich mich eher an Nicolas, mit dem zweiten an die anderen beiden.
„Natürlich. Das ist sogar eine sehr gute Idee, wie ich finde. Gehst du direkt hin? Wann ist das Gespräch mit Owens Freunden?" Nicolas wirkt plötzlich aufgeregt, seine Augen glitzern in der Sonne, wie der Tau, der am Morgen von den Halmen der Gräser getropft ist oder das Wasser in der Schwimmhalle, als die Sonne aufging. Irgendwie macht es mich sehr glücklich, Nicolas so in seinem Element zu sehen - wenn man einen ernsten Typen wie ihn zum Strahlen bringt, kann man sich schon auf die Schultern klopfen.
„Ja, ich würde direkt gehen", erwidere ich auf seine Frage, nur einen Augenblick bevor Violet „In ungefähr fünfzehn Minuten" antwortet. Peyton nickt zustimmend, während Nicolas mich mit einer Handbewegung dazu auffordert, jetzt zu gehen. Leicht grinsend stehe ich auf und sehe Violet einen Moment lang in die Augen.
„Wenn sie den Kerl verprügelt, Peyton, dann ruf' mich an. Das will ich ganz gewiss nicht verpassen." Spielerisch haut sie mir gegen meinen Oberschenkel - weil ich stehe kommt sie nicht höher ohne empfindliche Regionen zu treffen oder meine Privatsphäre zu gefährden -, muss aber selbst lachen.
Ich drehe mich einmal im Kreis, auf der Suche nach einer Treppe vom oberen zum unteren Hof. Als ich eine entdecke, steuere ich direkt darauf zu und hole, als ich dann endlich unten angekommen bin, mein Smartphone raus, auf dem ich den Chat mit Karla öffne. Vor fünf Tagen haben wir uns gegenseitig unsere Zimmernummern geschrieben, damit wir uns gegenseitig nerven können, aber seitdem ist in der Beziehung nicht viel passiert.
Noch während ich mich selbst koordiniere, um für mich herauszufinden, wo ich hin muss, kommt mir der Gedanke, dass sie gar nicht da sein könnte. Aber diesen verwerfe ich ganz schnell wieder und mache mich stattdessen auf den Weg zu ihrem Wohnheim. Dieses ist auf der entgegengesetzten Seite meines eigenen, aber da ich eine Treppe so ziemlich in der Mitte von meinem und ihrem genommen habe, ist der Weg nicht super lang. Oder zumindest nicht so lang, dass ich mich darüber beschweren würde.
Worüber ich mich jedoch beschweren werde, ist die Tatsache, dass seit gestern der Fahrstuhl in ihrem Wohnheim kaputt ist - wenn es einen Tag länger her wäre, hätte man ihn schon reparieren lassen - und sie im verdammten zweiten Stock ansässig ist. Das bedeutet für mich: Noch mehr Treppen steigen. Freude.
Ich bleibe schwer atmend, ähnlich wie die liebe Cynthia vorhin, vor Karlas Tür stehen und kann mich erst nach ein paar Sekunden dazu bewegen, zu klopfen. Und in der Sekunde, als meine Knöchel die verstärkte Holzplatte der Tür berühren, bete ich fast dafür, dass Karla da ist.
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Und da ist das dritte Kapitel :D
Bald lernen wir Jasiahs beste Freundin kennen (Party!) *-* Irgendwie bin ich aufgeregt, obwohl ich schon weiß, wie dieses Gespräch verlaufen wird ^^'
Na ja, wir lesen uns bald wieder :D
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